Man mag sich die Anfänge der Menschheit als Zeit des Unwissens vorstellen, in der man vieles noch nicht einmal ahnen konnte, was heute wie selbstverständlich als Standardwissen zur Verfügung steht. Auch hatte man noch nicht die Möglichkeiten, sich Wissen in nennenswertem Umfang neu anzueignen. Davon lässt sich ableiten, dass eine Zeit des Unwissens gleichzeitig eine Zeit des Fühlens, der Intuition und des Glaubens ist.
Denn was man nicht weiß, das nimmt man an, man glaubt an die eigene Mutmaßung und Vorstellung. Aber nicht nur im Glauben geht es um eine Welt, die nicht fakten- oder wissensbasiert ist, auch für Künstler:innen ist die eigene Vorstellungswelt das Maßgebliche. Gibt es weitere Parallelen?
Empfinden in der eigenen Welt
So wie der Glaube eine Angelegenheit des Einfühlens in die eigene Vorstellungswelt ist, so funktioniert auch die Kunst als Gefühls- und Empfindungs-Welt. Die wenigsten Künstler machen ihre Kunst zu einer Angelegenheit des rationalen Denkens (und wenn doch, mag das dieser Kunst nicht immer zugute kommen). Etwa, anstatt den Goldenen Schnitt als die Proportion eines zu malenden Bildes zu berechnen, empfinden sie die ideale Proportion intuitiv, weil sie schön finden, was sich dann als mathematisch ideal herausstellt.
Synthese von Gefühl und Wissen
Fühlen und wissen sind zwei Welten, die sich allerdings auch durchdringen können. Jenseits eines wissensbasierten, rationalen Lebens sich nach Empfindungen zu richten, kumuliert in Glaube und Kunst und bildet eine Schnittmenge zwischen beiden – auch der Umstand, dass man weder dem Glaubenden noch dem künstlerisch Kreierenden in seinem Wirken rational beikommen kann. Entweder findet man einen gefühlsmäßigen Zugang zur Kunst – oder es wird schwer.
Wissensgesellschaft und Glaubensgemeinschaft
Der Mensch hat inzwischen seine Anfänge, in denen er mehr glauben musste, weil er wenig wissen konnte, überwunden. Heute leben wir im Westen in reichen Wissens-Gesellschaften, in denen der institutionelle Glaube in Form von Religion an Stellenwert verloren hat, weil wissenschaftliche Erkenntnisse und das Wissen über das Leben und die Welt eine andere Art von Orientierung vermitteln. Hier scheinen Wohlstand und Wissen die Irrationalität des Glaubens ersetzt zu haben. Dass dies nicht der Realität entspricht und weite Teile des modernen Lebens durch alternative Glaubenssysteme – ob politisch, social-media-mäßig kommunikativ, konsumorientiert oder in einer Glaubens-Anhängerschaft an diverse Lehren – bestimmt sind, erscheint als Treppenwitz der Geschichte. Zumal ein Land mit Leitbildfunktion wie Amerika sich in Teilen von seiner Wissensbasierung verabschiedet hat und immer religiöser und gefühlsbestimmter erscheint. Wohl in keinem westlichen Land hat die Relevanz des Glaubens so zugenommen wie in den USA.
Freiheit und Einschränkung
Faktenbasierung kann man als soziale Vereinbarung ansehen, als Ergebnis eines vielschichtigen gesellschaftlich vereinbarten Überprüfungs-Systems. Hingegen kann etwa ein politischer Glaube in einen Ersatz für lebensrelevantes Wissen münden und bis hin zur Verschwörungs-Mythologie reichen, die ihrerseits ein Glaubenssystem ist. Es wird als Tarn- und Zweitidentität sowie als Ersatz-Realität der gesellschaftlich Deklassierten und von selbstbilddeformierten Rechthabern geformt. Oft als kontrapunktische Gegenbewegung zum Status Quo. Da Fakten in ihrer Unverrückbarkeit den Handlungsspielraum eher einengen, bietet der Glaube an Irgendetwas, das nicht bewiesen sondern nur behauptet werden muss, eine grenzenlose Freiheit. Dies stellt in anderer Weise wieder eine Schnittmenge zur Kunst dar, in der man alles tun, alles fühlen und alles denken kann. Eine grenzenlose inhaltlich-ästhetische Freiheit.
Das Rationale und das Nicht-Fassbare
Der Glaube inform von Pseudowissen oder Wissensersatz würde aber sein Ziel verfehlen, weil etwa lebensrelevante Fakten nicht geglaubt sondern nur gewusst werden sollten. Wissen oder Pseudowissen sind auch ein Macht- und Deutungshoheits-Instrument. Indem eine Gesellschaft den Weg vom Nicht-Wissen bzw. Glauben hin zur Wissensgesellschaft geht oder gegangen ist, ersetzt sie Emotionalität durch Rationalität. Sie versachlicht Lebensorganisation und Lebensumstände. Mit der alltagsdurchdringenden Digitalisierung hat dies als weitere Stufe der Rationalität nach sich gezogen. Dies ist einseitig und verleugnet, dass Wesentliches sich der Rationalität entzieht. Der gesellschaftliche Zweck der Kunst ist die Abbildung all dessen, was sich rational nicht fassen lässt: etwa der Tod, die Liebe und die Ungewissheit des menschlichen Lebens. Auch gesellschaftliche oder soziale Strömungen und Veränderungspotenziale sind mitunter nur durch Empfindungen, die in der Kunst visualisiert werden, fassbar.
Kunst als Mutmaßung über die Welt
Eine Wissensbasierung ist als eine mögliche Reaktion auf die wahrgenommene eigene innere und die äußere Welt zu verstehen, wie auch die Kunst oder der Glaube solche Verarbeitungs- und Bewältigungs-Methoden sind. Im Chaos, der Irrationalität und der Unbezähmbarkeit der Kunst und in der Freiheit des Glaubenden, an irgendetwas zu glauben, das nicht real sein muss und vom Glaubenden nur als real angenommen wird, bilden Glaube und Kunst eine Schnittmenge. Der Mensch ist ein Erkenntnis-Geschöpf, das das, was es wahrnimmt, auswerten, einordnen und ggf. bewältigen muss. So entsteht Kunst, ein Glaube oder häuft sich Wissen an. Die Rationalität des Denkens verarbeitet das Fassbare, Kunst und Glaube offenbaren ihre Stärken im Nicht-Fassbaren.
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