Ist der, der ein Kunstwerk erschafft, der, der er im Augenblick ist oder könnte er bereits der sein, der er erst zukünftig werden würde, um seine Kunst schaffen und ihr Ausdruck verleihen zu können?
Es gibt Sachverhalte, die nur schwer vorstellbar sind, weil sie so flüchtig erscheinen. Zum Beispiel die Zeit: Man könnte sagen, dass die Vergangenheit zwar existiert hat und somit als Vorläufer der Gegenwart einen gewissen Einfluss der Abfolge und Folgerichtigkeit auf die Jetztzeit ausübt. Andererseits könnte man aber an jedem Punkt der Gegenwart zum Beispiel sagen: „Anstatt meine Serie der blauen Bilder weiterzumalen, könnte ich heute einfach aus einem unvorhersehbaren Impuls heraus beginnen, rote Bilder zu malen.“ Es wäre nur entweder ein Zufall oder der Wille dazu vonnöten.
Die isolierte Gegenwart
Die Vergangenheit würde dadurch relativiert werden, man könnte behaupten, sie wäre vorbei und abgeschlossen und ihr gegenwärtiger Einfluss somit begrenzt oder fast gar nicht vorhanden. Sie würde so als nichtig erscheinen und damit die Abfolge der Zeit auch gänzlich in Frage gestellt. Nicht das Gestern oder das Morgen wären relevant, nur der gelebte Augenblick. Die Konzentration auf diesen Augenblick, seine Betonung und ein Durchleben dieser aktuellen Echtzeit wären das vor allem Maßgebliche.
Die Gegenwart als Durchgangspunkt
Die Gegenwart wird also als sehr wirklich empfunden, sie ist leb- und erfahrbar und doch hört sie eine absehbare Zeitspanne später auf zu existieren und wird ersetzt durch den nächsten wahrnehmbaren Gegenwartspunkt, der aus der Sicht dieser Gegenwart in der Zukunft liegt. Diese Zukunft ist eine imaginäre Zeit, die aus der Perspektive des Menschen von Absichten, Planungen und Zielen abhängt – und vom Zufall. Aber auch diese Zukunft ist nur ein Konglomerat aus Wahrscheinlichkeiten, eine Gewissheit gibt es nicht. Die gelebte Realität besteht in der Praxis der Erfahrbarkeit aus einem Zeitraum von ein paar Stunden
Zeit als Ungewissheit
Dass wir uns in einem gigantisch großen Zeitkontingent bewegen wie in einer Blase der Ungewissheit ist eines der Mysterien des menschlichen Lebens, das auch der schwer vorstellbare Ausgangspunkt für Kunst ist. Kunst ist bezogen auf die vergehende Zeit ein Innehalten, ist Verewigung und Vergewisserung – sowohl Selbstvergewisserung als auch Weltvergewisserung, aus denen sowohl Selbstorientierung und Selbstdefinition als auch Weltdefinition hervorgehen. Der Ausdruck der Kunst wird zum Wegweiser der inneren Befindlichkeiten, die Kunst zum Abbild der nie fassbaren und immer verlorenen Gegenwart. Zeit ist also ein flüchtiges und nicht fassbares Gut.
Formwerdung und Sein
Von der Flüchtigkeit der Zeit ist es nur ein Schritt zur Flüchtigkeit des Seins. Was ist das Sein der Kunst oder das Sein des Künstlers, der diese Kunst schafft? Das Sein der Kunst kommt aus dem Planen, dem Handeln, der absichtlichen oder unabsichtigen Tätigkeit, als Ergebnis von Wahrnehmung, Fühlen und Denken. Kunst ist in ihrem Ausdruck Formwerdung. Das Innere tritt nach außen, und man tut, was man kann: Man nutzt Techniken, die man erlernt hat, man schafft Motive neu oder variiert bereits geschaffene, man lässt sich inspirieren und transformiert in einem Übersetzungs- und Integrationsprozess das, was man wahrgenommen hat, zu etwas Eigenem.
Zukunft wird Gegenwart
Von außen betrachtet könnte man diesen Vorgang „die Realisierung der eigenen Möglichkeiten“ nennen, die Genese und Formung eines Kunstgegenstandes durch das Können des Künstlers/der Künstlerin. Aber was ist das, was man kann? Es ist beeinflusst von den eigenen Fähigkeiten und dem Ausschöpfen von alten und neuen Möglichkeiten. Auch bei dieser Betrachtung spielt etwas Ähnliches eine Rolle wie beim Empfinden der Zeit. Denn es gibt das, was man in der Vergangenheit gelernt, gesehen oder allgemein wahrgenommen hat. Die Gegenwart könnte ein Kummulationspunkt dieser gemachten Erfahrungen sein und diese in etwas Aktuelles münden lassen. Es kann sein, dass man in der Gegenwart darüber nachdenkt, was man in einem Jahr erreichen möchte, und man könnte diese Vorstellung der Zukunft entleihen und dieses zukünftige Ziel bereits jetzt, in der Gegenwart, angehen, obwohl man es ursprünglich erst für in einem Jahr projektiert hatte.
Besessenheit und Kunst
Analog zur Zeit gibt es also die Fähigkeiten und Möglichkeiten, die man hatte, hat und haben wird bzw. haben könnte. Die Zukunft könnte von Verschiedenem abhängen, etwa von einer Bildungsreise, die man erst machen wird oder einem Studium, das man unter Aneignung bestimmter Fertigkeiten in einem Jahr abgeschlossen haben wird. Oder man übt etwas seit einem Jahr und weiß, dass man photorealistisch erst in einem Jahr wird malen können, weil man technisch in der Gegenwart noch nicht so weit ist. Etwas anderes spielt aber eine vielleicht noch gewichtigere Rolle: Die eigene augenblickliche Befindlichkeit, der Zugang zum eigenen Selbst, die Stärke einer Absicht, etwas aus sich zutage zu fördern, zum Beispiel die Absicht, bald ein anderer zu sein als der, der man in der Gegenwart ist oder sein könnte, indem man versucht, einen Wesenszug an sich zu kultivieren, ihn zu betonen. So könnte es sein, dass man einen Prozess initiiert, der an Besessenheit grenzt, um etwas aus sich ans Tageslicht zu holen und Kunst werden zu lassen.
Machbares und Überforderndes
Analog zur Zeit könnte man sagen: es gibt das, was man im Augenblick kann, aber über das hinaus, was man vermag, kann man mehr wollen und mehr tun, indem man sich überfordert, indem man die Grenzen des normalerweise Machbaren erweitert oder durchbricht, indem man von dem, was man sagen, tun und ausdrücken will, besessen ist. Die Überforderung ist das, was aus Perspektive der Vergangenheit für die Gegenwart nicht möglich schien. Die Überforderung ermöglicht aus der Perspektive der Gegenwart das, was eigentlich erst in der Zukunft möglich schien. Die Last der Überforderung ist dimensionssprengend und schafft in einem kurzen Zeitraum das, was nicht denkbar oder unwahrscheinlich schien. Aus der Perspektive der Zukunft erscheint die Überforderung wie eine Zeitreise, weil sie erdachte Zeiträume überspringt. Die eigene Überbeanspruchung ist dabei vieles mehr: Eine Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten, eine Verdichtung dessen, was ein Künstler zu sagen hat und nicht zuletzt die Formung des Selbst.
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