Dr. Zigian, der die Sorglosigkeit des materiellen Lebens stoisch als Gegebenheit hinnahm, sah sich eines Tages einem wütenden Nachbarn gegenüber. Ein Besucher Dr. Zigians hatte seinen Wagen zwar auf einem öffentlichen Parkplatz abgestellt, der aber – dies war in der weiteren Nachbarschaft akzeptiert – in der Regel von einem bestimmten Nachbarn genutzt und deshalb auch beansprucht wurde.
Das geparkte Auto war groß und augenscheinlich teuer. Dr. Zigian imaginierte beim Anblick des Wagens, der einem Mann gehörte, der mit Wertpapiergeschäften reich geworden war, dass der Wagen nur zu dem Zweck konstruiert und ausgestattet worden wäre, um beim Betrachter Minderwertigkeitsgefühle zu erzeugen. Der Wagen war so absurd teuer, dass er nicht mehr nur ein Statussymbol gewesen wäre, sondern selbst der Status war.
Einmal hatte Dr. Zigian davon geträumt, dass der Auto-Hersteller eine kleinauflagige Sonderedition genau dieses Wagens produziert hatte, die nur gegen Finanzstatus-Nachweis an Milliardäre ausgegeben wurde und deren Zweck nicht etwa die Fortbewegung gewesen wäre, sondern das Überfahren von Menschen ohne Geld.
Dr. Zigian hatte, als er schon mit seinem Gast das Gespräch begonnen hatte, zufällig aus dem Fenster gesehen und registriert, dass der Nachbar von der Arbeit kommend sein Auto auf der Straße neben dem okkupierten Parkplatz abgestellt hatte, ausgestiegen war und wütend das hemmungslos luxoriöse Auto betrachtete. Freundlich forderte Dr. Zigian seinen Besucher auf, mit vor die Tür zu kommen, hin zu dem Nachbarn, der beim Auto stand. Als der Finanzmagnat und der Nachbar aufeinandertrafen, betrachtete Dr. Zigian die beiden, die sich innerhalb von Sekunden anschrieen. Vor allem sah Dr. Zigian, wie sich in die Physiognomie seines Klienten ein Ausdruck mischte, den er von ihm nicht kannte. Hier, in der Auseinandersetzung, offenbarte sich ein Mensch, der vollständig aus dem Gleichgewicht geraten war. Das Auftreten des Besuchers in den bisherigen Gesprächsstunden kam ihm plötzlich wie ein Theaterstück vor.
Nachdem der Nachbar wutentbrannt wieder in sein Auto eingestiegen und losgefahren war, um woanders zu parken, wollte Dr. Zigians Besucher zurück in Richtung Haus gehen. „Für heute“, sagte Dr. Zigian, „ist die Stunde beendet.“ Er schüttelte seinem Besucher zum Abschied die Hand, in der er ein Streichholzbriefchen hinterließ, das aber nur noch ein Streichholz enthielt. Auf dem Streichholzbriefchen aufgedruckt stand: „In einem Leben des Überflusses ist die größte Angst, die des Nicht-Habens. Die Angst vor dem Nicht-Haben ist in letzter Konsequenz die Angst vor dem Nichts selbst. Diese phobieische Lebensweise bedingt pseudoreligiöse Gefühle, indem sie dem Haben einen Götzendienst erweist. Zu haben ist eine Flucht vor der Nichtigkeit der eigenen Existenz.“
Der Besucher blickte im Auto sitzend noch eine Weile, nachdem er das gelesen hatte, zum Haus von Dr. Zigian hin, der Licht in seinem Gesprächszimmer gemacht hatte und an seinem Schreibtisch saß. Man konnte ihn durch das große Fenster von draußen sehen.
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