Planungsgift

Der Mann saß an einem kleinen Tischchen über einer angefangenen Zeichnung. Kropfgeburten, flüsterte er in Anspielung auf ein Illustrationsprojekt, das er mit P. auf einem sozialen Netzwerk durchführte, leise vor sich hin. Zu sehen auf dem Blatt waren ein grob skizzierter Haarschopf und zwei Augen in Bleistift ausgeführt.

Der Strich wirkte dick und ungelenk, die Spitze des Holzbleistiftes in der Hand des Zeichners war angebrochen. Um die Zeichnung herum lag allerlei Unrat, ein Radiergummi, Schnipsel, große Staubflocken, Zigarettenasche überall, ein Glas mit Bier, ein Aschenbecher, der überquoll. In der Hand, die nicht den Bleistift hielt, hatte er eine selbst gedrehte Zigarette mit langem Filter. Der Zeichner inhalierte tief und lange und sah die Zeichnung an. Die Hand mit dem Bleistift hielt er am ausgestreckten Arm vor sich hin. Die Hand zitterte.

Er hustete verkrampft, lief zum Badezimmer, und man hörte ihn ausspucken. Nachdem er zurückgekehrt war, nahm er den Bleistift in die Hand und versuchte, weiter zu zeichnen – aber es ging nicht. Er rieb sich entnervt mit der anderen Hand über das Gesicht und nahm den Stift nun in die linke Hand. Auch diese zitterte. Der Strich auf dem Papier wirkte im kleinen wie eine Fieberkurve. Der Zeichner fluchte. Er warf den Bleistift auf den Tisch, der rollte in schlingernden Bewegungen über den Papierbogen, dann über die Tischkante und landete zwischen umgefallenen Bierflaschen, zerknüllten Papierbögen und Papierschnipseln, die die Abfallreste von etwas Ausgeschnittenem waren.

Der Zeichner griff sich ein kleines Tablet, das neben ihm auf einem Stuhl lag, machte es an und loggte sich in ein Soziales Netzwerk ein. Er klickte auf einen kleinen roten Kreis mit einer weißen Eins darin. Eine Nachricht. Er öffnete sie.

26.04.2014 – 6:57 Uhr
P: R., bist du online?

26.04.2014 – 21:22 Uhr
R: Ich bin da.
P: Endlich. Hast du meine Nachrichten nicht gekriegt?
R: Nein, nur die.
P: Wie geht es dir denn? Du warst ja ewig nicht mehr online.
R: Ganz gut. Ich hatte einiges zu regeln.
P: Hast du das Geld bezahlt?
R: Ja, das meiste.
P: Was heißt das?
R: Was ich sage. Den Großteil.
P: Ich dachte du musst in Erzwingungshaft, wenn du nicht alles bezahlst?
R: „Erzwingungshaft“. Witzig, ihr Ösis. Das heißt hier „Beugehaft“. Nein, ich hab den Kopf nochmal aus der Schlinge gezogen. Bin halt ein Schlingel. ;-)
P: Ich habe mir Sorgen gemacht.
R: Nein, alles klar. Weswegen hast du denn geschrieben? Ich hätte dich aber auch noch kontaktiert.
P: Ich wollte wissen, ob du jetzt die Zeichnung geschickt hast.
R: Welche Zeichnung? Welche meinst du?
P: Für das Kopfgeburtenprojekt. Die Zeichnung von S.
R: Nein, die hab ich nicht gemacht. Bin aber dabei. Sie ist im Prinzip fertig.
P: Weswegen wolltest du mir denn schreiben?
R: Ich wollte fragen, ob du mir nochmal leihweise etwas Geld schicken könntest…?
P: Nein, das geht wirklich nicht mehr, ich würde gerne.
R: Ich würde dir das direkt zurückzahlen. Ich brauche es nur für eine Überbrückung.
P: Das hast du die letzten Male aber auch gesagt. Du hast mir von 1.800 Euro inzwischen ganze 25,00 Euro zurück überwiesen und die nur, wie du selbst geschrieben hattest, aus Versehen. Du wolltest die 25,00 Euro eigentlich jemand anderem überweisen. Jedesmal hast du gesagt, ich würde es ganz kurzfristig wieder bekommen.
R: Ja, das war ein Versehen, aber immerhin war ich ehrlich.
P: Ich habe den Eindruck, dass du mir jetzt schreibst, weil du wieder nur Geld brauchst. Wofür überhaupt?
R. 935,00 Euro, das sind Stromkosten. Die haben mir den Strom abgedreht.
P: Ich dachte, das wäre erledigt? Wie bist du denn jetzt online?
R. War auch erledigt aber ich habe nicht alle Rechnungen gehabt. War ein Versehen. ich kann an den Kopfgeburten jetzt nicht weiter arbeiten, wenn ich keinen Strom habe. Das Tablet kann ich beim Nachbarn aufladen und der hat mir auch sein Passwort für das W-LAN gegeben.
P: Hast du Licht?
R: Ja, ein bisschen, aber nur Akku-Licht. Es ist aber auch so, dass der elektrische Anspitzer nicht funktioniert, wenn ich keinen Strom habe, und die Bleistifte sind alle stumpf oder abgebrochen.
P. Du willst mir sagen, dass du nicht zeichnen kannst, weil dein elektrischer Anspitzer nicht funktioniert? Was erzählst du mir da? Ich kenne jedenfalls nur Akku-Anspitzer oder manuelle halt. Hast du keinen ganz normalen? Der geht doch ohne Weiteres.
R: Ich möchte dich bitten, nicht diesen Ton anzuschlagen. Ich lüge dich nicht an. Es ist ein Anspitzer ohne Akku, strombetrieben, ich habe keinen anderen. Es geht wirklich nicht, Strom und Heizung brauche ich schon.
P: Sonst zeichnest du nicht weiter…
R: Sonst kann ich nicht weiterzeichnen, P.
P: Ich habe ein ganz ungutes Gefühl dabei. Was macht denn die Therapie?
R: Ich war da.
P: Und? Wie war es?
R: Ich hab da noch keine Meinung. Muss mich da erstmal einfühlen.
P: Aber du musst doch einen Eindruck haben. Gut oder schlecht?
R: Ganz gut eigentlich. Aber ich war ja nur einmal da.
P: Erzähl doch mal, wie das abgelaufen ist.
R: Also, da ist noch nicht soviel gewesen. Ein Sitzung in dem Sinne hatte ich noch nicht. Ich bin wohl etwas spät gewesen und da war keiner mehr da.
P: Also warst du nicht bei der Therapie.
R: In dem Sinne noch nicht aber ich habe gemerkt, dass ich da alleine von loskommen kann. Es geht schrittweise zurück. Das ist eine Frage der Disziplin.
P: Bist du jetzt high?
R: Nein.
P: Weil der Aschenbecher voll ist und nichts mehr reinpasst?
R: Haha. Nein. Aufgehört in dem Sinne habe ich noch nicht.
P: R., wir kennen uns jetzt fast zwei Jahre. Aber alles hat seine Grenzen. Ich habe langsam den Eindruck, du machst die Kopfgeburten, damit du Geld von mir bekommst. Ich will hoffen, dass ich verkehrt liege. Hast du denn den Eindruck, dass sich etwas bei dir bewegt?
R: Ich verstehe dich total, ich bin dir total dankbar. Wenn du nicht gewesen wärst, dann wäre es aus mit mir. Ich kann deinen Ärger verstehen, du hast total viel auf dich genommen. Das ist mir alles auch total peinlich. Ich kann das nicht ertragen, dass ich dir Geld schulde. Ich fühl mich wie ein Arschloch, du bist ein guter Mensch. Du bist der einzige Mensch, der mir in der Sache geholfen hat.
P: Wie geht es denn nun weiter? Hast du niemanden, von dem du dir das Geld leihen kannst? Du müsstest doch erstmal gucken, dass du wieder Strom hast.
R: Und Wasser. Ich hab im Moment niemanden. Deswegen hatte ich nochmal gefragt. Ich kann verstehen, wenn du nein sagst.
P: Wasser hast du auch keins? Wie wäscht du dich, was trinkst du denn? Und wenn du es hättest, wäre dann das Gröbste erledigt? Das kann doch alles nicht wahr sein.
R: Ist noch nicht so lange. Ich dusche bei einem Kollegen. Das Wesentliche wäre dann erledigt. Wobei, vermutlich muss ich für ganz kurz in den Bau.
P: Wieso???
R: Weil ich nicht alles zahlen kann. Man zahlt oder man bekommt entsprechend die Tagessätze, die man dann absitzen muss, weil es Strafgeld war. Das sind Tagessätze. Entweder werden die bezahlt oder man sitzt die Tage dafür alternativ ab. Aber ich kann auch im Knast zeichnen und das jemandem mitgeben, der das in meinem Namen postet wie letztens.
P: R., wie soll das nur weitergehen?
R: Weiß ich auch nicht. Ich weiß, dass du das Projekt ins Leben gerufen hast, um mich zu retten, um mir Halt zu geben, eine Aufgabe. Das fand ich total nett. Du hast mich damit gerettet, du bist der beste Mensch, den ich kenne. Ich nutze dich nur aus.
P: Nein, das sehe ich nicht so. Du brauchst nur Hilfe. Was musst du denn zahlen, damit du nicht ins Gefängnis musst?
R: Egal. Ich will das nicht schreiben.
Jetzt mal was anderes: Es sind noch drei Bilder zu machen. Die werde ich auch fertig machen. Das verspreche ich dir.
P: Jetzt warte mal. Ich verstehe das nicht. Findest du das alles normal? Du musst dir doch irgendeine Perspektive schaffen? Du schlitterst von einem Fettnapf in den nächsten.
R: Wenn man einmal auf so eine Bahn gerät, dann läuft das wie von selbst ab. Du stehst daneben und kannst es nicht fassen. Mir hat ein Freund, der das beurteilen kann, gesagt, ich wäre jetzt nur einen Fußbreit von der Gosse weg.
P: Und du meinst nicht, dass das mit den Drogen zu tun hat?
R: Nein, wirklich nicht. Das würde ich getrennt sehen. Das ist aber einem Außenstehenden schwer zu vermitteln.
P: Woher hast du denn das Geld für die Drogen?
R: Soviel nehme ich ja nicht. Eigentlich kaum noch. Hättest du Lust, dass ich dir das mal in einem Hangout erkläre?
P: Nein, das möchte ich jetzt nicht. Ich bin ehrlich gesagt sauer auf dich. Kannst du dir vorstellen, was die Leute hier denken würden, wenn sie das alles wüssten? Du wirfst dein Leben weg. Aber das ist deine Sache. Leben für einen anderen als Stellvertreter kann man nicht. Weißt du, was mich sehr ärgert? Es ist überhaupt kein Verlass auf dich. Ich bin doch nicht deine Sekretärin, die dir hinterher läuft und dir sagt, dass du zeichnen musst. Ich kann ja froh sein, dass es keine elektrischen Bleistifte mit Kabel gibt. Oder elektrisches Papier. Sonst müsste ich dafür auch noch bezahlen. Findest du das okay? Wo bleibt deine Achtung vor dir selbst?
R: Doch, du kannst dich 100%ig auf mich verlassen. Was ich zugesagt habe, das habe ich auch eingehalten. Die erste Hälfte der Kopfgeburten ist mustergültig gelaufen. Ich kann nichts dafür, wenn es im Leben nicht so läuft, wie man das gerne hätte. So ein Projekt braucht auch einen gewissen Freiraum, ein kreatives Chaos. Man könnte es vielleicht eine geplante Unzuverlässigkeit nennen, weil ich das Ungewisse zum Zeichnen schon brauche.
P: Ich glaube, du stehst wieder unter Drogen. Zumindest will ich das mal für dich hoffen. Andernfalls muss ich dir nämlich sagen, dass du etwas spinnst. Geh dringend zur Therapie. Versprich mir das bitte. Geplante Unzuverlässigkeit, ich frage mich, wo ich hier bin.
R: Ich verstehe dich durchaus, dass du dich ärgerst. Das hatte ich ja schon geschrieben.
P: Mail mir mal die Unterlagen, ich möchte sehen, was du schuldig bist. Aber bitte nichts, wo du in Photoshop retuschiert hast, wie beim letzten Mal.
R: Das ist sehr lieb. ;-) Ich schreib auf das nächste Bild: „Inspiriert von der unglaublich vielschichtigen, anbetungswürdig großartigen P.“ ;-) Danke, du bist ein Schatz. ;-*
P: Mich macht das sehr traurig. Bitte gehe unbedingt zur Therapie. Es sollten Anstöße von allen Seiten kommen, sonst kommst du da nicht mehr raus.
R: Mach ich. Danke nochmals.

Der Therapeut legte das Blatt zur Seite und fragte, ob der Chat genau so abgelaufen wäre, wie es dort zu lesen war. R. bejahte, er habe den Text aus einer Chatkonversation genau so herauskopiert. Nur einen Teil habe er ausgelassen, der uninteressant gewesen wäre. Der Therapeut fragte, was das gewesen sei und warum er ihn nicht mitkopiert habe. R. beantwortete die Frage so, dass er das Ende weggelassen habe, weil er zu dem Zeitpunkt die Unterlagen geschickt hätte, aus denen seine Verbindlichkeiten hervorgegangen seien. Danach hätte es einen Disput mit P. gegeben, weil insgesamt über 13.500 Euro zu zahlen seien, wobei R. darauf hinwies, dass ein Großteil dieser Verbindlichkeit durch seinen Gefängnisaufenthalt obsolet werden würde.