Die große Politik ist ein schmutziges Geschäft, weil jeder Politiker nicht nur von den anderen Parteien, die in Konkurrenz zu ihm stehen, observiert wird, sondern weil alle – die gesamte Bevölkerung, jeder potenzielle Wähler, unter Umständen auch die ganze Welt – zugucken könnten. Eine Situation, die sich beklemmend und paranoiamäßig anfühlt.
Warum Lüge kein Ausweg aus dem Loveparade-Debakel ist
Wer will sich da wundern, dass ein Politiker geradezu ausweglos gezwungen ist zu lügen. Darüber hinaus geht es aber ja auch um etwas. Hohe Würdenträger haben viel zu verlieren. Denn Macht ist der Stoff, aus dem die eigenen Träume sind – selbst mit Geld nur schwer aufzuwiegen. Also noch ein guter Grund zu lügen. Letztlich würde ein Politiker, der regiert und rückhaltlos ehrlich wäre, nie wieder gewählt werden. Weil die Politik so ein schwieriges Geschäft ist, würde die Wahrheit vergiftend wirken. Ein Politiker, der sagen würde „Meine Arbeitslosenzahlen sind geschönt“ oder „Ja, ich bin für die Toten auf der Loveparade verantwortlich“, würde einen Kulturschock herbeiführen, der gleich nach dem Urknall käme.
Politik-Architektur: Die Konstruktion eines kubistischen Lügengebäudes
Lüge? Ein hartes Wort. Tatsächlich sind die Vorgänge in der hohen Politik differenzierter: Der Politiker wähnt sich ja gar nicht in der unrettbaren und niederträchtigen Situation eines Lügners. Er hat von sich das Selbstbild einer ehrlichen Haut konstruiert, maximal eines ehrenwerten Bürgers, der durch die Umstände dazu gezwungen ist, die Wirklichkeit – auch über die Medien – umzuformen und konsumabel zu machen. Der Politiker hat mit sich selbst Mitleid, weil er strukturell auf verlorenem Posten steht. Denn ein Mensch, das weiß er, der die Wahrheit verbiegt, bis sie von der Lüge nicht mehr zu unterscheiden ist, befindet sich auf einem rutschigen Untergrund. Ein Lügengebäude läuft einfach sehr leicht Gefahr einzustürzen. Die Politiker, die unter den Trümmern der Lüge verschüttet wurden, sind Legion.
Die RTL II-Fernsehdokumentation zur Loveparade
Nun war am vergangen Samstag der Zeitpunkt, an dem im Gedränge der Loveparade einundzwanzig Menschen gestorben waren, einhundert Tage her. Am Sonntag war eine dreistündige Fernsehdokumentation anläßlich des Ereignisses zu sehen, die zwar nichts wirklich Neues zu berichten wußte, jedoch im Gestrüpp der bisherigen Desinformation einen guten Überblick über die Faktenlage gegeben hat. Demnach ist die Informationspolitik der beteiligten Parteien nach dem Ereignis für die Familien der Opfer bis zum heutigen Tag entwürdigend. Sowohl Joachim Schaller, Geschäftsführer der Lopavent GmbH, die die Rechte am Namen „Loveparade“ hält und der Veranstalter war, sowie die Polizei als auch Oberbürgermeister Adolf Sauerland scheinen zu mauern. Aus Sicht des Wählers und Bürgers ist vor allem aber die Stadt Duisburg als die die Veranstaltung freigebende und beaufsichtigende Behörde in besonderer Weise verantwortlich für die Geschehnisse. Der Volkszorn hat sich an Oberbürgermeister Adolf Sauerland insbesondere deshalb festgemacht, weil der fast schon so tut, als wäre er das Opfer.
Der Klebstoff der Verantwortung läßt sich schlecht abwaschen
Die Dokumentation hat transparent gemacht, dass Sauerland, der mannigfaltig dazu aufgefordert worden war zurückzutreten, nichts unversucht gelassen hat, sich reinzuwaschen. Allein: Gelungen ist es ihm nicht. Ganz einfach, weil es nicht stimmt, dass er keine Verantwortung hat, weil es nicht stimmt, dass die Stadt alles richtig gemacht hat, zum Beispiel weil sie das Gutachten, das die Geschehnisse durchleuchten sollte, bei jener Rechtsanwaltskanzlei in Auftrag gegeben hat, die schon oft für die Stadt gearbeitet hat und damit parteiisch ist. Wie zu erwarten wurde darin den Verantwortlichen bei der Stadt Duisburg ein Freibrief ausgestellt.
Selbstbild-Konstruktionen als persönliches Gegenmittel
So ist das eben, wenn man Politiker ist und das Rückgrat butterweich geworden ist: Man sieht nicht mehr die einundzwanzig Toten und ihre Familien als die wahren Opfer an sondern sich selbst, der man mißverstanden wird, der man einsam geworden ist, isoliert ist, der man schwitzt und leidet, obwohl man doch nur die Wahrheit sagen will – aber nicht kann. So zimmert man hundert Tage lang an einem surrealen Parallel-Selbstbild, bis einem die eigene Persönlichkeit – von außen betrachtet irrwitzig krumm und verformt – völlig schlüssig und folgerichtig erscheint.
Tote als politische Fußabtreter
Niemand habe gewollt, dass Menschen zu Tode kommen, sagt der erste Bürgermeister der Stadt Duisburg und auch Fritz Pleitgen von der Ruhr.2010 GmbH. Niemand hat es gewollt. Es ist aber doch passiert, weil grundlegende Sicherheits-Vorschriften außer Kraft gesetzt wurden. Wenn man sich nun umblickt, als Politiker im Land der Lüge, wenn man in einem hellen Moment all die Toten und die schrecklichen Ereignisse Revue passieren läßt, läßt einen das erzittern und man bekommt Angst. Man geht ein paar Schritte rückwärts, kehrt zurück ins Land der Lüge, wo es bequemer ist, weil es auch das Land der Widerspruchslosigkeit ist. Man merkt nicht mehr, dass die eigenen schweren Lügen-Schritte von den toten Körpern schallschluckend abgefedert werden.
3 Responses to “Der Rückwärts-Countdown: 100 Tage Loveparade-Katastrophe oder warum es sich auf Toten politisch unkonfortabel läuft”
Ich habe die Doku auch gesehen und bereits vorab von einem der Autoren erfahren, dass die Sicherheitsgutachten, die von Seiten des Veranstalters und der Stadt im Prinzip „unabhängig“ voneinander aufgegeben wurden bzw. werden sollten, einmal von Prof. Schreckenberg und zum anderen von SEINEM DOKTORANTEN durchgeführt wurden. Leider kam die Info zu spät für die Doku. Das Ganze war einfach nur eine himmelschreiende Kungelei, in der 21 junge Menschen starben.
[…] Mittwoch, 10. November 2010 | Autor: zoom Noch einmal Loveparade I: Warum es sich politisch auf Toten unkomfortabel läuft … endoplast […]
Das ist ja wohl der Hammer! Danke für die Info!
Es ist in Duisburg auch die politische Kultur gestorben.