„Rammstein“ – ein Name ist Programm. Die Fließband-Tabubrüche durch Schock und Ekel hat ihr Sänger Till Lindemann kultiviert. Er schreibt ein Gedicht über eine Frau, die mit K.O.-Tropfen gefügig gemacht wird, dreht einen Porno, in dem Frauen gefangen, vergewaltigt und getötet werden und lässt nichts Grobes aus, an dem sich normale Menschen stoßen könnten. Doch der methodische Tabu-Bruch hat auch etwas Befreiendes. Eine Art Katharsis, eine innere Reinigung dadurch, dass sich jemand auf der Bühne und medial entäußert, der keine Moral zu verkörpern scheint.
Moral und Recht, das sind zwei Welten, die sich in Zeiten von Polarisierung und kontrastierend-verkürzten Medienwirklichkeiten durchdringen und ineinander verdrehen, bis man sie nicht mehr voneinander trennen kann – zumal von außen als medienkonsumierender Beobachter. Medien sind dem Zwang ausgeliefert, am besten täglich etwas Neues zum Fall zu berichten, obwohl es meist gar nichts Neues zu berichten gibt.
Meinungswissen und Faktengefühl
Das fühlt sich an wie ein informationelles Hamsterrad, dessen Fliehkraft eine eigene temporäre Bubble erzeugt. Wie immer haben die meisten, zumal die Rammstein-Fans, eine Meinung zum Geschehen. Meinung ist gut, Faktenwissen ist besser. Wenn es aber zu wenig verfügbare Fakten gibt, dann füllt man die Leerstelle mit dem, was das eigene Empfinden nahelegt.
Wovon bisher berichtet wurde
Die Fakten bisher: Die Irin Shelby Lynn sagt, sie sei nach einem Rammstein-Konzert und einer Begegnung mit Till Lindemann am nächsten Tag mit blauen Flecken aufgewacht, ohne eine Erinnerung daran, wie diese entstanden seien. Gleichzeitig sagt sie aber, dass Till Lindemann sie ihrer Erinnerung nach nicht angefasst habe. Das ist der Kern einer Behauptung, die Recherchen nach sich gezogen hat.
Backstage bei Rammstein
Daraufhin hat YouTuberin und Influencerin Kayla Shyx ein Video veröffentlicht, in dem sie detailliert von einem Backstagebesuch bei einem Rammstein-Konzert berichtet. Sie schildert eine Atmosphäre der Einschüchterung. Allerdings kann eine solche Atmosphäre tatsächlich existieren oder auch nur so empfunden werden. Auch der YouTuber „Der dunkle Parabelritter“, Alexander Prinz, meldete sich danach zu Wort. Er, der als Konzertveranstalter genauere Kenntnisse im Musikbusiness gesammelt hat, legt nahe, dass an den Vorwürfen etwas dran sein könnte. Aber an welchen?
Zwei Welten: Moral und Recht
Stellt man sich die Frage genauer, bleibt zunächst nicht viel erhärtete Substanz. Der Fall „Shelby Lynn“ würde ein ausgedehntes Ermittlungsverfahren nahelegen, was aber nicht erfolgt ist. Falls sie mit K.O.-Tropfen gefügig gemacht wurde, stellt sich aber die Frage, von wem. Das kann selbst sie nicht beantworten, es wäre das Ergebnis eines sicher schwierigen Ermittlungsverfahrens, wenn K.O.-Tropfen nicht nachweisbar und der mögliche Tatort in Form eines Konzertbühnen-Backstagebereichs längst abgebaut wäre. Inzwischen gibt es weitere Frauen, die darüber berichten, wie es backstage zuging, dass sie nämlich möglicherweise durch ihnen verabreichte Substanzen oder Alkohol sexuell gefügig gemacht wurden. Auch hier kann die Grenze zwischen dem, was möglicherweise rechtlich noch okay sein könnte aber moralisch verwerflich wäre, verwischen. Von außen ist es nicht wirklich beurteilbar, wenn da nicht das Image der Band wäre, das es erschwert, objektiv zu bleiben und die Instanzen „Recht“ und „Moral“ voneinander zu trennen.
Gewalt und Verdachtsmomente
Denn all dies vollzieht sich vor einem von Rammstein erzeugten Hintergrund: dem der Gewalt. Gewaltdarstellungen sind auf der Konzertbühne zu sehen, in Till-Lindemann-Solo-Videos, selbst die von Rammstein-Frontmann Till Lindemann beauftragten Rechtsanwälte Schertz Bergmann sprechen Menschen und Medien gegenüber eine Drohung aus, man werde wegen sämtlicher Anschuldigungen dieser Art umgehend rechtliche Schritte einleiten. Die Kanzlei bezieht sich darauf, dass es kaum konkrete Fakten gebe, eher persönliche Erfahrungsberichte und Mutmaßungen. Natürlich steht es aber außer Frage, dass Medien über die Umstände und die behaupteten Ereignisse berichten müssen. Hier von einer „unzulässige Verdachtsberichterstattung“ zu sprechen, wie es Lindemanns Anwälte tun, würde dann greifen, wenn die Berichterstattung sich grundsätzlich von den Fakten entfernt. Allerdings liegen dem „Spiegel“ offenbar in zwei Fällen eidesstattliche Versicherungen von betroffenen Frauen vor, die mutmaßlich keinen einvernehmlichen Sex mit Lindemann hatten. Medien sollten versuchen, die Realität zu erfassen, so schwer das in Grenzbereichen einer unvollständigen oder tendenziösen Faktenlage ist. Hier ist jedoch auch anzumerken, dass Rammstein es ausgelassen hat, auf Presseanfragen zu reagieren.
Empathie und Wahrheit
Man könnte annehmen, dass eine Behauptung von Shelby Lynn, der unter Umständen Gewalt angetan worden sein könnte, dazu führt, dass die Bandmitglieder sich mit ihr in Verbindung setzen und versuchen, dies aufzuklären. Anstatt dessen hat die Band zeitnah nach Bekanntwerden von Shelby Lynns Vorwürfen behauptet, sie würde eine Rechtsanwaltskanzlei damit beauftragen, die Umstände aufzuklären, die hinter ihrer eigenen Bühne stattgefunden haben sollen. Ist dies geschehen? Man weiß es nicht. Von Empathie für das mögliche Opfer jedenfalls künden die bisherigen Schritte der Band nicht. Eher im Gegenteil, über die eingangs genannte Kanzlei behauptet Till Lindemann, grundsätzlich alle Vorwürfe seien unwahr. Lediglich innerhalb einer Rechtsdimension ist so ein Satz, der ohne genaue Prüfung der Umstände behauptet, jegliche Anschuldigung sei falsch, verständlich. Gleichzeitig ist er ebenso unmenschlich wie eine hysterisierte Nachrichtenlage, die jede Behauptung gegen Lindemann automatisch als wahr annimmt.
Rechtsanwälte und Fans
Für Rechtsanwälte zählt naturgemäß nur das Rechtliche, genauer gesagt im Verteidigungsfall für einen Mandanten das, was von der Gegenseite gegen diesen beweisbar wäre und damit relevant werden könnte. Zunächst schreibt man also im Sinne des Mandanten, nichts von etwas Behauptetem habe sich zugetragen und überlässt die Beweislast den mutmaßlichen Opfern. Für den, der die Medien wahrnimmt, zählt auch die rechtliche Dimension aber verwoben mit diffusen moralischen Kategorien oder mit Kategorien, die im Gegenteil den moralischen Tabubruch fordern und für gut erachten.
K.O.-Tropfen und das lyrische Ich
Jemand kann ein Gedicht schreiben, in dem er davon fabuliert, eine nicht näher bezeichnete Frau mit K.O.-Tropfen zu betäuben und sich an ihr zu vergehen. Jemand kann auf der Bühne aus einem überdimensionalen Penis Konfetti in die johlende Masse spritzen. Jemand kann seine Sexualpartner organisiert von einer „Casting-Direktorin“ an sich heranführen lassen. Wäre das rechtlich okay? Vermutlich ja, sofern Letzteres im klaren Einvernehmen erfolgt. Ist es moralisch bedenklich? Jeder Punkt der Aufzählung hat diesbezüglich ein anderes Level. Die das „lyrische Ich“ ergötzende textlich ausgestaltete Vergewaltigung unter Verabreichung von K.O.-Tropfen in einem als „Gedicht“ verkauften Text wirft die Frage auf, warum jemand so etwas schreiben und veröffentlichen muss. Man kann es für krank und eklig halten und doch ist es rechtlich für den hier beschriebenen Fall im Kern nicht relevant, nur als mögliches Indiz bezüglich der Ausrichtung des Autors.
Männlichkeit und Emanzipation
Hier schließt sich der Kreis zwischen Moral, Recht und Geschmack. Die Band Rammstein ist immer schon martialisch aufgetreten, mit überdeutlichen Anklängen an den Gestus von harter Männlichkeit und einer Reminiszenz an die deutsch-nationale Vergangenheit. Die Musiker, die keinen geschmacklichen Fettnapf auslassen, erfreuen die deutsche Männlichkeit, die sich in Zeiten von Frauenrechten untergebuttert fühlt. So ist wohl zu erklären, dass für die meisten Rammstein-Fans die Unschuldsvermutung für ihre Band gilt – nicht nur rechtlich, auch moralisch.
Opferschutz und Frauenrecht
Sogar im Gegenteil, mögliche Opferstimmen werden abgetan, manch ein Fan-Kommentar in den sozialen Medien legt Freude darüber nahe, dass die Anschuldigungen gegen Lindemann hoffentlich wahr sein mögen. Fast so, als würde man von Übervater Till Lindemann erwarten, dass sein gewalttätiges lyrisches Ich in Wirklichkeit mit seinem tatsächlichen Ich übereinstimmt. „Rammstein“ und „Till Lindemann“ sind nach Ereignissen, die in den sozialen Medien die Bevölkerung polarisiert haben – wie „Corona“ oder der „Russland-Krieg“ – ein weiteres Reizthema, das die Massen spaltet. Man ist für oder gegen Till Lindemann. Dabei sollte es aber eigentlich schwerpunktmäßig um die möglichen Opfer gehen. Grundsätze wie „Im Zweifel für den Angeklagten“ und die „Unschuldsvermutung“ solange, bis eine Schuld bewiesen ist, sollten auch mutmaßliche Opfer miteinschließen. Für Till Lindemanns Ex-Partnerin Sophia Thomalla ist er einer, der Frauen beschützen würde. Aber beschützt oder hilft jemand jenen Frauen, die möglicherweise Opfer geworden sind und nun zusätzlich eingeschüchtert werden? Rammstein hat immer schon medial mit dem Feuer gespielt, jetzt brennt es im echten Leben. Lichterloh, übrigens.