Manchmal kommt einem die Welt vor, wie ein Irrenhaus. Bevölkert von Wahrnehmungsversehrten, Wahrnehmungsverzerrenden und Wahrnehmungsverzerrten. Es ist kaum zu glauben, woran der Mensch alles glauben kann: Dass die Erde eine Scheibe ist, dass Joe Biden Donald Trump die Präsidentschaft geklaut hat und dass Bill Gates Mikrochips in Impfungen versteckt. Dass Corona gar nicht existiert oder ungefährlich ist. Dass amerikanische Demokraten Kinderblut trinken und dortige Amokläufer in Wirklichkeit Schauspieler sind und der Amoklauf die Inszenierung eines Regisseurs.
Die Welt der angenommenen Verschwörungen ist groß und schillernd und wirkt soviel spannender als die reale. Aber sofern nicht rechtsextreme Destabilisierungs-Strategien dahinterstecken – was oft der Fall ist – warum glaubt jemand überhaupt solchen Unsinn?
Das Ende des sozialen Konsens?
Zentral für das Erstarken der Verschwörungstheorien ist, dass die Wirklichkeit, wie wir sie empfinden, in mehr Bereichen, als man denken mag, auf gesellschaftlichen Vereinbarungen basiert – und diese Vereinbarungen in einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft immer schwerer zu erreichen sind. Demokratie ist eben kein Absolutismus sondern eine Vielstimmigkeit, bei der man Vereinbarungen braucht, um handlungsfähig zu bleiben. Aber was heißt das konkret in der Praxis?
Wie verlässlich ist die Wahrnehmung?
Ein einfaches ganz unspektakuläres Beispiel, wie es im Alltag immer passieren könnte: Man beobachtet an einem Flughafen ein startendes Flugzeug. Der Start dieses Flugzeuges, den man beobachtet hat, ist eine unverrückbare Realität, die vermutlich niemand bezweifeln würde. Denn die simple Wahrnehmung des startenden Flugzeuges beruht auf nachvollziehbaren Erfahrungen. Soweit, so gut.
Die Details der Wirklichkeit
Es kann aber rund um diesen Flugzeugstart um weitere Aspekte gehen, die umstrittener sein können. Etwa darum, wann genau das Flugzeug gestartet ist. Selbst an dieser faktischen Nichtigkeit könnte sich ein Streit entzünden. Der Flugzeugbeobachter am Flughafen könnte sich vielleicht nur ungefähr daran erinnern, dass es Verspätung hatte, zum Beispiel eine halbe Stunde. Später würde er einem Freund erzählen, dass das Flugzeg mit halbstündiger Verspätung gestartet ist. Der Freund war aber auch am Flughafen und sagt, es wären nur 15 Minuten Verspätung gewesen. Wie genau man sich auf eine Startzeit einigt, wie lang die Verspätung wohl gewesen sein mag, ist ein sozialer Vereinbarungsprozess, der im Alltag normalerweise kein Problem darstellt.
Medienwirklichkeiten ersetzen die Wirklichkeit
Je nach Gesprächssituation und Sympathie oder Affinität zum Gesprächspartner ist eine Einigung über den Grad der Verspätung des Flugzeuges wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Bei Antipathie zwischen den beiden Personen wird man sich vielleicht nie einigen und u.U. später den Gesprächspartner und seine Behauptung verunglimpfen. Nimmt man nun hinzu, dass es nicht um einen tatsächlich vorhandenen Gesprächspartner gehen könnte, dem man gegenüber steht, sondern eine solche Konversation online etwa in einem Chat mit Personen stattfindet, die man gar nicht kennt, und nimmt man weiter an, dass es nicht um den vergleichsweise uninteressanten Start eines Flugzeugs geht sondern etwa um eine politische Frage, die für viele Menschen wichtig ist, wird klar, wie schnell sich erstens ein Konflikt bilden kann und wie schnell zweitens darauf aufbauend ein Verschwörungsmythos entstehen kann.
Die Politik als Streitfeld
Vielleicht würde es anstatt des geschilderten Beispieles darum gehen, ob Donald Trump in dem Flugzeug saß und darum, wann er wo war. Vielleicht behauptet jemand, es gäbe Hinweise darauf, dass Donald Trump heimlich in Berlin war und dass die „Staatsmedien“ dies verschweigen wollten. Und vielleicht gibt es Rechthaber-Foren, in denen die Chatpartner ihre Meinung und ihre Mutmaßungen mit Fakten gleichsetzen bzw. verwechseln. Dies mögen Menschen sein, die sich meinungsmäßig vom Konsens der Gesellschaft abgespalten haben und deshalb gegen jede Vereinbarung sind, sofern sie nicht in die Bestätigung der eigenen Meinung mündet.
Die polarisierte Gesellschaft
Der Verschwörungsmythos wuchert besonders gut auf einer sozial verweigerten Vereinbarung, das heißt, auf einem nicht mehr zu erreichenden Konsens. Deshalb ist die alte politische Perspektive wichtig, die etwa die SPD in früheren Zeiten auf der Agenda hatte, dass bei wesentlichen politischen Entscheidungen darauf zu achten sei, den sozialen Frieden zu wahren, der ein fragiles Gleichgewicht ist. Da sich in vielen westlichen Gesellschaften, in denen der Kapitalismus mit seinen unkontrollierten Profitmaximierungs-Zielen die wirtschaftlichen Geschicke gelenkt hat, die Gesellschaften polarisiert haben, ist der soziale Friede ins Wanken geraten. Die eigentlich reichen Gesellschaften produzieren strukturell Millionen ökonomischer Verlierer (inklusive Kindern, die kaum eine Perspektive haben werden) den sogenannten „Abgehängten“, die sich nicht mehr an die alten gesellschaftlichen Vereinbarungen gebunden fühlen. Hinzu kommen all jene, die zwar noch nicht abgehängt sind aber in Angst davor leben, etwa ins „Hartz IV“-System abzurutschen. Das ist einer der Gründe für das destabilisierende Aufkommen falscher Verschwörungstheorien bzw. der Verschwörungsmythen. Durch die Inflation der falschen Verschwörungen wird übrigens das Ermitteln realer Verschwörungen in der Politik und Wirtschaftswelt nicht gerade leichter.
2 Responses to “Virtualisierung der Wahrheit und Abkehr vom Gemeinsinn: Warum gibt es Verschwörungstheoretiker?”
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[…] andersherum gestellt. Anstatt dem Verschwörungsgläubigen ein Motiv für seine Ansicht zu unterstellen (was andererseits bei den politischen Initiatoren […]