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Comic-Zeichenkunst: Als Jim Steranko Frank Millers Sin City erfand

Die Comic-Serie „Sin City“ war visuell wegweisend für die amerikanische Comiclandschaft der 1990er-Jahre und wirkt bis heute nach. Ihr Autor und Zeichner Frank Miller hat damit, was seinen Einfluss und den Grad der Inspiration anderer Zeichner anbelangt, vielleicht sogar sein Werk „The Dark Knight Returns“ übertroffen. Obwohl sein Gesamtwerk an wegweisenden Comics nicht arm ist, war „Sin City“ so etwas wie ein formaler Abschluss seines erfolgreichen Wirkens bis zur Jahrtausendwende. Wo liegen die grafischen Wurzeln des Werkes?

Frank Miller hatte, als junger Mann vom Land nach New York umgesiedelt, schnell bei den Comics Fuß gefasst und ebenso schnell wie ein Schwamm alle möglichen Einflüsse aufgenommen und für sein Werk transformiert. Er tat das mit großem Einfühlungsvermögen für die Heldenfiguren und mit einem Gespür für Dramatik, die Spannung erzeugt. Nach all den Hohlformeln und Klischees des Genres „Superheldencomic“, nahm sich Frank Miller mehr Zeit für Personen-Charakterisierungen, eine Stärke, die die Marvel-Comics in den 1960er-Jahren groß gemacht hatte. Marvel-Comics waren in dieser Zeit „menschlicher“ als die der Konkurrenz gewesen, hatten das aber zwischenzeitlich, im Verlauf der 1970er-Jahre, wieder vergessen.

„Sin City“ als neuer Impuls

Manchmal entsteht etwas Neues im Bereich der Comics, betritt die Bühne erhöhter Aufmerksamkeit, und man fragt sich im Nachhinein, wie diese Innovation entstehen konnte, weil sie so überraschend kam. Ein solcher Fall ist „Sin City“ (als Synonym-Städtename für „Los Angeles“). Scheinbar aus dem Nichts ist diese Retro-Detektiv-Serie ab 1991 aber nicht entstanden. Sie hatte Vorläufer – sowohl inhaltlich, was Motive und Personenzeichnungen anbelangt, als auch zeichnerisch, was die extreme Stilisierung betrifft.

Vorbilder Raymond Chandler und Dashiell Hammett

„Sin City“ griff erzählerisch auf den lakonischen Ton der Detektivgeschichten von Raymond Chandler (1888-1959) und Dashiell Hammett (1894-1961) zurück. Hammett hatte seine cool erzählten Geschichten in den 1920er- und den 1930er-Jahren veröffentlicht, etwa den bekannten Roman „Der Malteser Falke“ (1930). Chandler veröffentlichte zwischen 1909 und 1958, schuf dabei den Privatdetektiv Philip Marlowe und bekannte Romane wie „Der Große Schlaf“ (1939). Das Wirken beider Autoren wurden zum Inbegriff für einen detektivischen Helden zwischen Moral und menschlichen Abgründen, erzählt aus einer für damalige Verhältnisse realistischen Perspektive, die auch mal unbarmherzig gewalttätig wirkte. „Hard Boiled“-Detektivgeschichten nannte man solche Formen innerhalb des trivialen Pulp-Genres.

Gewalt und Leidenschaft

Frank Miller hatte immer schon ein besonderes Faible für Gewaltdarstellungen und ist unter anderem dadurch berühmt geworden, etwa bei seiner ersten Serie „Daredevil“, deren Höhepunkt die Inszenierung der Ermordung „Elektras“ war. Die war eine der neu eingeführten Hauptfiguren in seinem Run, der immer mehr Leser begeisterte und die Auflagen stetig steigen ließ. Ein anderes Beispiel ist der Schwertkämpfer „Ronin“ in einer Miniserie, der den Teufel tötete, indem er sich selbst gleich mit erstach. Eine Frank-Miller-Serie kommt ohne explizite Gewalt nicht aus. Die inszenierte und choreografierte Darstellung von Gewalt wurde als Tabubruch zum wichtigen Verkaufsargument für seine vor „Sin City“ ansonsten besonders gut erzählten und dramatisierten Comicgeschichten.

Hard-Boiled Pulp

Als Höhepunkt der Gewaltdarstellungen kann man übrigens die dreiteilige Miniserie „Hard Boiled“ von 1990 ansehen, in der Miller als Autor und Geof Darrow als Zeichner mit eben dieser Vorliebe ein brutal-augenzwinkerndes, ultimativ übersteigertes Feuerwerk an Gewalttätigkeiten abbrannten. Auch hier ist übrigens bereits ein Detektiv am Werk, allerdings einer in einer nicht näher bezeichneten Science-Fiction-Welt. „Hard Boiled“ ist genrespezifisch sowohl Gewaltorie als auch irreale Übersteigerung, im erzählerischen Grundgerüst stark angelehnt an die Scheinwelten des wegweisenden Science-Fiction-Autos Philip K. Dick.

Frank Miller mit Action und Gewalt

Dies war generell der motivische und erzählerische Ansatz von Miller: Schnelle Action und Gewalt, eingebettet in spannend erzählte Geschichten. Doch Miller war nie nur Autor, obwohl er als Autor mit verschiedenen Zeichnerstars zusammenarbeitete, sondern ist zugleich selbst ein begnadeter Comiczeichner. So setzte er die Verbrechenswelt von „Sin City“ in einem harten, kontrastreichen Schwarz-weiß-Stil um. Dabei gab es keine Grauwerte und zu Anfang der Serie ausschließlich die schwarz-weiße Darstellung. Zwangsläufig mündete diese Darstellungsart zunehmend in eine Abstraktion und Vereinfachung. In späteren Folgen fügte Miller seinen Zeichnungen jeweils eine Sonderfarbe hinzu, etwa Gelb bei der sechsteiligen „Sin-City“-Serie „That Yellow Bastard“, Rot und Blau bei Teilen von „Hell and Back“. Initiierend reicherte er diesen Serien-Zyklus ausnahmsweise sogar mit vierfarbigen Darstellungen an.

Erfolgsgarant Frank Miller

Miller war zu diesem Zeitpunkt, Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre, schon berühmt geworden und ein in der Szene überaus angesehener Comic-Schaffender, ein Autor, der hohe Verkaufszahlen generierte und mit jedem seiner Werke für eine Überraschung sorgte. Die ehemals Ende der 1970er-Jahre fast eingestellte Marvel-Serie „Daredevil“ machte er ab 1979 durch rasant erzählte Geschichten zum Verkaufshit, mit „The Dark Knight Returns“ (1986) überführte er das Kinder-Genre „Superhelden-Comic“ ins Erwachsenenzeitalter, mit „Ronin“ (1983/84) verband er europäische, japanische und amerikanische Comicstilistiken zu einem Ganzen und trug mit dazu bei, den Manga in Amerika salonfähig zu machen. Mit „Sin City“ schließlich brachte er etwas, was keiner erwartet hätte: Einen verhärtet gezeichneten, schwarzweißen Retro-Detektiv-Comic, der genau das Gegenteil der super-detaillierten Zeichnungen von Geoff Darrow im „Hard-Boiled“-Comic war. Wie immer schuf Miller dabei nicht nur eine neue prägnante Hauptfigur und einen Helden-Kosmos, er schuf eine eigene Welt mit eigenen Regeln.

Inspirationen für Frank Miller

Nun weiß man, dass Frank Miller Großes schuf, indem er er sich sehr von Bestehendem inspirieren ließ. Man könnte es auch anders ausdrücken: Miller klaute geschickt, nahm diese Inspiration und fügte ihr jenes Eigene hinzu, das ihr fehlte und die Comicserie zu etwas ganz Besonderem machte. „Daredevil“ litt unter schlechten Storys, einem ausgelatschten Personenkarusell und einer zu unklaren Psychologie der Hauptfigur. Die einfachen Geschichten, die sich aus der Blindheit der Hauptfigur ergaben, waren längst auserzählt. Miller renovierte die Serie mit einfachen Mitteln und neuer Tiefe. So revitalisierte er den Hauptbösewicht „Kingpin“ aus der „Spiderman“-Welt und vertiefte dessen Beziehung zu seiner Frau, die in dramatische Geschehnisse eingebunden wurde. Er schuf mit „Elektra“ eine der wichtigsten weiblichen ambivalenten Superschurkinnen und reicherte den Personenkosmos an, sodass er Personenkonstellationen spannend variieren konnte. Miller schrieb seine Geschichten rasant und psychologisch nachvollziehbar. Nie war ein Cliffhanger am Ende eines Heftes in dieser Zeit dramatischer als bei Millers „Daredevil“. Doch vieles, was er verwendete, war bereits in anderer Form vorher vorhanden. Es war, als gäbe man einem alten Haus den entscheidenden Neuanstrich: Er konstruierte es neu – und das Ergebnis begeisterte mit Verkaufzahlen den Verleger, mit dynamisch geschriebenen und gezeichneten Geschichten, die von Will Eisners „Spirit“ inspiriert waren, die Leser und in ihrer Eigenheit und sowohl erzählerischen wie auch zeichnerischen Gekonntheit die Fachwelt. Hier kam zum Tragen, was bei Marvel kaum sein durfte: Jemand schreibt und zeichnet die Geschichte in Personalunion. Wobei Miller in Klaus Janson einen würdigen Tuschzeichner seinen Kooperations-Partner nennen konnte, der später das Artwork alleine übernahm.

Vorbild für andere Zeichner

Was Frank Miller tat, war eine Innovation in einem tradierten Umfeld. Da er immer wieder mit Zeichner-Könnern zusammenarbeitete, ob Geoff Darrow, Bill Sienkiewicz, Simon Bisley, John Romita jr., David Mazzucchelli oder Jim Lee, bot er seiner Leserschaft ständig neue Zeichenwelten, es wurde nie langweilig, obwohl Frank Miller selbst ein großer Zeichner ist, der seine Fähigkeiten weiterentwickelte. Mit „Sin City“ revitalisierte er die klassische Detektivgeschichte nicht nur, sondern fand eine eigene zeichnerische Form dafür, die für Aufsehen sorgte und viele Zeichner beeinflussen sollte. Unter anderem selbst Zeichnerstar Jim Lee, der dafür seinen Stil zeitweise änderte und dem Frank-Miller-Stil nachempfand.

Einflüsse auf „Sin City“

Was aber waren die Einflüsse auf das „Sin-City“-Artwork, das mit Extrem-Kontrasten und großen Schwarz-Flächen arbeitete? Der direkte Vorläufer ist das Comicbüchlein „Chandler: Red Tide“ (1976), geschrieben und gezeichnet von Jim Steranko. Hier verwendet Steranko, wenn auch in Frbe, bereits die Stilmittel visueller Verhärtung mit hohem Kontrast. Das wirkt bereits sehr, wie „Sin City“, wobei auch die Story thematisch bereits das vorlegt, was Miller später ausbaut: Verbrechen, Mord, Tod, Action, Konfrontation. Das kleine Werk in Taschenbuchform, ohne Sprechblasen und mit gesetztem, nicht mit handgelettertem, Text, war untypisch für seine Zeit und kein Verkaufserfolg. Das Artwork wirkte hier und da etwas hölzern, dennoch, wie immer bei Steranko, steckte ein Anspruch dahinter, der über das Übliche hinausgehen sollte.

Der Anspruch von Jim Steranko

Jim Steranko war seit seinem ersten Wirken bei Marvel für jede Grafikinnovation gut. Dabei übernahm er sehr direkt und teils ohne große eigene Leistung Stilistiken und visuelle Erzählweisen anderer Zeichner. Bei den beiden Heftserien „Nick Fury: Agent of S.H.I.E.L.D.“ (1968) und „Captain America“ (1969) griff er auf die Stile von Jack Kirby und Will Eisner zurück. Schließlich musste Jim Steranko Marvel so schnell, wie er gekommen war, wieder verlassen. Anlass war der Streit um die Geschichte „At the Stroke of Midnight“ (1969) in der Heftserie „Tower of Shadows“ Nr.1. Schon hier sieht man, dass Jim Steranko an einer Verdichtung und Flächigkeit in kontrastreichen Darstellungen interessiert war. Noch deutlicher wurde das später bei der Comic-Filmadaption „Outland“ (1982) für das „Hevy-Metal“-Magazin. Steranko arbeitete tendenziell weniger mit Strichen und nach Möglichkeit mehr mit Flächen. Ein Stilmittel, das später auch prägend für Frank Millers „Sin City“ werden sollte. Man kann festhalten, dass Motivik und Stilistik von „Chandler: Red Tide“ sehr direkt dem nahe kommt, was Frank Miller Jahrzehnte später mit „Sin City“ vorlegte.

Klassische Comics vor Jim Steranko

Allerdings bewegte sich Jim Steranko nicht im luftleeren Raum, denn auch er unterlag sehr direkten Einflüssen anderer Zeichner. Zum Verständnis ist folgende Grundlage des Comiczeichnens wichtig: Fast alle Comiczeichner arbeiten zeichnerisch vor allem linear. Das heißt, sie zeichnen Linien. Das sind meist Außenkonturen des Dargestellten also von Personen und Gegenständen. Außerdem werden zur Erzeugung von Räumlichkeit in den Schwarzweiß-Zeichnungen Strichschraffuren angelegt, die Grauwerte simulieren. Schließlich wird auch mit Flächigkeit gearbeitet, etwa bei Schatten, um den Figuren Dimension, Tiefe und Dramatik zu verleihen. Das visuelle Hauptmittel blieb aber die Linie. Jeder der berühmten Vorbild-Zeichner aus den Anfängen des Mediums hat mit feinen Schraffuren, also mit vielen kleinen Strichen gezeichnet, dabei aber auch mit Flächen und größeren Schwarzwerten experimentiert. Dazu zählen Hal Foster (Tarzan und Prince Valiant/Prinz Eisenherz), Burne Hogarth (Tarzan) oder Alex Raymond (Flash Gordon, Rip Kirby), die Comic-Klassiker schufen und Meister der Schraffur waren. An ihren Zeichnungen sieht man, dass die Linie der Standard war und Flächen partiell eingesetzt wurden. Allerdings gab es immer wieder Darstellungen, in denen Flächigkeit intensiver eingesetzt wurde, um damit kontrastreiche Dramatisierungen zu erzielen.

EC-Comics und Comic-Zeichenkunst

Visuelle Dramatisierungen konnte man vor allem in Horror-Comics finden, etwa den klassischen „EC-Comics“ der 1940er- und 1950er-Jahre in Amerika, zu denen Wally Wood viele Comicgeschichten beisteuerte. Wood war wie die Vorgenannanten ein Meister des wohl gesetzten Striches, der aber auch mit Schattenwurf und Flächigkeit experimentierte. Hier und da setzte er extrem reduzierte, scherenschnittähnliche Illustrationen ein, die an das erinnern, was Steranko und Miller später konsequenter umsetzten. Steranko hat nicht nur bei den Comics von Wally Wood viel abgeguckt. Das Vorbild für jeden Superhelden-Zeichner der 1960er-Jahre war vor allem Jack Kirby, der für seine vereinfachten, abstrahierten Darstellungen bekannt war. Wohl kein anderer Zeichner jener Zeit hat so effektiv gezeichnet, das heißt, er hat mit geringem visuellen Aufwandt ein Höchstmaß an Ausdruck erreicht. Jim Steranko hat anfangs gezeichnet wie Kirby und dabei aber auch Erzähl- und Darstellungstechniken von Will Eisner genutzt. Will Eisners Zeitungsbeilagen-Serie „Spirit“ ist ein Paradebeispiel für den Einsatz von Schwarzflächen, auch wenn Eisner ein Meister des Tusch-Strichs war, während Kirby meist nur Bleistiftzeichnungen anfertigte, die von anderen Zeichnern getuscht wurden. Jack Kirby hat dennoch eine Raffinesse beim Setzen von Flächen und der Flächen-/Strich-Kombination realisiert, die bis heute unerreicht ist.

Frank Miller und Mike Mignola

Einer, der später, nachdem Frank Miller sein „Sin City“ publiziert hatte, einen ähnlichen visuellen Pfad einschlug, ist Mike Mignola vor allem mit seiner Figur „Hellboy“ (ab 1993). Mike Mignola hat dünne Striche mit extremer Flächigkeit kombiniert und mag von Miller dabei beeinflusst sein, während Miller im Fortschreiten seiner Serie, soweit es ging, Striche vermied. Mignolas Zeichenwelt ist aber äußerst eigenständig und setzt andere Akzente in der Stilisierung als Miller. Ein Einfluss auf Mike Mignola ist ebenfalls Jack Kirby, gerade was die Anatomie seiner Figuren anbelangt.

Einflüsse auf Frank Miller

Natürlich ist auch Frank Miller von weiteren Zeichnern beeinflusst, dazu gehörte ebenfalls der unvermeidliche Jack Kirby aber vor allem Neal Adams, der Miller am Anfang seiner Karriere betreut hat, indem er seine ersten Zeichnungen kritisch gewürdigt hat. Miller hat phasenweise beim Franzosen Jean Giraud/Moebius seine Inspiration gesucht oder beim Japaner Goseki Kojima (bei dessen Serie „Lone Wolf and Cup“). In diesem Spannungsfeld zwischen Linie und Fläche ist Frank Millers eigenes Artwork beheimatet. Er ist in der Varianz seiner Möglichkeiten dabei weiter gegangen als jeder andere amerikanische Comic-Zeichner.

Comiczeichnen mit Linie und Fläche

Dass jeder Zeichner auch mit Fläche und Schatten experimentiert, mit dramatischen Gegenlichtaufnahmen oder Vereinfachungen, ist ein Allgemeinplatz. Doch Miller ist visuell ein höchst intelligenter Zeichner, einer der wandlungsfähigsten und offensten, und das gilt bis heute. So ist nicht von der Hand zu weisen, dass Frank Miller bereits bei „Daredevil“ seine visuellen Möglichkeiten ausgetestet und erweitert hat. Er hat in dieser ersten wesentlichen Serie bereits auf die spätere Vereinfachung und Flächigkeit von „Sin City“ hingesteuert. So scheint beides richtig zu sein: Jim Steranko hat „Sin City“ zu einem guten Teil stlistisch vorweggenommen, andererseits strebte Frank Miller seit längerem immer wieder der extremen Vereinfachung entgegen – zwei Lebenslinien zweier Zeichner, die zusammentrafen.

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