Man kann Kunst als das Zusammenspiel zwischen den sie erschaffenden Künstler*innen, dem Werk und den Betrachter*innen sehen. Demnach würde der Sinn oder sogar die inhaltliche Ausrichtung eines Werkes von diesem Zusammenspiel abhängen bzw. tatsächlich im Auge des Betrachters liegen.
Denn der Betrachter könnte das Werk individuell und sehr persönlich für sich interpretieren. Im Extremfall wäre das Kunstwerk nur noch der assoziationsauslösende Anlaß einer ganz eigenen Betrachtungsweise. Die Interpretation des Werkes wäre weniger werkimmanent und mehr werktraszendent. Sie hätte dann weniger mit dem zu tun, was das Werk aus Sicht der Künstler*innen thematisiert.
- Der Künstler könnte sagen: „Ich habe ein Auto gemalt, um die Geschwindigkeit des Lebens zu thematisieren.“
- Der Betrachter könnte sagen: „Das ist ein Auto, das den technologischen Wandel in unserer Kultur symbolisiert.“
- Ein anderer Betrachter könnte sagen: „Das ist ein Bild über den Eingriff der Technik in die Natur.“
Jede der Interpretationen könnte ihre Berechtigung haben, jede Sichtweise könnte durch Argumente untermauert werden. Hier spielt mit hinein, dass Kunst dazu einlädt, sie bewusst wahrzunehmen, sie zu diskutieren. Kunst ist in der Welt diskutiert oder umstritten eine inhaltlich zu formende Verhandlungsmasse wie kaum ein anderes Kulturgut.
Film als Gegenstand der Interpretation
500 Betrachter, 500 verschiedene Werke? Was passiert, wenn ein Betrachter mehr in einem Bild sieht oder etwas ganz Anderes, als das, was der Künstler beabsichtigt hat? Die Frage klingt trivial, weil die naheliegende Antwort darauf eine gewisse Offenheit nahelegt und es doch gut und schön sei, wenn ein Werk so viele unterschiedliche Menschen interessiert und in unterschiedliche Richtungen inspiriert. Was aber wäre über die folgenden zwei Fälle zu sagen?
- Beispiel 1 – simpler Inhalt oder komplexer Inhalt: Ein Künstler schafft ein Werk, das inhaltlich ein Thema behandelt, das man schon oft gesehen hat. Dabei gewinnt der Künstler dem Thema aber nichts Neues ab, was man nicht schon kennen würde. Das Werk ist oberflächlich, simpel, gar trivial. Und doch sieht der Betrachter darin große Kunst, er überhöht in sich, was er sieht, macht daraus etwas, was es gar nicht repräsentiert. Auch den umgekehrten Fall gibt es: große Kunst, die verkannt wird, die man für trivial hält, obwohl sie doch eigentlich vielschichtig ist.
- Beispiel 2 – Kriegsfilm/Anti-Kriegsfilm: Eine Regisseurin dreht einen Anti-Kriegsfilm. Der Betrachter sieht darin allerdings einen Kriegsfilm, der ihn gerade in seinen Kampfszenen fasziniert, obwohl die Regisseurin gerade mit den Kampfszenen eher abschrecken wollte. Der Film, der die Botschaft transportieren sollte, dass Krieg unmenschlich ist, wird für manche Zuschauer zu einem Film, der zeigt, wie wichtig und richtig Krieg ist.
Kann man Kunst falsch verstehen?
Jeder Künstler sagt sich mit seiner Kunst selbst etwas. In der Installations-Kunst von Josef Beuys war Fett ein viel verwendetes Material – allgemein als Symbol für Energie, als ein Energieträger und ein Energie-Vermittler. Man könnte ergänzen: Ein Symbol für Lebensenergie, für Wärme und Schutz, die ein Leben sichern und retten können. Wie nimmt jemand, der nie etwas von Josef Beuys gesehen oder etwas über ihn gelesen hat, dieses eingesetzte Fett wahr? Sich mit der Beuysschen Kunst auseinanderzusetzen lohnt – aber was, wenn jemand das ganz anders versteht oder gar nicht versteht? Man kann Kunst also auch „falsch“ verstehen, oder sollte man sogar?
Kunst als Wahrnehmungs-Übung
Man könnte die Position gegenüber der Kunst einnehmen, dass sie für den Betrachter als Wahrnehmungsschule hinterfragt, wie man wahrnimmt und was man in der Welt wofür hält. Sehen sich etwa zwei Autoexperten ein Auto an, fachsimeln sie beispielsweise über Motorleistung, aerodynamische Eigenschaften oder das Fahrverhalten des Vehikels. Sehen sich zwei Menschen ein Bild an, unterhalten sie sich darüber, wie sie das Bild wahrnehmen, wie und was sie dabei empfinden. Bei abstrakten, nicht-gegenständlichen Darstellungsformen geht es sogar um die Frage, was man in dem Bild sieht. Dies kann ähnlich wie bei einem Rorschach-Test völlig voneinander abweichen und auch im Bereich der Beliebigkeit angesiedelt sein. In der Kunst geht es also viel weniger als im alltäglichen Leben darum, gemeinsam von etwas auszugehen. Das kann zwar der Fall sein, wenn zwei Menschen vor einem Kunstwerk stehen und es genau gleich wahrnehmen aber in der Regel weichen Wahrnehmungen voneinander ab und geben Anlass zum Fachsimpeln, zum Über-die-Kunst-reden. Davon ausgehend mag es eine Triebfeder des Kunstprozesses von der Entstehung der Kunst bis zu ihrer Wahrnehmung und Besprechung sein, Wahrnehmungsdifferenzen aufzudecken und sie zu thematisieren.
Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit
So gesehen gehört es zur Kunst, sie „abweichend“, „anders“ oder „falsch“ wahrzunehmen. Wie sehr das einzelne Kunstwerk etwas Eindeutiges oder Vieldeutiges verkörpert, ist eine interessante Frage. Denn man könnte Kunst als einen Betrachtungsgegenstand ansehen, der nicht eindeutig sein darf, der vielschichtig und mehrdeutig sein muss. Dies impliziert, dass es die eine Aussage über Kunst nicht geben kann. Andererseits werden sich aber auch zwei Autoexperten, die sich über ihr ideales Auto unterhalten, mutmaßlich nicht einig sein. Und so betrachtet sagt Kunst etwas über die Relativität und Interpretationsfähigkeit der Realität insgesamt aus – aus einer Position der Nicht-Alltäglichkeit heraus, aus einer Position der Funktionslosigkeit für den Alltag, als reiner Betrachtungs- und Wahrnehmungsgegenstand, der dazu einlädt, das Gesehene zu empfinden, zu bedenken und zu vergeistigen.