Wenn schon die Wahrnehmung der Welt schmerzt oder leidvoll ist, noch bevor man einen Gedanken an den Irrwitz der Welt verschwendet hat, liegt die Kunst schnell nah. Aber warum muss Kunst immer so negativ sein, warum zeigt sie nicht mal etwas Schönes? Weil der röhrende Hirsch, der dem Jäger so gefallen mag und ein direkter Nachfahre der Höhlenmalerei ist, keine Kunst sondern eine handwerklich gefertigte Illustration zur Jägerstimulation und Selbstbild-Stabilisierung ist. Im Normalfall ist das Hirschmotiv also nicht mehr als ein illusionärer Gebrauchs- und Erlebnisgegenstand ohne weitere inhaltliche Dimension. Kunst aber sollte mehrdimensional sein.
Kunst als Leidensausdruck
Kunst zu schaffen ist eine Bewältigungsstrategie. Bewältigt werden Probleme, Neurosen oder das nutzlose Sein in der Welt ansich. Kunst heilt Wunden bzw. lässt sie zumindest hoffentlich nicht größer werden. Sie hilft zu ertragen, was sonst nicht zu ertragen wäre. Also würde es unnütz sein, dem Schönen in der Welt zu frönen, weil dadurch nichts besser werden würde. Im Gegenteil: Wem es schlecht geht und wer umgeben wäre von zu viel künstlerisch erzeugter Schönheit, die nicht verbergen wollen würde, dass sie nur oberflächlich ist, den würde sie angesichts der selbst empfundenen Hässlichkeit weiter demotivieren und in Mitleidenschaft ziehen, weiter niederdrücken und in seiner Sichtweise der Ausweglosigkeit des Menschseins schließlich weiter an den Abgrund ziehen.
Bewusstsein und Ausdrucksstärke
Dahinter steckt wenig überraschend das menschliche Schicksal ansich: Mit einem Geschwür, das sich Bewusstsein nennt, auf die Welt geworfen, muss der Mensch hilflos mit ansehen, wie er wächst, für kurze Zeit erblüht, um sich danach den Rest seines Lebens bis ins hohe Alter vorzumachen, immer noch jung, attraktiv und unsterblich zu sein. Das und vieles mehr will ausgedrückt und in eine Botschaft gekleidet sein. Wer dies tut, muss besonders leiden, nur dann ist er für das richtige Maß an Ausdrucksstärke prädestiniert.
Kunst als Leidenssprache
Folgerichtig führt die Leidenserfahrung zur Abbildung und Spiegelung des eigenen Geistes in der Kunst. Das durchzieht alle Bereiche der Bildenden Kunst. Man findet das Leid und das Leiden in Bildern, Filmen, Texten und in der Musik. Nur wer leidet, hat etwas durch einen starken Ausdruck zu sublimieren und zu verarbeiten. Wer tumb auf der Sonnenseite des Lebens beheimatet ist, wird das nicht nötig haben und unbemerkt von innen heraus verfaulen. Für Künstler*innen aber gilt weiterhin:
- Leidensfähigkeit ist die Währung, mit der Künstler*innen ihr Tasten nach der Wirklichkeit bezahlen.
- Sensibilität ist die Voraussetzung für die richtige Justierung und Ausrichtung des Kunstprozesses.
- Wahrgenommen werden ist schließlich hoffentlich die Folge des ganzen Aufwandes.
Kulturelle Leidens-Abbilder
Im besten Fall bilden Künstler*innen ihr Leid kongenial ab, und indem sie eine Form für das Unaussprechliche gefunden haben, bewältigen sie Ursachen und Folgewirkungen ihres Leidens, um es abzumildern. Je größer das Leid jedoch ist, desto größer ist die Chance, dass Kunst einen radikalen Ausdruck findet. Nicht mal ein Jahrzehnt schwülstig-opperettenhafter Rockmusik hatte in den 1970er-Jahren endlich zur brachialen 3-Akkord-Punkmusik geführt, die einem Urschrei geglichen hatte. All die schmerzhafte musikalische Langatmigkeit, mit der Art-Rocker kaum erträgliche Langeweile über die Menschheit gebracht hatten, fand nun ihr explosives Ende. Oder Michel Houellebecq, der 1994 mit seinem Roman-Erstling „Ausweitung der Kampfzone“ eine Art persönlich-intimen Offenbarungseid verfasst hatte. Indem er sich selbst innerhalb des kapitalistischen Systems als unattraktiv werttos darstellte, sezierte er unmenschliche Mechanismen des Kapitalismus. Denn der Kapitalismus hat selbst Liebe zur Ware und Liebesbeziehungen kalt zu einem zu taxierenden Austauschprozess degradiert. Für das Eingeständnis der von ihm selbst empfundenen Wertlosigkeit wurde er von der ahnungslosen Literaturwelt ebenso gefeiert wie vor ihm Thomas Bernhard, der nicht nur sich selbst einen erbarmungslosen Spiegel vorgehalten hatte sondern gleich der gesamten österreichischen Gesellschaft. Der Treibstoff beider Literaten ist die persönliche Leidenserfahrung.
Visueller Sinn und Tastsinn
Wer sensibel Reize verarbeitet, stumpft im Laufe der Zeit ab. Sensibiliät ist wie eine Feinjustierung auf einer Wahrnehmungs- und Umsetzungs-Skala, die sich auf die Sinne und die Motorik gleichermaßen bezieht – wobei zwischen Sinnen und Motorik ein untrennbarer Zusammenhang besteht. Sinne und Mororik sind durch die Impulsübermittlung der Nervenbahnen miteinander verbunden. Eine besondere Rolle bei der Wahrnehmung kommt den Augen als visuellem Sinn zu, eine weitere Funktion als Mittler zwischen Wahrnehmung und Motorik hat bei Matern oder Zeichnern der Tastsinn der Finger. Im Kunstprozess des Malens oder Zeichnens lernen Künstler*innen in einem fortwährenden Rückkopplungsprozess zwischen Motorik und Sensorik ihre Arbeiten zu verfeinern. In der Verfeinerung aber wird das Leid sowohl differenzierter empfunden als auch dargestellt.
Irrwitz und Kunst
Wahrnehmung vergröbert sich im Laufe des Menschenlebens zwangsläufig nicht nur durch die natürliche Regression sondern auch, weil die schmerzhafte Feinheit allzu großer Sensibilität nicht aufrechtzuerhalten ist. Je höher der Grad der Sensibilität, desto höher die Wahrscheinlichkeit, etwas zu erspüren, das ansonsten kaum sichtbar oder erfahrbar wäre. Eine zunehmend unüberschaubare Zahl an Eindrücken ist die Folge – Eindrücke die verarbeitet und bewältigt werden müssen. Wird die Informations- und Assoziationsflut zur Flutwelle oder gar zum informationellen Tsunami, dreht der in Mitleidenschaft gezogene entweder durch oder wird ein weltberühmter Künstler.
Sensibilität und Überreizung
Sensibilität erscheint so auch als die Möglichkeit, dem Unterschwelligen oder Unsichtbaren nachzuspüren. Doch letztlich bedarf Überreizung und Überreizbarkeit der Abmilderung und Abstumpfung. Denn zwei Wege scheinen für Künstler*innen möglich: Sich an die verfeinerte Wahrnehmung und die damit verbundene Leidenserfahrung zu gewöhnen oder das Leid durch Abstumpfung zu mildern. Die Welt durch einen dämpfenden Schleier wahrnehmen zu dürfen, scheint ein gangbarer anderer Weg, an dessen Ende sich ein immer enger werdender Korridor anschließt, der in einem Schreckensraum endet, in dem eine Gemälde-Ausstellung röhrender Hirsche als Motivik zelebriert wird.