Was ist abstrakt gesehen das Spannendste, das Begehrenswerteste, das Bewusstseinserweiternste und zudem die Erfüllung mancher Träume, obwohl man an deren Erfüllung vielleicht nie geglaubt hätte? Es ist: Das Neue. Das wirklich Neue ist unerwartet, überraschend – weil es eine Idee oder mehrere Ideen beinhaltet, die fast zu schön sind, um wahr zu sein.
Denn so einfach ist das: das Neue ist oft einfach eine überzeugende Idee, die das über den Haufen wirft oder zumindest in Frage stellt, das man bisher gewohnt war. In der Bildenden Kunst geht es um neue Inhalte, neue Formen und eine neue Art, sich auf Gewohntes – das Alte – zu beziehen. Das Neue muss nicht zwangsläufig eine völlig neue wirklich kreative Idee sein, und nur durch den Umstand, dass es neu ist, muss es nicht zwangsläufig relevant sein.
Vordenken und nachbeten
Eine Idee kann alt oder neu sein und mancher sieht darin den Unterschied zwischen gut oder schlecht. Vieles in der Kunst ist nicht lediglich beeinflusst oder inspiriert durch bestehende Kunst sondern ist mitunter eine simple Paraphrase des Bestehenden. Das gilt gleichermaßen für Künstler, die sich selbst kopieren und damit wiederholen oder für solche, die künstlerisch mit der Mode gehen und damit nachempfinden, was andere bereits vorempfunden haben. Auch einem Vorbild gemäß seine Kunst zu gestalten, ist weit verbreitet.
Nichtssagend und allwissend
Manchmal ist gerade ein technisch hervorragender Künstler inhaltlich nichtssagend und es fehlt geradezu an neuer Bedeutsamkeit, die man noch nicht gekannt hat und nach der man sich sehnen würde. Schaut man genau hin, sieht man, dass die Kunst ein Reaktionsmedium ist: Künstler*innen reagiern auf die Welt, auf das Werk anderer Künstler*innen und auch auf eigene Ideen, die im bisherigen Werk realisiert sind. Kreativität ist so betrachtet nicht ein einzelner Punkt sondern eine Kette von Ereignissen, die weitere Ereignisabfolgen inspiriert. Kreativität in der Kunst ist als Prozess zu betrachten, der sich in Wahrnehmungsnetzwerken vollzieht. Auch Künstler*innen, die abgeschottet agieren, haben einen Bezugsrahmen für ihr Tun.
Diebstahl, Raubkopie und Neuentwurf
Sich aber inspirieren zu lassen, etwas toll zu finden, sich an etwas zu orientieren, verleitet zur Paraphrase, die so nahe liegt. Deshalb ist Kunst wie andere Kulturbereiche auch ein Ort des Leihens und Stehlens. Etwa bei Künstler*innen-Gruppen, wenn es um eine gemeinsame Sichtweise der gegenseitigen und wechselseitigen Beeinflussung geht. Das ist meist zuerst eine gemeinschaftliche Grundidee, wie man die Welt, abgebildet durch die Kunst, betrachtet und welchen Ansatz man für sie sieht. Das kann zum Beispiel eine Stilistik kombiniert mit einem Abstraktionsniveau sein. Darin kann eine radikale Abkehr vom Gewohnten liegen. Man kann aber auch auf die Ästhetik vergangener Kunstepochen zurückgreifen, wie das die Renaissance getan hat und allein dadurch etwas Neues schaffen, indem man diese Retrokunst in einen neuen aktuellen Rahmen stellt. Jedenfalls kann eine neue Sichtweise, ein anderes Bewusstsein für die Welt, alle Künstler einer Gruppe oder eines Künstler-Freundeskreises beseelen und ihren künstlerischen Prozess beeinflussen. Ob das, was entsteht, dann wirklich neu ist oder einer vom anderen abguckt, ist eine Frage von eigener Vision, Selbstbewusstsein und Egoismus.
Kunst und Timing
In vielen Bereichen stellt sich aber grundsätzlich die Frage: Kann es wirklich Neues überhaupt noch geben? Und falls ja, in welchem Umfang? Sind forcierte Innovationen wie die Revolution überkommener Sehgewohnheiten im 19. Jahrhundert, etwa durch den Impressionismus (ab ca. 1860) oder den Expressionismus (ab ca. 1890) heute noch denkbar? In einer Zeit, in der man verschiedenste Wahrnehmungs-Sensationen und Tabubrüche längst gewohnt ist? Ist andererseits ein Fortschreiten der künstlerisch-ästhetischen Entwicklung dennoch nicht zwangsläufig und unaufhaltsam, weil Wahrnehmung der Welt und die künstlerische Reaktion darauf nie aufhört?
Gibt es das Neue in der Kunst noch?
Mit der fortwährenden Entwicklung einer Kultur scheinen deren Möglichkeiten bezogen auf einen grundlegenden Formenreichtum irgendwann tendenziell ausgereizt. Wenn die Menschheitsgeschichte also alle Grund-Formensprachen durchdekliniert hat, was bleibt dann? Danach beginnt eine Mix-Dekade oder Remix-Dekade, die collagenhaft mit Versatzstücken vergangener Epochen und Stil-Phasen arbeitet und diese immer schneller immer wieder neu kombiniert. Ab da ist der Zusammenhang, in dem diese Kunst auftaucht, das immer wieder Neue. Zudem ist zu beachten, welche Kombinationen künstlerischer Versatzstücke jeweils welche Aufmerksamkeitswerte der sie rezipierenden Gesellschaft bringen. Mit fortschreitender Zeit wird aber die nächste Kunst unter Umständen der Mix des Mixes des vorherigen Mixes. Darin kann man sowohl eine Abnutzungserscheinung als auch einen neuen Reiz erkennen.
Der Einfluss der bestehenden Kunst
Ähnlich verhält es sich mit dem Bezug der Kunst zur gelebten Realität: Wäre man der/die erste Künstler*in auf der Welt, der/die je existiert hätte, würde man keinerlei künstlerische Vorbilder haben und die Realität und die eigene Reaktion darauf wären der Nährboden dieser Kunst. Das heißt, es gäbe keine Kunstwelt und deren Strömungen, die einen selbstreferenziell beeinflussen könnten, und es gäbe keine virtuelle oder anders geartete Zweitrealität, auf die man reagieren würde. Ab da, also nach dem Wirken erster Künstler*innen, könnten nachfolgende Künstler*innen sich aber theoretisch nicht nur primär auf ihr Leben beziehen, sondern auf eine Kunst, die davor bestand oder in der Gegenwart besteht. Das heißt, neben dem eigenen Leben und den damit einhergehenden Wahrnehmung, neben dem eigenen Ich und seinen Befindlichkeiten, das diese Wahrnehmungen verarbeitet, gäbe es nun eine immer weiter gespannte Welt der künstlerischen Lebensäußerungen, auf die man sich bezieht. Je größer diese Kunstwelt ist und je länger sie zurück reicht, desto relevanter mag die Frage sein, wie man auf dieser Grundlage wirklich Neues schaffen kann, ohne bereits bestehende Kunst zu paraphrasieren oder nur eine weitere Collageversion der in der Kunstgeschichte vorhandenen Sekundär-Collagen zu verfertigen.
Der Einfluss virtueller Zweitwelten auf die Kunst
Je weiter moderne Gesellschaften zudem fortschreiten, desto mehr haben sie sich Alternativrealitäten verschrieben. Bestanden die in den kulturellen Anfängen in religiösen und nicht-religiösen Weltbildern, liegen sie inzwischen auch in medial erzeugten und virtuellen Welten. Das ist Einschränkung und Erweiterung zugleich. Die Einschränkung der Möglichkeiten des Neuen mag darin liegen, dass man weniger „echt“ oder „wirklich“ lebt, sondern sich zunehmend auf eine medial oder virtuell-digital erzeugte Zweitrealität bezieht. Anstatt sich also den Einfluss eines wirklichen Ereignisses aus dem eigenen Leben zu eigen zu machen und auf dieser Grundlage ein Kunstwerk zu schaffen, würde man sich auf ein Ereignis beziehen, das man in einer Fernsehserie oder in einem Videospiel „erlebt“ hat. Ob also der eigene, selbst durchlebte Liebeskummer ein Kunstwerk inspiriert und damit das Potenzial für Neues erhöht oder der Liebeskummer medial vermittelt ist und durch Schauspieler*innen vorgeführt wird, ist ein Unterschied. Dieser Gedanke schliesst andererseits mit ein, dass Kunstwelten durchaus eine Erweiterung der Inspirationswelt darstellen können, weil sie, reflektiert betrachtet, durchaus einen anderen Blick auf die real erlebte Welt werfen und für eine neue Sichtweise sorgen können. Deshalb kann das Erstarken von Zweit- und Dritt-Realitäten ein Potenzial sein, das sowohl fatal als auch erhellend wirken kann. Ob es ein Nährboden sein wird, aus dem Neues entstehen wird?
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