Abstraktion ist die Fähigkeit des Menschen, über den Einzelfall hinaus Muster zu erkennen und Modelle daraus zu machen. Anstatt zum Beispiel einen einzelnen Menschen, seine Wahrnehmung und sein Verhalten zu betrachten und zu beurteilen, entwickelt man ein Modell, das Verhalten und Wahrnehmung der Spezies Mensch insgesamt abbildet und auf seine Grundzüge reduziert. Es stellt sich für die Kunst die Frage, wie der Mensch gestalterisch-visuelle Präferenzen bildet und fortführt.
Ein solches Modell muss einerseits allgemein und damit weniger detailliert als die genaue Betrachtung eines Einzelfalls sein, andererseits ist ein solches Modell jenseits der Beliebigkeit hinreichend auszudifferenzieren. Das ist deshalb ein Problem, weil jede differenzierte Aussage eine genaue Festlegung ist. Bleibt man allgemein, ist eine Überprüfbarkeit schwierig, je differenzierter ein Modell ist, desto besser kann man es überprüfen, hinterfragen und bezüglich seiner Beweisfähigkeit kritisieren.
Mentale Modelle als Bedeutungs-Container
Tom Wujec vom 3D-Software-Unternehmen Autodesk reduziert in einem TED-Talk die Gehirnfunktion auf drei Bereiche, mit denen der Mensch für sich Bedeutung erschafft. Wujec geht davon aus, dass das Gehirn mentale Modelle als virtuelle Karte eines Objektes erstellt und bezieht sich dabei auf die Analyse von Vorträgen und deren Vortragsmethodik. Ihm geht es darum zu ermitteln, wie Wahrnehmung funktioniert und wie man mit Präsentationen in Vorträgen die Zuschauer fesseln kann, weil die dort vermittelten Inhalte den Rezipienten bedeutsam erscheinen. Man kann aus der Fähigkeit des Gehirns, Bedeutung zu erschaffen, aber noch mehr ableiten.
Visuell wahrnehmen, was bedeutsam ist
In der gelebten Alltagspraxis des Sehens geht der Mensch davon aus, dass er ähnlich zuverlässig wie eine Foto- oder Videokamera funktioniert. Was das menschliche Auge erfasst, wäre aus dieser Perspektive eine Art virtueller Film, der exakt, vollständig und detailreich ist. Doch tatsächlich legt die Hirnforschung nahe, dass die empfangenen optischen Reize lediglich das Ausgangsmaterial bilden, das vom Hirn sofort nach Relevanz gefiltert wird, bevor wir es wahrnehmen. Mehr noch, unsere Befindlichkeiten, unsere Präferenzen und Relevanzen scheinen auch Einfluß darauf zu haben, was wir überhaupt wahrnehmen wollen oder wie detailliert wir etwas wahrnehmen. Man stelle sich vor, eine Kamera würde mitdenken und sich vorher überlegen, was sie sehen will – so ähnlich wie der Modus bei der Smartphone-Kamera für lächelnde Gesichter.
Arbeitsteilige Impulsverarbeitung
Der optische Reiz gelangt in Form von Lichtstrahlen durch das Auge zunächst zum sogenannten „visuellen Cortex“ (= „Sehrinde“) innerhalb der Großhirnrinde des Gehirns, der als Teil des visuellen Systems Grundlage der visuellen Wahrnehmung ist. Dort, im primären visuellen Cortex, werden sehr schnell zunächst grundlegende Formen und Geometrien wahrgenommen. Die empfangenen Impulse leitet der visuelle Cortex ausserdem an zahlreiche andere Hirnareale weiter, die jedes auf seine Weise dem Gesehenen eine Bedeutung zuweisen. Tom Wujec sieht von etwa 30 verschiedenen Analysezentren drei als sehr wesentlich an.
- Wie eine Suchmaschine: ventraler Fluss als Definitions-Zentrum – Der sogennnte ventrale Fluss ist das erste Hirnareal, das für das Schaffen von Bedeutung wichtig ist. Es hat lexikalische Funktion und sagt dem Menschen, was das ist, was er gerade sieht. Wer Begriffe bildet oder zuordnet, nutzt dieses Areal.
- Wie ein Routenplaner: dorsaler Fluss oder wo ist etwas? – Der dorsale Fluss verortet das Gesehene. Er kreiert eine virtuelle Karte und ordnet Elemente und Objekte der Räumlichkeit zu. Bedeutung ist hier im dreidimensionalen Raum durch Abstände und Größenverhältnisse zu verstehen.
- Gefühlszentrum mit langer Vergangenheit: das lymbische System – Hier werden Bilder gesehen, gedacht und vor allem gefühlt. Das lymbische System erzeugt Bedeutung, indem es dem Gesehenen Gefühle zuordnet.
Wichtigkeit, Relevanz. Affinität
Diese drei und viele andere Hirnareale tragen dazu bei, dem Gesehenen Wichtigkeit, Relevanz und emotionale Affinität hinzuzufügen. Das Gehirn bewertet also permanent, was es wahrnimmt, wobei hier beispielhaft nur das visuelle System betrachtet wurde. Tatsächlich ist die Kopplung mit anderen Sinnesreizen wie dem Gehör oder dem Tastsinn wichtig, weil so komplexere mentale Bewertungsmodelle entstehen. Die Leistung des Gehirns bei der Wahrnehmung insgesamt ist eine Selektion in interessant oder uninteresant, in wichtig oder unwichtig, in relevant oder irrelevant. Das Gehirn erscheint somit als Bewertungs- und Selektionsorgan, was für Kategorien wie zum Beispiel „Überleben“ oder „Zielerreichung“ unerlässlich ist. Somit wird das Gehirn zur Entscheidungsmaschine, die Strategien erst ermöglicht, indem es wertet. Wertung und damit ein Höchstmaß an Subjektivität ist ein höchst individueller Vorgang, der auch jeder Kunst inne wohnt, die eine Position zur Welt einnimmt. Dabei ist nicht zu vergessen, dass das Gehirn lernt. Gemachte Erfahrungen beeinflussen den Filter, der wahrgenommene Eindrücke aussiebt.
Kunst, Bedeutung, Wahrnehmung
Kunst spielt mit den Möglichkeiten der Wahrnehmung wie auch der Bedeutung. Kunst holt den Betrachter aus seinem Universum der gefilterten Eindrücke und konfrontiert ihn mit anderen Eindrücken und Weltbildern. Man Kann Kunst als Sprache der Bedeutungen ansehen, die Bedeutsamkeiten in der Welt wie auch selbstreflexiv die eigene Bedeutung hinterfragt.
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