Das Abnehmen der institutionalisierten Religiösität in Deutschland hat verstäkt durch Web-Viralität andere Glaubenssysteme erstarken lassen. Nach (Jugend-)Sekten stehen nun Verschwörungstheorien und Trump-verherrlichende Verschwörungserzählungen wie QAnon im Zentrum des Taumels der Orientierungslosen.
So scheint die radikale, nicht faktenbasierte Auffassung von erdachten Verschwörungen eng gekoppelt an ihre Verbreitung über das Internet als Medium der Wahl zu sein – gerade für die persönliche Triebabfuhr über Hassbotschaften, die gut mit den schrägen Glaubensbekenntnissen korrespondieren.
Die Verschwörungserzählung als Heilslehre
Zumal die Verschwörungstheorie als Gruppenzugehörigkeits-Mechanismus ständig nach Aufmerksamkeit verlangt. Denn der Bezugs-Gruppe zu beweisen, wie sehr man ein Gläubiger ist und wie sehr man dadurch die Ziele der Gruppe verinnerlicht hat, ist eine starke Motivation. Der abstruseste Verschwörungstheoretiker erscheint wie ein Jünger, der eine heilsbringende Botschaft mit politischer Sprengkraft verbreitet.
Fake-News und Glaubenssystem
Bei der Verschwörungstheorie als Glaubenssystem lässt sich ein entscheidender Unterschied zu manch anderem Glaubenssystem erkennen: Verschwörungstheorien sind fatalistisch und abgründig. Sie sind Zerrbilder des Ausgeliefertseins, monströse Denkgebäude oft als Begründung für das eigene Scheitern oder das Ausgestoßensein, wie bei Eva Herrmann oder Ken Jebsen, die von ihren Arbeitgebern geschasst wurden und danach zum informationellen Kreuzzug aufbrachen. Gekränkte Eitelkeit und narzisstische Wunde? Mediale Aufmerksamkeit scheint da ein gutes Beruhigungsmittel für ein infantiles Aufmerksamkeitsdefizit.
Institutionalisierte Verantwortungslosigkeit
Weltverschwörungs-Theoretiker agieren, als wollten sie Begründungen dafür finden, dass sie für ihr Leben keine Verantwortung mehr übernehmen können. Das erscheint in Form einer fiktionalen Erzählung, die aber wie ein Sachtext verkauft wird. Andererseits produziert die moderne ökonomische Demokratie-Gemeinschaft immer mehr Krisen und Ungerechtigkeiten, die dem Individuum seine Eigenverantwortung wie einen Teppich unter den Füßen wegziehen – ein idealer Nährboden für toxische Verschwörungsgewächse.
Donald Trump und Jordan Peterson
Verschwörungstheorien korrespondieren mit einem Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit, das in Wut und Hass mündet. Sie reden eine Gefahr herbei, und bilden eine Schnittstelle zum Selbst-Hass, auf den Staat oder andere ihn repräsentierende Institutionen. Und Verschwörungstheorie-befördernde Multiplikatoren wie Donald Trump konstruieren aggressiv eine hasserfüllte Welt und reichern sie durch frei erfundene Behauptungen immer weiter an. Andererseits überzeugt der kanadische Psychologe und Medienstar Jordan Peterson seine verunsicherten Fans durch scheinbar durchdachte Aussagen. Wobei Peterson, der sich als Wissenschaftler geriert, gerne seine Privatmeinung im Mantel wissenschaftlicher Seriösität und Autorität verbreitet – gegen Feminismus und für eine autoritär-maskuline Politik.
Jordan Peterson contra Slavoj Žižek
Gerade an Jordan Peterson sieht man, dass ein Fakten-ignorierendes Glaubenssystem auch von einem denkenden Menschen gelebt werden kann. Der Glaube oder auch der Glaube an eine Verschwörung ist ein Instrument der Identitätsstabilisierung. So können auch intelligente Menschen glauben, sogar an nur scheinbar existente Verschwörungen. Peterson argumentiert immer wieder, dass das nordamerikanische universitäre System von Linken, postmodernen Neo-Marxisten, unterwandert sei. In einem Talk zwischen Jordan Peterson und Philosoph Slavoj Žižek stellt Žižek Peterson die Frage, ob er ihm denn Namen postmoderner Neo-Marxisten an den Universitäten nennen könne. Peterson kann es nicht. Er nennt zwei Institutionen und sagt allgemein, ohne eine Quelle dafür anzugeben, es würde gesagt, dass 25% der Sozialwissenschaften links dominiert seien. Selbst wenn es so wäre, wären aber 25% der sozialwissenschaftlichen universitären Einrichtungen nicht gleichbedeutend mit einer flächendeckenden Unterwanderung aller Universitäten in den USA, die Peterson behauptet.
Hassprediger in Amerika
Der Übergang vom Hass oder vom Paranoiden zur kompletten Verschwörungstheorie ist fliessend, sowohl bei Donald Trump als auch bei zahlreichen rechtslastigen Medienfiguren wie etwa bei Ex-Trump-Berater Stephen Bannon oder bei politischen Kommentatoren wie Ben Shapiro, Rush Limbaugh, Candace Owens und anderen in Amerika. Bei fortwährend verhärteten politischen Diskussionen ist prinzipiell zweierlei denkbar: ein fruchtbarer Dialog, bei dem man sich verbal angeht aber dennoch respektiert, oder ein persönliches Herabwürdigen und Verteufeln des Anderen und dessen Position, ohne an einer Verständigung interessiert zu sein. Dabei ist auffällig, dass die eine oder andere dieser Medienfiguren offenbar psychische Probleme hat. Hier sei nur auf Alex Jones im Podcast von Joe Rogan verwiesen, in dem Jones vielsagend sein Innerstes nach außen kehrt.
Ursachen für die Verschwörungs-Theorie-Konjunktur
Die Gründe für die Konjunktur der Verschwörungs-Erzählungen sind vielfältig. Es ist bekannt, dass Verschwörungstheorien immer in Krisenzeiten erstarken. Das war zum Beispiel vor beiden Weltkriegen der Fall. Dass jede Krise einen Schuldigen sucht und dass Krisen Minderwertigkeitsgefühle, Ängste und Paranoia schüren, liegt auf der Hand. Wo Sicherheit und Orientierung wenig greifbar sind, erscheinen Negativ-Erzählungen, die geheimnisvolle Strippenzieher präsentieren, besonders attraktiv. Einige wesentliche Ursachen für das Aufkeimen des Verschwörungstheorie-Phänomens sind:
- Echtzeit-Vernetzung: Das Internet als Meta-Medium hat unsere Kommunikationsformen verändert. Was früher hinter vorgehaltener Hand eher defensiv geäußert wurde, wird nun expressiv in die Welt hinaus posaunt, wird dramatisiert und aufgebläht – und das in Echtzeit.
- Medienwirklichkeit: Nur das Dramatische, das Sensationelle zählt in der Medienwirklichkeit und wird besonders intensiv wahrgenommen – ein Prinzip, das Verschwörungstheorien in Form von Mega-Negativnachrichten kultivieren.
- Reaktion auf die Wissensgesellschaft: In einer Welt des zunehmenden Wissens, das Unübersichtlichkeit schafft, ist die Sucht nach dem Geheimnis besonders ausgeprägt. Wo immer mehr Wissen den religiösen Glauben verdrängt, etablieren sich neue Glaubens-Formen. Dabei hatte Glauben noch nie etwas mit Wissen oder Fakten zu tun, denn alles lässt sich glauben. Was jenseits der Fakten als relevant erscheint, entscheidet dann die Gruppenzugehörigkeit.
- Ökonomische Hoffnungslosigkeit: Die Polarisierung der Finanzmittel zwischen Arm und Reich beraubt den Menschen des eigenen positiven Selbstbildes. Das führt in der Krise oder der empfundenen Krise zur Identifikation mit der Destruktion. Irrationalität verdichtet und institutionalisiert sich in alternativen Glaubenserzählungen, denen eine dramatische Bedrohung innewohnt. Es geht um Geheimnisse, um sensationelle Lügen und Scheinwirklichkeiten. Eine Verschwörungserzählung als vermeintliches Geheimwissen lässt den Verbreiter interessant erscheinen.
- Die gealterte Demokratie: In unserer Gesellschaft gab es seit jeher ein Miteinander und Gegeneinander des Wirtschaftssystems „Kapitalismus“ und des politischen Systems „Demokratie“. Inzwschen hat sich das System etwas überlebt. Korruption greift um sich, Partei- und Wirtschaftsinteressen stehen oft über den Interessen des Gemeinwohls und führen zu Ungerechtigkeiten. Das hat das Vertrauen mancher Bürger in ihre Gesellschaft erschüttert.
- Die psychisch kranke Gesellschaft: Die Leistungs- und Konsumggesellschaft, die zunehmend einige Wenige belohnt und Druck auf die Masse erzeugt, zieht zunehmend psychische Erkrankungen wie Depressionen nach sich. Eine in Teilen verarmte, traurige und psychisch belastete Gesellschaft sublimiert ihre abgründigen Gefühle in bedrohlichen Negativ-Geschichten. Man sieht am amerikanischen Präsidenten etwa, der Vorbild sein sollte, wie er ein Zerrbild an Menschlichkeit kultiviert, eine Vision des destruktiven Gegeneinanders. Was mag dies über seine psychische Verfassung aussagen? Und was über die der Nation, der er vorsteht?
Die irrwitzige Wirklichkeit
Neben der webbasierten Paranoia-Gesellschaft allerlei bunter Verschwörungs-Behauptungen bietet die tatsächliche Welt aber sowieso genügend Irrwitz:
- Da ist die ehemalige westliche Führungsmacht Amerika, die mit einem Präsidenten an der Spitze, der der Comic-Kunstfigur Joker sehr nahe kommt, seine Nation wahlweise von der Demokratie zur Autokratie oder in den Bürgerkrieg führen will;
- Da ist der Warner Edward Snowden, der gezeigt hat, dass der Geheimdienst NSA die ganze Welt überwacht und sich in menschenverachtenden Allmachtsphantasien ergeht;
- Da sind Internetkonzerne, die George-Orwell-mässig weltweit Bürgerrechte mit Füßen treten, indem sie mit Tricks die Privatsphäre von Milliarden Bürgern finanziell ausschlachten;
- Oder da ist China, das einen monströsen Überwachungsstaat installiert und das ganze Volk der Uiguren in Konzentrationslager steckt.
Willkommen in einer Wirklichkeit, in der es immer schwerer wird, eingebildete Verschörungstheorien von echten Verschwörungen zu unterscheiden.
4 Responses to “Virtual Reality real: Die Verschwörungstheorie als Glaubenssystem der Verlorenen”
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