„Ein Künstler muss die Systeme niederreissen, die den Geist zähmen.“ Das hat der französische Comiczeichner Moebius (bürgerlicher Name: Jean Giraud) einst gesagt. Wer sehr viel zeichnet und sich darüber ausdrückt, den kann es mit der Zeit bedrücken, nach den Szenarien eines anderen zu zeichnen. Jean Giraud alias „Moebius“ hat schon in jungen Jahren als Assistent des etablierten belgischen Comicpioniers Joseph Gillain alias Jijé am Western „Jerry Spring“ gearbeitet. Danach kam mit „Leutnant Blueberry“ die eigene Comicserie als Dauerbrenner, der auch heute noch, 7 Jahre nach dem Tod von Jean Giraud, von anderen Autoren und Zeichnern fortgeführt wird.
So schön es ist, als Comicschaffender einen „Dauerauftrag“ in Form von erfolgreichen Serien-Abenteuern zeichnen zu dürfen, so einschränkend und ermüdend ist die stetige Arbeit, die letztlich in Langeweile münden kann und einen Freigeist und Könner wie Jean Giraud bald nicht mehr herausfordern konnte. Erst sein Alter Ego „Moebius“ durfte immer wieder neue Welten erkunden, die scheinbar grenzenlos waren. Die „Moebius“-Ausstellung des Max Ernst Museums in Brühl zeigt noch bis zum 29.03.2020 die wesentlichen Elemente des Moebius-Zeichen-Kosmos und seiner Symbolwelt. Als bisher umfangreichste Ausstellung von Moebius-Werken in Deutschland bietet sie eine einmalige Gelegenheit, dieses bedeutende Werk surrealistischer Comics kennenzulernen.
Formensprache der Symbole
Vielleicht wollte Jean Giraud ausbrechen und ein anderer werden. Er hat in seinem Zeichnen nach einer Bedeutung gesucht, die er in den Szenarien anderer Autoren – wie in den Texten seines Kooperationspartners Jean-Michel Charlier für „Leutnant Blueberry“ – nicht gefunden hat. Eigentlich ist genau das er Ausgangspunkt für einen Zeichner als Künstler: die eigene Formensprache zu finden und dabei einen Symbolkosmos zu schaffen. Das Leitmotiv im Werk von Moebius setzt sich aus sehr unterschiedlichen Elementen zusammen. Man könnte sie in die vier Bereiche „Menschen/Tiere“, „Objekte“, „Orte“ und „Zustände“ unterteilen.
Symbolwelt „Menschen/Tiere“
Die Menschen in den Moebius-Geschichten sind einerseits Reisende, die in phantastischen Welten unterwegs sind, und andererseits ist da Moebius, der als Figur in manchen seiner Comics selbst auftritt. Der Reisende ist ein Symbol der Freiheit und Unbeschränktheit. Diese Polarität des oft geheimnisvollen ernsthaften Protagonisten und auf der anderen Seite des eigenen Selbst in Karikaturenform bildet in den Comic-geschichten von Moebius einen Spannungsbogen. Neben den Menschen oder Außerirdischen werden die surrealen Welten auch von zahlreichen Tieren und Pflanzen bevölkert, die immer wieder wie in „Arzach“ eine große Rolle spielen. Der große graue Flug-Vogel (von dem man eigentlich nicht genau weiß, ob nicht er „Arzach“ heißt) aus den „Arzach“-Geschichten taucht auch in der „Incal“-Saga wieder auf oder etwa in den Bänden „Le Major“ oder „Inside Moebius“. Übrigens hat den detailliert-spielerischen Umgang von Moebius mit dieser fremden Fauna und Flora George Lucas auf seine Star-Wars-Filme übertragen. Seine gesamte Serie ist nicht nur mit besonderen menschlichen oder menschenähnlichen Wesen sondern auch mit exotischen Tieren bevölkert. Moebius hat seinen Welten eine Exotik und Fremdartigkeit auch über sein tierisches und pflanzliches „Personal“ verliehen.
Symbolwelt „Objekte“
Mit das Prägendste der Moebius-Comics ist die Kleidung, ein Umstand, dem der Zeichner/Autor nicht zuletzt verdankt, dass er etwa die Raumanzüge für den Film „Alien“ entwerfen durfte oder für „Tron“ und „Das 5. Element“. Die Figuren seiner Comics tragen oft den Kopf symbolhaft erweiternd oder vergrößernd Helme, nach oben hin ausladende Kapuzen oder sonstige Kopfbedeckungen. Oft sind als Schuhe indianische Mokassins oder von der indianischen Kultur inspirierte Kleidung zu sehen. Ein anderer Bereich der typischen Moebius-Objekte sind schwebende Kristalle, Felsen oder Steine. In dieser Symbolwelt schwebender Objekte zeigt sich ein weiteres Mal Freiheit und Unbeschränktheit symbolisiert. Die Art der Bekleidung macht aus exotischen Lebewesen automatisch „Ureinwohner“, deren Existenz so wie selbstverständlich erscheint, was die Welten konsistent erscheinen lässt. Die seltsamen Kopfbedeckungen – oft genug als in die Kleidung integrierte Teilverhüllung – unterstreichen das meditative und spirituelle Element der Handlung. Es scheint fast so, als ginge es hier hauptsächlich um echte „Kopfarbeit“.
Symbolwelt „Orte“
Die Orte der Handlung sind meist ausladende, weite, leere Flächen – in der Regel Wüstenlandschaften – die mit abgeschlossenen, begrenzten Räumen kontrastiert werden. In „Le Major“ findet der Reisende in einer Wüste ein rechteckiges, karges Haus vor, in diesem räumlichen Widerspruch vollzieht sich der Fortgang der Geschichte. Die Weite der freien Fläche, deren Begrenzung man immer nur am Horizont sieht, trifft auf enge Räume. Auch hierbei geht es um die Symbolisierung von Freiheit und Gefangensein. Die grundsätzliche Auflösung der Moebius-Geschichten ist denn so auch ein Befreiungsakt.
Symbolwelt „Zustände“
Zwei Zustände findet man in den Comics von Moebius immer wieder vor. Zum einen Form-Metamorphosen, in denen sich etwas in etwas Anderes – meist Surreales – verwandelt. Zum anderen sind die handelnden Personen mit Ungewissheiten konfrontiert, die in der Fremdartigkeit des Surrealen wurzeln. Das können fremde Wesen oder Orte sein, andere Zeiten, Anachronismen oder virtuelle Welten. Ein typischer Zustand ist zudem das Fliegen oder Schweben, das betrifft nicht nur die oben genannten Objekte, sondern auch Menschen oder fremde Wesen. Vieles in den von Moebius kreierten Welten wird deshalb aus der Vogelperspektive betrachtet. Die Metamorphosen sind eine Relativierung der Wirklichkeit nach dem Motto „Alles kann alles sein“. Sie symbolisieren die Freiheit als Ort unendlicher Möglichkeiten, und tatsächlich ist dadurch wohl kein anderer moderner Comic-Zeichner neben Alex Nino so weit in die Surrealität vorgedrungen wie Moebius. Das Symbol der Ungewissheit symbolisiert die Schattenseite der Freiheit, nämlich die Angst vor dem Ungewissen. Dinge schweben zu lassen ist ein interessantes Mittel, alltägliche Objekte zu etwas Besonderem zu machen, sie werden so überhöht dargestellt. Aber das Fliegen und Schweben ist darüber hinaus eine andere Dimension der Freiheit. Für Moebius war vermutlich „Freiheit“ der Schlüsselbegriff seines eigenen Wirkens als Erzähler und Zeichner.
Moebius und die Phallussymbole
Moebius scheint es wichtig, fremde Welten nicht nur anzudeuten, sondern so darzustellen, dass man sie intuitiv begreifen kann. Dabei spielt er, gerade wenn er als Figur in einer Geschichte enthalten ist, direkt oder indirekt mit Phallussymbolen: mal sieht seine eigene Nase aus wie ein männliches Geschlechtsteil, mal fliegt ein Raumschiff in Phallusform, mal ist eine phallische Kopfbedeckung zu sehen. Zwischen zeichnerischer Ernsthaftigkeit und zeichnerischer Spielerei existiert bei Moebius kein Widerspruch – zwischen ultrarealistischer akribischer Zeichenkunst und schnell skizzierter Karikatur ebenfalls nicht. Moebius hat die menschliche Sexualität immer wieder thematisiert und darin eine wichtige Form von Lebensenergie gesehen. So hat er seine männliche Perspektive auf das Thema auch erzählerisch/grafisch umgesetzt – und das oft spielerisch-augenzwinkernd.
Visuelles Mantra
Die Wiederholung immer gleicher Motivelemente hat bei Moebius etwas Mantramäßiges. Er war ein spiritueller Mensch, dessen zeichnerischer Rhythmus in der Kontinuität seiner Figuren und Motive liegt und sogar rein grafisch bis in die Anordnung seiner Schraffuren als Strichensembles verfolgt werden kann. Auch dass Moebius wohl nicht leben konnte, ohne ständig einen Zeichenstift zu halten und zu zeichnen, ist Teil der Ritualisierung eines visuellen Mantras. Eigentlich meint der Begriff des „Mantras“ eine verbale Wiederholung, so wird in der Meditation eine Silbe, ein Wort – etwa der Name einer Gottheit – oder ein Satz repetiert, bis sich ein Klangmuster ergibt. Auch im ständigen Wiederholen von grafischen oder symbolischen Zeichen stellt sich ein meditatives Empfinden ein. Sieht man sich das umfangreiche Gesamtwerk von Moebius an, so sind seine Geschichten eine Meditation über die Loslösung von Ort, Zeit und Form. Moebius’ visuelles Mantra ist die Relativierung allen Seins. Dabei spielen die Motive der „Wüste“ und des „Fliegens“ eine besondere Rolle.
Das Wüsten-Motiv
Das Motiv der Wüste ist sowohl in seinem Mainstream-Werk – etwa im Western „Leutnant Blueberry“ – visuell ausführlich dargestellt, aber auch in den Moebius-Welten taucht sie regelmässig auf. Die Wüste ist der Ort der Kargheit und des Nichts, von dem ausgehend Moebius seine unwahrscheinlichen Welten entwickeln kann. Die Wüste als Welt der Reduktion hat Moebius wohl auch deshalb so fasziniert, weil er sie mit einfachsten zeichnerischen Mitteln – etwa als simple Doppel-Linie am Horizont im Hintergrund der Handlung – darstellen konnte. Man mag die entleerte Wüste als Symbol innerer Ruhe bzw. eines Gleichklangs nehmen oder als Bühne des Nichts und der Leerheit, auf der garantiert etwas Spannendes geschehen wird. Die Wüste als Ausgangspunkt wird so zum Nullpunkt der Erzählung. Ein Teil der Ausstellung ist so auch „Die innere Wüste und ihre Darstellung“ betitelt.
Das Motiv des Fliegens
In vielen Kurzgeschichten, im „Arzach“-Zyklus, in der „Hermetischen Garage“, allgemein in seinen Science-Fiction-Geschichten und auch bei „John Difool“ und dem „Incal“, geht es immer auch um das Fliegen. In vielen Einzelzeichnungen von Moebius ist die Motivik des Schwebens, Fliegens oder Fallens enthalten. Das bezieht sich nicht nur auf die schwebenden Felsen oder Kristalle. Deshalb ist ein Teil der Brühler Ausstellung „Der Traum vom Fliegen und Fallen“ betitelt. Denn manchmal kann man sich bei der Lektüre der Comics von Moebius nicht des Eindrucks erwehren, in einem Traum des „Was wäre, wenn…“ zu sein, in dem das Fliegen auf mannigfaltige Weise möglich ist und den Träumenden befreit.
Weitere Moebius-Motive
Die Ausstellung des Max Ernst Museums zeigt neben den Symbolwelten „Wüste“ und „Fliegen“ weitere wichtige Elemente der Moebius-Comiczeichenkunst. Im Teil der Ausstellung unter dem Titel „Natur und Metamorphose“ sind surreale Verformungen zu sehen, ein anderer Abschnitt, „Der doppelte Mensch“, macht den gespaltenen Moebius erfahrbar. Auch anderen oben erwähnten Aspekten wird Rechnung getragen: „Spiritualität und Alchemie“ und „Wanderer zwischen den Welten“ sind zwei weitere Ausstellungsbereiche.
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