Kunst und Kultur ohne Beeinflussung, ohne Inspiration, ja selbst ohne Kopie – bzw. viele sich ständig viral fortpflanzende Sekundär-Variationen möglicher Kopien – wären kaum denkbar. Der Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht hat bei Francois Villion geklaut und sah sich unter anderem deshalb Plagiatsvorwürfen ausgesetzt, Goethes Faust-Version war nur eine von vielen und überhaupt bestand die Kunst des Dramas im antiken Griechenland in der thematischen Variation der immer wieder gleichen Motive und nicht in ihrer Neuschöpfung.
Speziell junge Künstler sind oft nicht nur innovativ sondern stehen unter dem Einfluß anderer Künstler und großer Meister. Johannes Stüttgen (geb. 1945) war der Schüler von Josef Beuys (1921-1986), Egon Schiele (1890-1918) der von Gustav Klimt (1862-1918). Wer würde als Bewunderer eines anderen Künstlers nicht ganz automatisch diesen gerne nachahmen? Ganze Kunstrichtungen wie der Impressionismus, der Expressionismus oder der Kubismus sind in einer Atmosphäre künstlerischer Netzwerke und gegenseitiger Beeinflussung entstanden. Fast liegt die Potenz einer Kunstrichtung in der Durchdeklinierung der Themen und Formensprache durch möglichst viele KünstlerInnen, die sich gegenseitig kreativ befruchten und dem neuen Stil immer neue Facetten abgewinnen und Mischformen beiordnen.
Einfluss-Beispiel Klimt und Schiele
Egon Schiele hatte zunächst als Schüler Gustav Klimts dessen Stilistik übernommen. Das Bild „Portrait von Gerti Schiele“ etwa, das Egon Schiele 1909 gemalt hatte, weist deutliche Einflüsse Gustav Klimts auf. Zudem finden sich viele Themen Schieles, wie „Mann/Frau“, „Sexualität“ mit expliziten Körperhaltungen und Darstellungen und „Körperlichkeit“ ebenso bei Klimt. Die Art der Darstellung ähnelt sich zum Teil.
Einfluss-Beispiel Caravaggio
Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571-1610), der im Volksmund oft nur Caravaggio genannt wird, hatte eine neue Art des Realismus begründet und war deshalb einflussreich. Ein besonderes Merkmal seiner Malerei war eine kontrastreiche Lichtwirkung zwischen hell und dunkel, „Chiaroscuro“ genannt, was übersetzt etwa „Hell/Dunkel“ heisst, „Hell-Dunkel-Malerei“ genannt wird und auch in Form des französischen Begriffs „Clair-obscur“ geläufig ist. Caravaggio hat gleich eine ganze Heerschar nachfolgender Künstler beeinflusst, die sogar einen eigenen Gattungsnamen als ästhetisch Beeinflusste haben: man nennt sie „Caravaggisten“ und den dazugehörigen Stil „Caravaggismus“.
Wen hat Caravaggio beeinflusst?
Caravaggios Stil sollte Einfluß auf zahlreiche Maler ausüben. Entweder auf ihren Stil insgesamt oder auf einzelne Werke. Zu den wesentlich Beeinflussten gehören zum Beispiel:
- Rembrandt van Rijn (1606-1669),
- Diego Velázquez (1599-1660),
- Jan Vermeer (1632-1675),
- Peter Paul Rubens (1577-1640),
- Théodore Géricault (1791-1824) und
- Francisco de Zurbarán (1598-1664).
Weitere von ihm beeinflusste Künstler sind außerdem:
- Bartolomeo Manfredi (1582-1622),
- Carlo Saraceni (1579-1620),
- Mario Minniti (1577-1640),
- Battistello Caracciolo (1578-1635),
- Mattia Preti (1613-1699),
- Orazio Gentileschi (1563-1639),
- Artemisia Gentileschi (1593-1653),
- Georges de la Tour (1593-1652),
- Jusepe de Ribera (1591-1652),
- Johann Ulrich Loth (1599-1662) und
- Jacques Louis David (1748-1825).
An dieser unvollständigen Aufzählung sieht man, wie weitreichend ein prägender Einfluss sein kann, der von den genannten Künstlern an nachfolgende Künstler weitergegeben wird. Entscheidend ist dabei nicht nur der sichtbare Einfluss – in Abgrenzung zum anfänglichen Einfluss, den man kopiert oder visuell paraphrasiert hat, entwickelt ein Künstler nachfolgend seinen eigenen Stil. Er könnte also sein Dasein als Epigone fristen oder im Widerstand gegen seine stilistische Nachahmung etwas Eigenes entwickeln und damit potenziell selbst zum Vorbild werden.
Caravaggio, Da Vinci und Verrocchio
Caravaggio hatte übrigens seinerseits von den Licht-Studien Leonardo da Vincis (1452-1519) profitiert, und Leonardo da Vinci war wie die Künstler
- Perugino (ca. 1445/1448–1523),
- Domenico Ghirlandaio (1449–1494) und
- Lorenzo di Credi (ca. 1459–1537)
beim bekannten Bildhauer Andrea del Verrocchio (1435–1488) in die Lehre gegangen, der auch Maler gewesen war.
Rodríguez, Goya und Manet
Ein weiteres Beispiel: Diego Rodríguez (ca. 1599-1660) beeinflusste Francisco de Goya (1746-1828) und Édouard Manet (1832-1883). Manet war zudem wie Eugène Delacroix (1798-1863) und viele andere ebenfalls von Goya inspiriert. Kaum ein Künstler also, der völlig ohne Einflüsse oder Vorbilder wäre. Das Netzwerk der stilistischen und technischen Verquickungen ist engmaschig, weitreichend und reisst nicht ab. Auch wenn die Einflüsse nach Generationen nicht mehr sichtbar sein mögen, ist das Mittel der Anlehnung, der Kopie oder der Imitation Teil eines Entwicklungszyklusses und Teil der Kunst-Evolution insgesamt.
Der Künstler als Spiegel
Dass der Maler als Mensch sich Gruppenverhalten anpasst und sich dabei typische Verhaltensweisen aneignet, scheint nichts Ungewöhnliches zu sein. Dabei ahmt ein Mensch aber nicht nur grundlegende Verhaltensweisen seiner Kindheit nach sondern unterliegt auch später meist dem Zwang, das, was er wahrnimmt, in einem ersten Impuls zu imitieren oder zumindest das eigene Handeln in Bezug zum Wahrgenommenen zu setzen. Sich von dieser Notwendigkeit zur Imitation abzukoppeln, ist das Ergebnis eines Prozesses, bei der der angehende Künstler seine eigene Ästhetik entwickelt.
Gustav Klimt prägt seinen Schüler
Dies schließt mit ein, dass ein Mensch und Künstler ob er will oder nicht Einflüssen unterliegt. Egon Schiele etwa hatte von Gustav Klimt dessen Themen übernommen. So wie bei Klimt, war das Wirken von Schiele thematisch von sexueller Freizügigkeit bestimmt. Hinzu kommt, dass Schiele im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Psychologie und Psychoanalyse und deren Menschenbild zu sehen ist. Während Klimt in seinen Bildern einer gewissen formalen Oberflächlichkeit frönte, also die perfekte Form anstrebte, entkleidete Schiele das Individuum, um dessen Selbst zu finden. Zu dieser weitreichenden Entgleisung des Menschlichen gehörten verdrehte Körper, expressive Physiognomien und Gesichter, die Verzweiflung in sich trugen. Schiele zeigte Menschen, die eine körperliche Anspannung ausdrückten und sich wie Süchtige zueinander hingezogen zu fühlen schienen.
Chamäleon-Effekt in Sozial-Beziehungen
In der Psychologie besagt der sogenannte „Chamäleon-Effekt“, dass man im Rahmen einer Verhaltensnachahmung meist nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten eines Anderen imitiert, weil man als Mensch grundlegend wie ein Spiegel funktioniert. Man übernimmt unbewusst Mimik, Gestik bzw. spezifische Körperbewegungen, Körperhaltung oder sogar das Sprachtempo seines Gegenübers. Dies ist besonders dann der Fall, wenn der Nachahmer in der Lage ist, kognitiv die mentale Perspektive des anderen einzunehmen. Dabei meint „Kognition“ die Prozesse von Wahrnehmung, Verstehen und Erkennen. Sie ist zu unterscheiden von der „Empathie“, bei der man sich intuitiv-gefühlsmäßig und affektiv in den Gesprächspartner hineinversetzen kann. Soziologisch betrachtet führt die Fähigkeit, spiegelnd unbewusst das Verhalten eines Anderen nachzuahmen zu einer sozialen Beziehung und der „Chamäleon-Effekt“ fungiert so als sozialer Klebstoff von Beziehungen und ganzen Gesellschaften. Kognition und Empathie wirken hier sich ergänzend zusammen. Der entscheidende Faktor ist dabei die Fähigkeit, die Perspektive des Anderen einzunehmen. Das ist in kommunikativen Situationen der Fall und kann auch Auswirkungen auf die Kunst als Kommunikationsform bzw. auf ihren Entstehungsprozess haben.
Nachahmung als mentales Sprungbrett
So kann man also die Fähigkeit der Nachahmung als sehr grundlegend annehmen. Sie ist auch als Lernbasis im Menschen angelegt. Ein werdender Künstler wird seine Vorbilder zunächst nachahmen, um sich in seinem Reifeprozess von ihnen zu lösen und etwas mehr und mehr Eigenes zu schaffen. Das Eigene entsteht aber, wie man sieht, nicht im luftleeren Raum. Es ist geprägt und beeinflusst durch die Kenntnis anderer Kunstwerke oder inhaltlich zum Beispiel eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungs-Tendenzen und kulturelle Strömungen wie weiter oben geschildert. Ein Beispiel:
- Ein Impressionist etwa, der den Kubismus als Kunstströmung heraufziehen sieht, wird entweder in Ablehnung und in Abgrenzung zur neuen Kunstströmung sein impressionistisches Streben vertiefen und dort nach besonders einprägsamen Ausdrucksmöglichkeiten suchen
- oder aber er wird den Kubismus adaptieren und imitieren, um dessen Formensprache zu lernen und zu übernehmen.
Nachahmung und Neuschöpfung
Im ersten Fall hat das Aufkommen der neuen Kunstrichtung keinen direkten Einfluss und von einer Inspiration, die in eine Kopie münden würde, kann nicht die Rede sein. Im zweiten Fall allerdings schon. Die neue Kunst kann als Kalkül oder aus Gründen der liebevollen Aneignung als Inspirationsquelle genutzt werden. Klar ist, dass mit dem Aufkommen einer neuen Kunstform diese sowohl Ablehnung hervorruft wie auch Nachahmer findet. Nachahmer sind zunächst Beeinflusste, die sich durch das Neue anregen lassen. Doch ist klar, dass die Wegbereiter einer neuen Form etwas abzubilden, in jedem Fall andere Künstler beeinflussen werden, es ihnen nachzumachen. Formal gesehen sind diese Beeinflussten Stil-Kopierer, die Darstellungsformen wie den Impressionismus oder den Expressionismus nutzen. Wie ein neues Theme in einem WordPress-Blog, also eine äußere visuelle Hülle, in der möglicherweise aber die alten Inhalte transportiert werden. Da Form und Inhalt sich gegenseitig beeinflussen, ist diese klare Trennung jedoch fragwürdig.
Form und Inhalt
Natürlich geht es bei der Bildenden Kunst, die im Gegensatz zur eingangs erwähnten Literatur ein visuelles Medium ist, nicht nur um Formen sondern ebenso um Inhalte. Die Kunst kopiert auch hier die Wirklichkeit, das heißt, der Künstler stellt die Wirklichkeit aus seiner Sicht dar. Sich wandelnde Gesellschaften erzeugen in diesem Transformationsprozeß automatisch neue Inhalte. Irgendwann in der Menschheitsgeschichte gab es die industrielle Revolution, den Sozialismus, den Nationalsozialismus oder die Digitalisierung, und die Kunst reagiert auf diese wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Strömungen. Auch die Industrialisierung oder die Digitalisierung stellen einen Wandel dar, der künstlerisch aufgearbeitet wurde und wird.
1:1-Kopie oder themenvariierende Kopie
Frei nach Josef Beuys‘ Behauptung „Jeder Mensch ist ein Künstler“ könnte man erweitern: „Jeder Künstler ist ein Kopierer“ oder „Inspiration ist ein Einflussfaktor, der den Kopiersinn animiert“. Damit ist nicht unbedingt eine 1:1-Kopie gemeint sondern im oben genannten Sinn eine Variation oder eine Stilkopie mit eigenem Inhalt und individualisierter Darstellungsform. Die impressionistische Art zu malen zum Beispiel, war nicht nur eine Technik oder eine Form des Malens – denn durch ihre Darstellung des inneren Empfindens des Künstlers hat sie das Motiv verändert und damit auch den Bildinhalt.
Selbstkopie als Selbstplagiat
Bis hierhin war die Rede davon, dass ein Künstler Einflüssen unterliegt und einen anderen Künstler kopieren könnte. Was aber viel näher liegt, ist das Selbst-Plagiat. Wenn also Kunstwerke eines Künstlers in ihrer Gestalt so nahe beieinanderliegen, dass der Unterschied zwischen ihnen gering ist. Beschönigend wird bei Künstlern oft von einer Phase im Werk gesprochen. Heraus kommen mitunter sehr ähnliche Bilder. Wer allerdings Kunst als evolutionären Prozess versteht, der sich nur langsam umwälzt, kann darin nichts Negatives sehen sondern eine Variationsreihe, in der der Künstler seine Möglichkeiten variiert.
Formensprache als Weltsprache
Eine inhaltliche Botschaft bzw. Programmatik eines abstrahierenden Malers wie Picasso könnte am Anfang seiner kubistischen Phase gelautet haben: „Seht her, wie anders man die Welt sehen kann.“ Ähnlich wie Freund in der Psychoanalyse oder Einstein bezogen auf das physikalisch-kosmologische Weltbild war Picassos Wirken ein Platzhalter in der öffentlichen Wahrnehmung für ein anderes visuelles Verständnis der Welt. Nun liegt es im Wesen eines berühmten Künstlers, immer weiter seine Werke zu produzieren, um Ausstellungen zu beschicken oder Galeristen, Publikum und Käufer zu befriedigen. Unabhängig davon kann man Picasso eine Schaffenskraft unterstellen, die ihn dazu bewegt hat, weiter und weiter zu malen, zu zeichnen und dreidimensionale Objekte zu formen. Aber war dies nicht ebenso ein Prozess der fortwährenden Wiederholung? Ein Prozess eines ständigen Eigen-Plagiats?
Varianz im Schaffensprozess
Ähnliches gilt auch für viele andere bildende Künstler, bei denen man den Eindruck hat, dass ihr künstlerisches Wirken nicht mehr als die Variation eines Themas ist. Irgendwann im Verlaufe des Schaffens hat sich ein Werk ergeben, das herausragt, sei es, weil es tatsächlich herausragende ästhetische Eigenschaften hat oder aber sehr exakt abbildet, was entscheidend in einer Epoche war. Wäre dieser Eindruck richtig, dass ein Künstler etwas ausdrücken möchte und diesen Ausdruck ein Leben lang in Variationen seines ästhetischen Empfindens probiert und variiert, dann wäre er ein Nachahmer seiner selbst. Man mag das Künstlern mit einem sehr ausgeprägten eigenen Stil in besonderer Weise unterstellen. Leonardo Da Vinci, Michelangelo, Vincent van Gogh, Roy Lichtenstein oder Gilbert & George haben einen sehr klar wiedererkennbaren künstlerischen Ausdruck. Ihre ästhetische Forschungsreise bewegt sich hinauf auf einer langen Leiter, bei der jede Stufe eine Variante der vorherigen ist. In dieser inneren Mechanik liegt die Crux: Das Vorherige in einer Kultur, bildet in Entsprechung, Abgrenzung bzw. Widerspruch die Basis des Neuen – und doch kann manchmal der Einfluss des Alten so stark und dominierend sein, dass er das Neue überschattet oder sogar erdrückt.