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Kurzgeschichte: …ene mene mang, fang den Klang

Straßenbaum
Es war einer dieser Aufträge, wie ich sie mitunter bekomme. Sie kommen als kurze Mail, meist mit einem merkwürdigen nicht zu verstehenden Betreff, der in keinster Weise Hinweise darauf gibt, was der Inhalt der weiter untenstehenden Nachricht sein würde. Oder aber wie in diesem Fall per Telefon. Ein Anruf vor einigen Tagen an einem heißen Nachmittag des zweiten Folgejahres eines übermäßig heißen Sommers, der offenbar losgezogen war, die Welt zu verbrennen. Eine tiefe Stimme, die mit den ersten Worten nicht verriet, ob Mann oder Frau, ihren Namen nicht nannte, die ohne Luftzuholen ihr Anliegen vortrug und am Ende ihren Tonfall nicht fragend anhob, sondern vielmehr soldatisch einen Punkt mit einem Strich darüber setzte.

Berufsbedingt ist mein Gehör hellhörig und nur schlecht zu belügen. Schon als kleines Kind fühlte ich mich von den vielen Geräuschen um mich herum, von den vielen Worten der Menschen, den ausgesprochenen und den unausgesprochenen, hin und hergestoßen. Schon immer waren es meine Ohren, die die Welt gelesen hatten. Würde man mir die Wahl lassen, auf welchen meiner Sinne ich am ehesten würde verzichten können, dann würde ich ohne zu zögern „Auf mein Sehen“ sagen. Dunkelheit machte mir schon immer weitaus .eniger Angst, als absolute Stille, wenngleich ich diese dann doch so oft suche. Nie höre ich Zuhause Musik, nie lasse ich den Fernseher laufen und oft trage ich, wenn ich unterwegs bin, eigens für mich angefertigte Ohrhörer, die jedes Geräusch der Außenwelt verschlucken und mich alleine lassen.

Dieser Mann am Telefon also, denn es war ein Mann, wie sich während seines Monologs herausstellte, wollte von mir, dass ich ihm den Hall eines bestimmten Tages einfing. Er war Professor für Audiologie an einer fernen Universität, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Er erforsche den Klang der Tage, erklärte er mir. Er sei der Ansicht, nein, vielmehr er sei sich sicher, dass er damit wesentlich zum Verstehen des Verhaltens oder auch des Unverhaltens der Menschheit beitragen würde, denn die von den Menschen erzeugten Geräusche seien quasi ein ebenbildlicher Spiegel ihrer kranken Gesellschaft und somit ihrer Seelen. Er hatte mit eindringlicher Stimme gesprochen, mich nicht gefragt, ob ich überhaupt bereit sei, den Auftrag anzunehmen, sondern mir am Ende seiner Worte lediglich gesagt, dass er am Abend des kommenden Freitags bei mir vorbeikommen würde, um ihn abzuholen.

Als er aufgelegt hatte, war ich eine ganze Weile lächelnd am Fenster gesessen und hatte mir die Welt als riesige Klangkugel vorgestellt und dabei hatte ich natürlich die Augen geschlossen gehalten. Auch wenn ich es ihm nicht direkt gesagt hatte, war ich begeistert von seiner Idee, hatte ich doch schon zu Beginn meiner Arbeit in Erfahrung gebracht, dass Töne Empfindungen und Seelenzustände weitaus besser speichern können, als visuelle Wahrnehmungen, die ich mittlerweile für sehr begrenzt und trügerisch hielt. Ich war also bereit, ihm das zu liefern, das er haben wollte und zur Not würde ich ihm den Klang selbst schreiben, auch das traute ich mir zu.

Drei Tage nur würden mir für die Vorbereitungen also bleiben. Drei Tage, die ich damit verbrachte, meine Ausrüstung zu checken, Mikrofone verschiedenster Sensitivität bereitzulegen, mein Aufnahmegerät zu justieren. Bei meinem letzten Auftrag hatte es mir Sorgen bereitet, weil beim späteren Abspielen der Aufnahme ein dumpfes Brummen zu hören gewesen war, das zwar offenbar nur in meine Ohren eindrang, mich aber unzufrieden mit meiner gesamten abgelieferten Arbeit werden ließ. Ich will nicht, dass meine Klänge durch irgendetwas verfälscht werden und dieses Brummen hatte etwas Gemeines und Manipulatives gehabt, das ich dem Professor auf keinen Fall würde zumuten wollen.

An besagtem Freitag stand ich also kurz nach Mitternacht auf, würden mir doch nur wenige Stunden bleiben und ich hatte mir ein straffes Programm verordnet. Meine Geräte hatte ich in einem Rucksack verstaut, die Mikrofone in die verschiedenen Taschen meiner Jacke gesteckt, so dass ich einfach und schnell Zugriff zu ihnen hatte und sie rasch austauschen konnte. Zuerst fing ich die Stille im Treppenhaus ein, betrat dann den Fahrstuhl, den ich zugegebenermaßen sonst nie benutze, aber da ich mir viel von der stockend technischen Stimme versprach, die die Menschen beim Öffnen und Schließen der Türe tagaus und tagein instruierte, wie sie diesen zu benutzen hatten, machte ich eine Ausnahme. Der Mann, der über mir wohnte und den ich noch nie gesehen hatte, war offenbar auf dem Weg zur Frühschicht, nickte mir lediglich zu, fing aber, als sich das Öffnen der Fahrstuhltüre beim Ankommen im Erdgeschoss etwas verzögerte, japsend an zu Atmen, griff sich panisch an die Brust und stürmte dann an mir vorbei an die frische Luft. Dabei stolperte er und schubste mich zur Seite, so dass meine rechte Hand an deren Mittelfinger ich einen breiten Ring trage, an die Wand des Fahrstuhls knallte und einen metallisch scheppernden Ton erzeugte. Ich lächelte in mich hinein. Ich würde bekommen, was der Professor suchte, dessen war ich mir sicher.

Ich entschloß mich, das Aufnahmegerät nicht mehr auszuschalten, einfach alles aufzuzeichnen, ich hatte Angst etwas Wichtiges zu verpassen und das Gesamtkonzept in seiner Vollständigkeit dadurch zu zerstören. Zuhause würde ich sowieso alles zusammmen schneiden und verdichten müssen. Zielstrebig lief ich also die Punkte ab, die ich mir vorgenommen hatte. Als es hell wurde, dämpfte das Licht die Geräusche etwas, aber das kannte ich schon, ich machte mir keine Sorgen deswegen, ich konnte ja versuchen, mit dem Mikro etwas näher heranzukommen und zur Not konnte ich sie ja etwas nachbearbeiten, was ich allerdings fast immer vermeide und nur auf ausdrücklichen Wunsch mache. Das mithörende Gehirn ist schwer zu täuschen und ich hasse die dadurch entstehende Unechtheit. Im Bus zeichnete ich den fast tonlosen Streit eines Paares auf, das nur noch wenige Worte füreinander fand und der damit endete, dass die Frau mit Tränen in den Augen an einer anderen Haltestelle ausstieg als der Mann, der einfach sitzen blieb und ihr hinterherstarrte. Schon während ihrer raren Wort hatte ich das Mikro ausgewechselt, um leere Blicke aufzuzeichnen brauchte ich mein empfindlichstes Mikrofon. Dieser Klang würde die Basis von allem werden. Ich lief weiter durch die Stadt. Ich fand einen Mann, der laut redend an einer Straßenecke stand. Der Ton seiner Stimme erinnerte mich an einen Menschen, der sich nicht einmal daran erinnern konnte, in seinem Leben jemals jemanden berührt zu haben. Er fuchtelte mit den Armen und dabei raschelte sein Mantel etwas zeitversetzt zu seinen Bewegungen.

Ich selbst hatte in all den Jahren gelernt, mich fast geräuschlos zu bewegen, um mein Aufnahmegerät nicht zu irritieren. Auch bei der Auswahl meiner Kleidung achtete ich auf nichtraschelnde Stoffe und weiche Sohlen der Schuhe. Im weiteren fand ich eine zerfließende Eiskugel, die einem Kind schon hinunterfiel noch bevor es das erste Mal daran geschleckt hatte, ein Flugzeug, das heute viel niedriger über die Häuserdächer donnerte, als ich es je erlebt hatte, eine nudelschlürfende Frau im Restaurant, in dem ich Mittag machte, das Rasseln eines Schlüsselbundes auf dem Gehweg, den jemand wahrscheinlich auf dem Nachhauseweg nach einer durchzechten Nacht verloren hatte, und den ich mit einem Fußtritt unter einen Busch beförderte. Und auch das Zerspringen meiner Teetasse, die mir Zuhause von meinem Schreibtisch fiel und in tausend Stücke zerbarst, als ich mich an die Arbeit machte, fing ich ein. Der Professor würde in einer guten Stunde kommen. Und doch wusste ich, dass er es sofort bemerken würde, er würde die Unperfektheit schon in der ersten Sekunde entdecken.

Nachdem er zu Ende gehört hatte, schüttelte er wütend den Kopf, fing an mich zu beschimpfen, dass er sich mehr erwartet hatte, dass ich vollkommen unfähig sei und dass ich selbstverständlich meine Rechnung gar nicht erst zu stellen brauchte. Und dann stampfte er jähzornig schnaubend davon, ich hörte seine Schritte im Treppenhaus, hörte wie er die Haustüre aufriss und sicherlich ohne nach links und rechts zu blicken auf die Straße stürmen würde. Der Professor war ein ungestümer Mensch, das war mir schon bei unserem Telefonat aufgefallen. In der Zwischenzeit war ich an mein geöffnetes Fenster getreten. Das Richtmikrofon hatte ich dort schon zuvor deponiert und fast zärtlich betätigte ich den On-Knopf.

Bremsen quietschten, ein Körper flog durch die Luft, die Schädeldecke sprang knackend auf, ein abgetrennter Arm fiel mit einem klatschenden Geräusch auf die Straße, Menschen schrien, eine Frau kollabierte und stieß beim Fallen mit ihrem Kopf auf die Bordsteinkante, eine andere erbrach sich, Motoren stoppten, fuhren weiter, ein Martinshorn nahte, weitere folgten, schließlich erstarb der Tumult draußen vor meinem Fenster.
Ich zog das Handy aus meiner Tasche. „Guten Tag, Quentin“, sagte ich, „du wolltest doch ein perfektes Geräusch für deinen nächsten Film. Ich hab es fertig.“

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