Mit dem Stift in der Hand nahm sie ein Kärtchen und schrieb darauf „Mein Mann“ und war entzückt davon, wie schön das klang, während sie die beiden Worte betrachtete. Ihre schwungvolle Schrift passte nicht dazu, was sie geschrieben hatte – es wirkte irgendwie falsch, sie überlegte… Natürlich war er nicht ihr Mann, denn sie hatte ja schon einen. Manchmal fühlte es sich an, als wäre er ihr Mann, wenn sie bei ihm war. Aber wenn sie wieder fuhr, war es anders. Nein, nein, das war nicht richtig. Sie schob die Karte von sich weg nach oben in Richtung der Tischkante und nahm ein neues leeres Kärtchen.
Der Stift schrieb das Wort „Liebhaber“. Erst hatte sie gedacht, sie müsse „Mein Liebhaber“ schreiben aber sie hatte sich sofort dagegen entschieden – das „Liebhaber“ wirkte unpersönlicher, neutraler. Er sollte sich nicht zu viel Hoffnungen machen. Die Karte bog sich etwas, als sie sie zwischen Zeige- und Mittelfinger auf der rechten Seite und dem Daumen auf der linken hielt. Wie sollte sie das angehen, mit Gefühl oder mit Verstand? Denn wenn sie darüber nachdachte, war er eben genau das: ihr Liebhaber. Sie sahen sich einmal im Monat, hielten sich in den Armen, empfanden Nähe dabei und liebten sich den ganzen Tag. Das war der springende Punkt: Er hielt sie in seinen Armen wie ihr Ehemann aber nicht. Wer von beiden war ihr dann näher? Mit dem einen teilte sie ihren Alltag, alles Gute und Schlechte – halt ihr normales Leben. Was hatten sie gemeinsam erlebt? Drei Kinder hatten sie groß gezogen, mit dabei all das Schöne und all die Probleme und Verwicklungen. Sie hatte diesen einen Mann, der ihr Leben mit ihr erlebt und dessen Leben sie gesehen hatte. Konnte da der andere mehr als ein Liebhaber sein?
„Liebhaber!“ – wie das klang. Sie atmete tief ein und sofort wieder aus. Als wäre sie ein Unikat und er der angehende Besitzer eines besonderen Liebhaberstückes. In Gedanken sah sie eine reich verzierte goldene Münze mit ihrem Konterfei darauf – und er hielt diese Münze in seiner Hand und betrachtete sie. Seine Hände. Wie sie sie berührten. Ein Schauder durchzog ihren Körper. Er war gut zu ihr. Keine Spur von den lächerlichen Alltagsprofanitäten. Er ehrte sie und das spürte sie jedes Mal neu, wenn sie sich sahen. Immer war er liebenswürdig, zuvorkommend und charmant – natürlich konnte das ein Ehemann wegen all der erdrückenden Gewohnheit niemals sein. Aber konnte auch ein Liebhaber überhaupt auf Dauer so sein? Eine gewisse Unverbindlichkeit und Einseitigkeit umgab dieses Wort „Liebhaber“, obwohl er doch so besonders zu ihr war, unter Umständen sogar so besonders wie zu keiner anderen? Der Begriff gefiel ihr plötzlich überhaupt nicht mehr, so schob sie das Kärtchen in Richtung der ersten Karte.
Vor sich hatte sie diesen kleinen Stapel an unbeschriebenen Pappkärtchen etwa in der Größe einer Visitenkarte. Sie musste zurückdenken: Bisher hatten sie sich nie Briefe geschrieben, nicht einen einzigen. Jetzt wollte er einen von ihr, nach all den Jahren der spontanen Chats und gelegentlichen Treffen. Er wollte, dass sie ihn darin so anredete, dass ihm klar werden konnte, wer er für sie war: Ihr „Liebhaber“? Ihre „Liebe“? Gar ihr „Mann“? Sie hatte seine Chat-Nachricht gestern verwundert gelesen und war seitdem unruhig geworden. Seine witzig vorgetragene Bitte hatte plötzlich etwas Ernstes und überaus Verbindliches bekommen, etwas, das bisher zwischen ihnen so nie gewesen war, sie hätte das als bedrohlich empfinden können. Alles war locker, frei und unverbindlich gewesen, eine Art von Beziehung als Gelegenheitsschönheit. Ein Besuch bei ihm glich einem Kurzurlaub, sie kam jedes Mal entspannt und gut gelaunt nach Hause. Wenn man sich liebt, hält man sich aber irgendwann – egal, was man sich vorgenommen hat oder welche Grenzen man sich gesetzt hat – in den Armen und sagt sich Dinge, spürt schließlich Dinge. „Dinge“? Sie musste lächeln, nein, natürlich keine „Dinge“. Es waren Empfindungen. Es waren Gefühle, vielleicht große Gefühle, von denen man in diesen Momenten sogar dachte, man würde sie ewig empfinden. Wer war sie, dies nun kleinzudenken? Aber wer war sie andererseits, dem eine Bedeutung beizumessen, der sie in ihrem Leben nicht gerecht werden konnte? Machten sie sich in ihren Chats nicht ständig etwas vor? Nahmen sie nicht wie Schauspieler bestimmte Rollen ein und spielten damit? Ihre Hand zitterte, als sie das nächste unbeschriebene Kärtchen nahm. Als sie es vor sich auf den Tisch gelegt hatte, kam es ihr vor wie ein extrem flacher Grabstein.
Sie schrieb: „Du bist meine Liebe.“ Ihre Schrift war kleiner geworden, sie redete sich ein, weil dadurch die Worte besser auf das Kärtchen passen würden. Als sie den Satz eine Zeitlang angesehen hatte, stiegen ihr Tränen in die Augen. Wie oft hatte sie ihm gegenüber gesessen, ihn nur betrachtet, während er etwas gesagt hatte, und empfunden, dass sie ihn liebte? Sollte sie ihm jetzt einen Brief schreiben, der irgendwie mit „Meine Liebe…“ begann? Wäre das nicht ein Versprechen gewesen, das sie nicht halten konnte? Während sie das Kärtchen zerknüllte und sofort wieder glattstrich, ohrfeigte sie sich im Geiste aus einem für sie unvorhergesehenen Impuls heraus. Sie rückte den Stuhl vernehmbar nach hinten, stand vom Küchentisch auf und ging ins Badezimmer. Dort stand sie vor dem Spiegel und betrachtete sich lange. Erstarrt blickte sie auf die Stelle zwischen ihren Augen, während ihre Sicht von sich selbst sich ständig veränderte und sie nach ein paar Minuten eine ganz andere Frau vor sich sah, eine ziemlich fremde.
Klar, es waren Gefühle da, aber immer? Nein, nicht immer. Manchmal war sie zu ihm gefahren und sie hatte sich gewünscht, er solle kein Wort sagen, er solle sie einfach in die Arme nehmen und lieben und sie danach sofort wieder gehen lassen, obwohl sie gerne länger geblieben wäre. War Leidenschaft Liebe? Sie wusste, dass es oft keine Liebe war. Es war Gier, der Wunsch sich abzureagieren aber auch Wohlbefinden, die Stille der ruhenden Körper danach, die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Würde sie diese Ruhe immer spüren, bei jedem anderen Mann, bei jedem Mann, mit dem sie zusammen wäre?
„Mann“, „Liebe“, „Liebhaber“. Er hatte um eine Antwort darauf gebeten, wer er für sie war. Aber musste sie nicht zuerst wissen, wer sie war, um darauf antworten zu können, und was sie wollte, sofern sie überhaupt jemand war? Hatte sie ihm ihre Liebe nicht manches Mal nur vorgespielt, damit sie dieses zweite unproblematische Leben in Freiheit genießen konnte? Die Lust kam mit der Unverbindlichkeit der Zweitmann-Existenz. Sie hatte die Hände auf beiden Seiten des Waschbeckens abgestützt, war ganz nah an den Spiegel getreten, hatte ihn mit ihrer Nasenspitze berührt und ihn angeatmet, sodass der Spiegel um ihre Nase herum beschlug und sie langsam verblasste. Als sie den Kopf zurückgezogen hatte, sah sie die milchige Fläche mit dem Punkt darin, den ihre Nase hinterlassen hatte. Sie nahm den Nasenpunkt als ein Auge, malte mit dem Zeigefinger ein zweites dazu und dann einen kleinen Strich für eine imaginäre Nase und einen größeren Bogen für einen lächelnden Mund.
Sie verließ das Badezimmer, hatte das Licht ausgemacht, leise die Tür hinter sich geschlossen und saß nun wieder am Tisch vor den Kärtchen. Noch so viele unbeschriebene. Wie oft hatte sie ihm im Chat geschrieben, dass sie ihn lieb hat oder ihn liebt? Sie dachte genau nach: Hatte sie? Ja, sie hatte es geschrieben, ins Gesicht sagen konnte sie es ihm aber nicht. Wie einfach war es doch, alles Mögliche zu schreiben und es auch selbst zu glauben. War man nicht korrupt, weil man irgendetwas wie Liebe oder dieses Prickeln spüren wollte, das verbotene Empfindungen so wertvoll machte? Waren die Geheimnisse im Leben nicht gerade das Salz in der Suppe?
Während sie weiter nachdachte, hatte sie nach einem leeren Kärtchen gegriffen. ‚Ich bin virtuell’, dachte sie. ‚Ich bin für ihn meist gar nicht wirklich da’. Sich jahrelang zu schreiben, brachte einen zueinander. Es vermittelte die Illusion von Nähe, aber warum auch nicht? Placebo-Nähe hilft. War sie nicht jeden Tag ihrem Mann, mit dem sie kein solches Geheimnis teilte, viel näher? Kannte er nicht jede Nuance ihrer Launen, jede Falte ihres Körpers viel besser als der andere? War sie eine Lügnerin, die erst sich selbst etwas vormachen musste, um dieser Lüge dann im nächsten Chat durch Worte eine schönende Form zu geben? War sie eine Zauberin, die inzwischen selbst an ihr Kunststück als real vorhanden glaubte, obwohl es doch nur eine Illusion war?
Auf das nächste Kärtchen schrieb sie kichernd „Poolboy“. In ihren Konversationen machten sie sich über alles Mögliche lustig, auch über sich selbst, ihre „Liebe“, ihr „Verhältnis“. Er hatte mal scherzhaft geschrieben, dass er ihr „Poolboy“ sei, und dann hatten sie darüber gewitzelt. Jetzt aber wollte er ein ganz anderes Wort von ihr hören, nur ein Wort sollte es sein, das wiedergab, was sie für ihn empfand, was er für sie war. Welche Erwartungshaltung er zwangsläufig an diese Bitte knüpfen musste. Wie schwierig das jetzt für sie war. Ein ernst gemeintes Wort, einmal niedergeschrieben, war so unverrückbar, so endgültig, es hatte etwas Unausweichliches. Der Ort der Lockerheit und der Witzeleien, der Unverbindlichkeit und des Weglassens von Informationen über ihren Alltag würde nun vielleicht zur Falle für sie werden. Ihre Haut erschien ihr im Moment wie ein kratziger Mantel. Wie beschissen er sie mit seinem Wunsch unter Druck setzte. Das hatte etwas von Beichte oder von Farbe bekennen, eine Art letzte Wahrheit. Wie sollte das verdammt nochmal überhaupt möglich sein? Wenn sie jetzt empfand, dass er ihre große Liebe wäre, wie würde sie morgen empfinden? Hatte er nicht immer gesagt, das Wesen der Liebe wäre Freiheit und Wankelmut? Warum musste sie sich jetzt so endgültig festlegen? Ach Gott, warum mussten Liebhaber irgendwann alles so kompliziert machen?
„Poolboy“… Sie sah sich im Sommer in einem weiträumigen Wohnzimmer mit meterhohen Fenstern. Im locker übergeworfenen Bademantel lag sie auf einer Couch und sah durch die Fenster hin zum Swimmingpool. Dort stand er in Shorts mit einer langen Stange, an deren Ende ein Netz befestigt war. Vornüber gebeugt fischte er damit die Blätter und kleinen Äste von der Wasseroberfläche des Pools heraus. Seine Bewegungen, die hatten etwas. Wie sie das mochte, wie er dabei aussah. Ohne viel Hast hatte sie sich erhoben und schlenderte der Tür zum Garten entgegen. Ihr Mann war nicht zuhause und sie öffnete vom Champagner beschwingt den Bademantel.
Sie unterbrach sich in dieser Vorstellung. „Poolboy“: das war weit hergeholt, und doch gab es einen wahren Kern daran. Er war etwas, das fern ihres Alltags existierte, fast wie eine Kunstfigur in einem Film, denn…, was wusste sie eigentlich über ihn? Seinen Namen kannte sie, wusste, was er arbeitet, und sie kannte nach all den Hotels inzwischen endlich auch seine Wohnung. Er erzählte aber nicht viel über seinen Alltag. Vielleicht schlief er mit anderen Frauen und war ein Schwein im Geschäftsleben? Sie hätte es wirklich nicht sagen können, wie wenig sie doch eigentlich über ihn wusste. Würde er ihr Vorschriften machen, wenn sie zusammenleben würden? Wäre er überpenibel oder schnell reizbar angesichts der Herausforderungen des Alltags? Aber überhaupt: sie hatte ja ihr Leben, in dem sie sich wohl fühlte. Jetzt wieder neu anfangen? Würde eine Millionärsgattin alles hinwerfen für ihren Poolboy? Sie lächelte: Sie war keine Millionärsgattin und er kein Poolboy. Sie schrieb den Begriff krakelig auf eine Karte, die sie zu den drei anderen warf.
„Gelegenheitsmann“ hatte sie spontan auf die nächste Karte geschrieben. Sie nahm noch eine Karte: „Ersatzmann“, und noch eine: „Austauschmann“. Ihr Gesicht rötete sich, ihr wurde heiß. Sie war sich selbst in diesem Augenblick eine Peinlichkeit. Wenn er all das für sie war, dann war sie doch das Arschloch. Wie ging das zusammen damit, dass sie ihn so mochte, dass sie sich sooft nach ihm sehnte, dass sie sich seit Jahren schrieben? Was war in dieser Zeit alles passiert? Ihre Kinder waren herangewachsen, zwei waren in der Zeit aus dem Haus gegangen. Auch das Verhältnis zu ihrem Mann hatte sich in dieser Zeit verändert, sie waren ja schon vor Jahren an dem Punkt gewesen, dass sie fast alles von sich kannten. Die Spannung hatte nachgelassen, sie waren so etwas wie eine vorhersehbare aber sichere Lebensarbeitsgemeinschaft geworden. Sie schliefen miteinander aber sie hatte sich nach mehr Leidenschaft gesehnt, die sie von ihrem „Pool-Man“ bekommen hatte. Sie empfand ihren Betrug ihrem Mann gegenüber wie einen jener kleinen Stachel im Fleisch, die nicht sehr weh taten, dafür aber fortwährend zwicken, bis man sie endlich mit viel Glück heraus bekommt. Sie wusste, dass sie sich irgendwann aufgespalten hatte. Wie sonst wäre es möglich gewesen, zwei Männer zu haben? Den einen fürs Leben, den anderen fürs Bett? Um sich als Frau zu fühlen? Was war daran falsch? Ohne die Lüge hätte ihr Zweitleben nicht lange Bestand gehabt, all das Prickeln wäre dahin gewesen, dieses Gefühl, sich als echte Frau zu fühlen – wovon ja auch ihre Ehe profitierte. Seit sie mit dem anderen schlief, war sie ausgeglichener, zufriedener und wieder weniger Mutter und mehr Frau geworden.
Sie nahm eine Karte und schrieb „Bett-Man” darauf. Ihr Ehemann wusste nichts von ihrer Liebschaft oder ihrer Affäre oder was es auch war. Der andere hatte erst vor kurzem erfahren, dass sie verheiratet war. Ein paar Jahre hatte sie ihm nichts über ihr Leben geschrieben. Natürlich hatte er es geahnt, auch weil sie sich nie bei ihr hatte treffen wollen. Einmal hatten sie sich kurz nach dem Urlaub gesehen und sie war braun gebrannt gewesen bis auf die helle Stelle an ihrem Ringfinger. Er war ja nicht dumm – also was? Er wusste, worauf er sich eingelassen hatte, und er hatte ja auch was davon. Aber offensichtlich wollte er jetzt mehr, sie biss sich auf die Lippe.
Sie sah sich auf einer Tribüne bei einem Fußballspiel, blickte hinunter auf die Bank mit den Ersatzspielern. Ein Spieler, der dort saß, lächelte immer mal wieder hoch zu ihr. Bevor das Spiel zu Ende war, ging sie hinunter, durch viele Flure hinein in einen Raum. Dort stand sie eine Weile leicht zitternd, bis sich die Tür öffnete und der Auswechselspieler herein kam. Ja, wenn man es hart sah, entsprach es dem, was sie dachte. Er war ein „Ersatzmann“, ein Ersatz für das, was ihr an ihrem Mann und in der Ehe fehlte. Vielleicht besser ein „Zweitmann“, der einen Mangel ausglich. War sie dann auch zwei Frauen? Eine, die in den Chats alles Mögliche versprach, die ihm im wirklichen Leben aber nicht mehr als ihren Körper zur freien Verfügung übergab? Also sollte sie ihm nun schreiben, er wäre ein Ersatzmann, der Gefahr lief, zum Auswechselspieler zu werden, wenn er weitere Ansprüche anmeldete? Sie wusste, dass sie das niemals schreiben könnte. Aber hatte er ihr nicht gerade geschrieben, dass er nicht geschont werden wollte, dass es ihm nur darum ging, die Wahrheit zu erfahren?
Sie nahm ein weiteres leeres Kärtchen: „Zweitmann“ stand nun darauf. Sie hielt dieses Kärtchen lange in der Hand. „Zweitmann“ traf es eigentlich ganz gut. Wenn sie ehrlich war, war er schon irgendwie ihr Mann, nur nicht ihr Hauptmann, sondern ihr Nebenmann. Wieder musste sie auflachen, nahm ein Kärtchen und schrieb „Nebenmann“ darauf. Definitiv, sie war ein Schwein. Ihrem Mann spielte sie die arbeitsame Ehefrau vor, ihrem Zweitmann die große Liebe. Sie fühlte sich nicht ganz wohl mit dieser Vorstellung. Zählte letztlich nicht die Ehrlichkeit in den entscheidenden Augenblicken? Würde sie dem anderen sagen: „Ich will dich treffen, ich will mit dir schlafen, ich möchte mit dir am Frühstückstisch sitzen und dich anlächeln und dich gut finden, ich möchte mit dir reden aber ich möchte niemals, dass du mein eigentliches Leben berührst, ich möchte nicht, dass du Teil davon wirst. Du sollst in einer künstlichen guten Welt existieren. Wir treffen uns, wir lieben uns, wir sind immer nett zueinander, wir sind so glücklich, uns einige Male im Jahr zu sehen und dabei soll es bleiben – mehr passt für mich nicht.“
‚Und wenn er sich aus Gram über meine Kaltherzigkeit von mir trennen würde?’ fragte sie sich in Gedanken, obwohl es im engeren Sinne nichts zu trennen gäbe, er müsste ja einfach nicht mehr im Chat antworten, was wäre dann? ‚Würde ich mich nach ihm verzehren, nach seinen Händen, nach seiner Nähe, seinem Humor? Empfinde ich eigentlich irgendetwas an ihm als negativ? Wohl nicht, weil ich seine negativen Seiten nicht kenne und ich ihm meine auch nie gezeigt habe.’
‚Vielleicht habe ich mich irgendwann aufgespalten wie ein Holzscheit, das die Lebensaxt in der Mitte auseinander geschlagen hat.’ Ist es denn verwerflich, wenn man sein Zuhause und seine Familie beschützen und gleichzeitig Lust empfinden will? „Sexpartner“ dachte sie und schrieb es auf. Sie sah auf die Kärtchen. Er wollte wissen, wer er für sie war. Konnte sie mit einem Wort darauf antworten, wenn sie nicht wusste, was sie für ihn empfand, weil es jeden Tag anders war und bei ihm bisher nicht die Notwendigkeit bestanden hatte, sich festzulegen? Das war ja auch der Sinn der Sache. Was sollte sie mit zwei Männern, die ihr nahe war, mit zwei Männern, mit denen sie sich streiten würde. Sie brauchte in Abständen Urlaub von ihrem Erstmann und den bot ihr ihr Zweitmann. Es war gefährlich, zu Ende zu denken, wer er für sie war. Sollte sie durch die Tür gehen, die er geöffnet hatte? Wie konnten zwei Frauen gleichzeitig durch eine so schmale Tür passen? Konnte nicht alles einfach so bleiben, wie es war?
Sie wollte zum Ende kommen, da kam ihr noch eine Idee und sie schrieb zögernd „Mein Geheimnis“. War das nicht das wirklich Entscheidende? Spaß machte es mit ihm im Bett vor allem, weil es verboten war, den eigenen Mann zu betrügen, obwohl es alle taten. Sie dachte daran, wie sie oft bei ihrem Mann saß, mit ihm redete und sich dabei vorstellte, mit dem anderen zu schlafen. Ein Mann alleine konnte sich ja nicht zerteilen. Ja, es war eine sinnvolle Arbeitsteilung, es weckte ihre Lebensgeister, baute sie auf, und es tat auch ihrem Ehemann gut, wenn sie jedes Mal, wenn sie von dem anderen zurück nach Hause kam, auch wieder mehr Lust hatte, mit ihrem Ehemann zu schlafen – ganz klassisch ein Win-win.
Noch mehr Kärtchen, und sie hätte ein Blatt für ein Kartenspiel daraus machen können. Doppelkopf? Poker? Welche war ein Trumpf und mit welcher konnte sie am besten bluffen? Sie nahm eine der beschriebenen Karten und steckte sie in den vorbereiteten Briefumschlag, auf dem bereits seine Adresse stand – geschrieben in der schönsten Version ihrer kunstvoll geschwungenen Handschrift.
Einen Moment lang wirkte sie unentschlossen und überlegte, weil sie eine zweite Karte in die Hand genommen und lange betrachtet hatte – bis sie sich abrupt erhob, ins Arbeitszimmer ging und am Computer in einer technisch wirkenden Schrift noch einmal seine Adresse tippte und direkt auf einem zweiten Umschlag ausdruckte. Danach tippte sie noch den Begriff, der auf dieser Karte stand, druckte auch diesen auf einem Blatt aus, das sie sorgsam faltete, steckte es in den bedruckten Umschlag und verschloss auch diesen.
Ihr Schlüsselbund klimperte, als sie sich federnden Schrittes mit den zwei Umschlägen auf den Weg zur Post machte, und die Wohnungstür fest hinter sich zugezogen hatte.