Man kann sich fragen, was eigentlich vor Sigmund Freund als Symbolfigur in den Köpfen der Mensch bezüglich ihres Bewusstseins war. Wie nahm man sich selbst vor der Idee wahr, dass im Menschen etwas unterbewusst oder unbewusst aktiv ist? Dass etwas handelt, das für unsere Wahrnehmung direkt nicht sichtbar ist? Was haben die Menschen lang vergangener Zeiten gedacht?
Wenn sie überhaupt gedacht haben in dem Sinne, wie wir es heute tun. Eine andere Frage ist, ob wir Kunst als eine Botschaft verstehen, die aus dem Unbewussten stammen könnte, um vom Bewusstsein entschlüsselt zu werden. An dieser Stelle könnte man die Frage stellen, warum entwicklungsgeschichtlich ein Bewusstsein überhaupt wichtig geworden ist. Welche Funktion hat es und welchen Notwendigkeiten entspricht es?
Bewusstheit als Verhaltens-Korrektor
Man könnte antworten, dass ein unbewusstes Leben nicht in der Lage wäre, verhaltenskorrigierend tätig zu werden, das heißt, Selbstreflexion und Introspektion wären ohne Bewusstsein nicht möglich. Aber bringen diese Eigenschaften des Bewusstseins nicht auch viel Verkopftheit in die Ursprünglichkeit der Kunst? Schafft nicht erst das Bewusstsein viele Probleme auch moderner Kunst?
Der Künstler als Reiz-/Reaktions-Organismus
Als Alternative könnte man sich ein gänzlich unbewusstes Leben vorstellen. Dabei wäre das unbewusste Leben so, wie man sich das bei Tieren vorstellt: Der Mensch wäre ein automatisch von allein funktionsfähiger Organismus, der lediglich auf Reize reagiert. Das täte er schnell und augenblicklich, ohne aber langfristige Perspektiven schaffen zu können und ohne ehrgeizige Ziele zu erreichen. Tiere können zwar zum Beispiel Nester bauen, Flüge in andere Klimazonen zurücklegen oder wie der Lachs entgegen der Flußströmung zum Ort seiner Geburt zurückkehren, um dort abzulaichen und sich erneut fortzupflanzen. Sie könnten aber keine Häuser bauen und keine Bilder malen. Kunst im Kulturraum wie wir sie kennen, wäre ohne Bewusstsein nicht denkbar.
Das Bewusstsein als Entscheidungshelfer
Ausschließlich unbewusst zu funktionieren, würde es schwerlich möglich machen, sich selbst umzuprogrammieren. Denn erst ein aktives Bewusstsein könnte das eigene Verhalten oder dessen zugrunde liegende Denkstrukturen analysieren und damit eine Basis für Veränderung schaffen. Das Bewusstsein wäre damit ein Instrument komplexer Entscheidungen. Einen Wolkenkratzer statisch korrekt zu konstruieren, könnte keine Instinkthandlung sein. Hier wäre das Bewusstsein gefragt. Überhaupt hat das Bewusstsein gerade dort seine starken Momente, wo es um Quantifizierbarkeit und Vorhersagbarkeit anhand einer klaren Faktenlage geht.
Ausdrucksfähigkeit und Intuition
Damit wäre andererseits aber bereits gesagt, was das Bewusstsein nicht kann oder nicht gut kann: augenblicklich auf Erfordernisse zu reagieren. Denn bevor man sich bewusst gemacht hat, wie man dem herannahenden Auto ausweichen kann, hätte es einen schon erfasst. Das Unterbewusstsein wäre damit stark in Augenblicks-Entscheidungen aber auch im Zusammenspiel mit Unwägbarkeiten wie dem Zufall. Also dort, wo ausführliches bewusstes Nachdenken zu einem nicht eindeutig positiven Ergebnis käme. Kunst ist vielerorts die Verwaltung von Zufällen, die in Entscheidungsprozesse intuitiv eingebunden werden. Zudem ist die Intuition des Unbewussten den Ursprüngen unseres Seins und unserer Weltsicht automatisiert viel näher als das Bewusstsein, das oft der Meinung ist, Herr über die eigene Ausdrucksfähigkeit zu sein.
Das Bewusstsein als Erkenntnisebene
Kunst könnte man sich wie einen Schwimm- und Tauchvorgang vorstellen: Bleibt der Schwimmer an der Oberfläche, denkt und handelt er bewusst. Aber das große Geheimnis ist unter der Oberfläche zu finden. Immer wenn der Schwimmer hinab taucht oder dort lange unter Umständen sogar in einer Taucherglocke verharrt, könnte er Besonderes zu Tage fördern. Das, was er von unten hoch holt, kann er sich oben auf der Ebene des Bewusstseins wieder klar machen. Das Bewusstsein wäre also eine Betrachtungsebene, die in der Lage ist etwas erst zu sehen, zu analysieren, einzuschätzen und für sich zu bewerten.
Zusammenwirken von Unbewusstem und Bewusstem
Der künstlerische Prozess ist ein Wechselspiel zwischen dem Tauchen im Meer des Unbewussten und dem Erblicken und Bewerten durch das Bewusstsein. Dabei ist andererseits denkbar, dass eine Zeichnung komplett Produkt eines unbewussten Vorganges ist. Erst danach macht man sich bewusst, was man geschaffen hat. Es könnte aber auch sein, dass die Zeichnung in Intervallen zwischen Unbewusstem und Bewusstem stattfindet, dass also auf den unbewussten Prozess des Kreierens ständig und kleinteilig ein bewusster Vorgang des Beurteilens folgt – vielleicht hundertfach oder tausendfach pro Zeichnung, je nach visueller Komplexität.
Der Bewusstseins-Strich
Der einzelne gesetzte Strich könnte unbewusst gezeichnet sein und augenblicklich vom Bewusstsein bezüglich seiner handwerklichen Ausarbeitung oder seiner Wirkung beurteilt werden. Der nächste Strich könnte dementsprechend etwas anders gezeichnet werden, zum Beispiel kürzer, dicker, ruhiger, schwungvoller oder dynamischer, um eine bestimmte vom Bewusstsein angestrebte Wirkung zu erzielen. So könnte theoretisch jeder Strich einer Zeichnung Ergebnis des Zusammenwirkens von Unbewusstheit und Bewusstsein sein.
Bewusstsein als Sehhilfe
Das Bewusstsein könnte man sich auch wie ein Brille vorstellen. Erst durch sie kann man sich selbst, das eigene Fühlen, Denken und Handeln erkennen und zugleich beurteilen. Mithilfe von Systemen wie den Naturwissenschaften, den Sprachen oder der Mathematik kann man das Bewusstsein selbst oder zumindest seinen Wirkungsgrad erhöhen. Bei der Kunst ist das Zusammenwirken von Unbewusstem und Bewusstem wie die Zusammenarbeit zweier Personen zu verstehen, die im ständigen Dialog miteinander stehen. Der Schwerpunkt des Unbewussten ist dabei die Schaffenskraft, der des Bewusstseins Strukturierung und korrigierende Ordnung.
Bewusstsein und Unterbewusstsein als zwei Personen
Das Unbewusste ist eine hoch emotionale, intuitive Person, die in Form des Bewusstseins mit einer rational-reflexiven Person Zusammenarbeit. Was für den Architekt die Errichtung eines Gebäudekomplexes wäre, wäre für den Künstler etwa ein Bilderzyklus. Den jedoch könnte er nicht überzeugend ohne Bewusstsein schaffen. Denn das Unbewusste könnte Wiederholungen oder zu vordergründige Variationen nicht erkennen. Eine komplexe, langfristig ausgelegte und intelligent-mannigfaltig variierte Ausdrucksform bedarf eines klaren Bewusstseins.
Dynamik und Statik in der Kunst
Vielleicht könnte man dem ungestümen wilden Expressionismus eine gewisse Unbewusstheit attestieren und dem Konstruktivismus sehr viel Bewusstheit, vielleicht wäre das Unbewusste ursprünglich sowie voller Spannungen und das Bewusstsein abgehoben und langweilig – und vielleicht wandelt sich das Individuum in seinem Menschenleben vom unerfahrenen Unbewussten zum erfahrenen Bewussten, vom Dynamischen zum Verinnerlichten, vom Spannenden zum Statischen.
Bewusstsein und Kultursystem
Vielleicht kann man sich das Intuitive auch als einen schicken schnellen Automatik-Sportwagen mit kurzen Reaktionszeiten vorstellen und das Bewusstsein als Limousine mit Navigationssystem. Unsere Kultur als ästhetisches System wäre jedenfalls ohne Bewusstsein nicht existent, auch weil ein Kulturraum eine Reaktionskammer nahezu unendlich vieler Reize ist, in der der eine Künstler auf den anderen oder auf sich ständig wandelnde gesellschaftliche Gegebenheiten reagiert.
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