Das bewusste Erleben setzt einen Regelkreis der Wahrnehmung voraus. Das bedeutet: Ich nehme wahr, zum Beispiel indem ich etwas bewusst und konzentriert betrachte. In diesem Moment bin ich mir der Wahrnehmungssituation, in der ich mich befinde, bewusst. Ich nehme also nicht nur wahr sondern beobachte und beurteile meinen eigenen Wahrnehmungsprozess. Würde ich das nicht tun, würde dieser nicht bewusst sondern unbewusst vonstatten gehen.
Selbstreflexion als Bewusstseins-Grundlage
Die Rede ist hier von der Fähigkeit zur Selbstreflexion als Voraussetzung für Bewusstsein. Man könnte, um es weiter einzuengen, annehmen, dass die selbstreflektorische Beobachtung der eigenen Aktivitäten der Kern des Bewusstseins ist oder sogar das Wesen des Bewusstseins selbst. Reflexion bedeutet das Schließen einer Schleife, denn erfolgt etwa eine Handlung und wird diese bewusst wahrgenommen und bewertet, könnte sie ein verändertes Verhalten initiieren und somit einen neuen Handlungszyklus in Gang setzen.
Das ständige Bewusstsein
Betrachtet man den menschlichen Geist als Gesamtsystem, das Bewusstsein erzeugt, bei dem Denken, Fühlen und Wahrnehmen funktional involviert sind, ergibt sich die Frage danach, wie dieses Gesamtsystem prinzipiell beschaffen sein muss, um Bewusstsein erzeugen zu können. Ein Problem des Bewusstseins sind die Konsequenzen seiner möglichen Kontinuität.
Soziale Ich-Konstruktion
Ein unaufhörlich ablaufendes Bewusstsein würde ein hohes Maß an bewusster Informationsverarbeitung nach sich ziehen. Zuviel Bewusstsein wäre vermutlich deshalb nicht verarbeitbar. Bewusstsein könnte in seiner Konsequenz das Individuum als fühlendes und als ein das Selbstbild erzeugender Organismus beeinträchtigen und sogar schädigen. Nämlich dann, wenn das Bewusstsein unaufhörlich zu Tage fördern würde, wie unbewusst und ungerichtet die eigene Existenz ist, wie sehr sie eines Korsetts des sozial konstruierten Halts bedarf, um überlebensfähig sein zu können.
Schutzfunktion „Blinder Fleck“
Das bewusste Erleben der Fragmentierung, Brüchtigkeit und Stützbedürftigkeit des eigenen Ichs mit der Konsequenz, dass das vom Individuum erzeugte und wahrgenommene Ich nur virtuell existiert, würde bei Dauerhaftigkeit eines Bewusstseins also dessen Überbeanspruchung zur Folge haben. Deshalb kann man das Bewusstsein als nicht-permanenten Zustand annehmen, der einmal der punktuellen Problemlösung dient oder primär nicht auf die ständige Selbstbeobachtung und Introspektion der eigenen Person ausgelegt ist. Diese Struktur könnte man den „blinden Fleck“ nennen, der ein Schutzmechanismus ist.
Persönlichkeitsbildung und Selbstreflexion
Das Bewusstsein zuende gedacht, wäre ein Infragestellen der eigenen konsistenten Persönlichkeit. Auch hier bei der Wahrnehmung und Analyse bezüglich des eigenen Ichs ist die Selbstreflexion das wichtigste Element der bewussten Erkenntnis. Wenn aber die Permanenz des bewussten Wirkens damit infrage gestellt wäre, stellt sich als nächstes die Aufgabe zu erkennen, was noch aus dem Vorhandensein des Bewusstseins folgt:
- Vorstellungskraft: Limitiertes Bewusstsein muss eine Wesenseigenschaft nach sich ziehen, die die Fähigkeit zur Imagination aufweisrt. Wenn nämlich das Bewusstsein bezüglich des eigenen Ichs kein kontinuierlicher Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess ist, müsste er durch eine Vorstellungswelt ergänzt werden, die mutmaßen kann, was nicht bewusst zu ermitteln wäre.
- Schmerzmittel: Zudem muss diese Vorstellungskraft in der Lage sein, bestimmte sensible Bereiche des eigenen Seins und seiner determinierten Ich-Eigenschaften so auszudrücken, dass sie nicht schmerzen. Dies wird zum Beispiel durch indirektem symbolhafte Darstellungsformen erreicht.
- Schutzwall: Hier beginnt eine Schutzfunktion, die das Ich und sein beherbergendes Individuum vor Selbstzerstörung und Selbstauflösung schützt. Das wäre die Fähigkeit des Individuums, eine Flucht vor dem bewussten Erleben zu initiieren. Man kann dies „Eskapismus“ nennen. Das meint all jene Bestrebungen, um unbewusst oder bewusstlos leben und agieren zu können.
Kunst als ästhetische „Flucht“
Das Konstruktionsprinzip eines Wesens mit Bewusstsein muss also einerseits sein, über Nutzung des selbstreflektorischen Bewusstseins Aufschluss über sich selbst zu erlangen und zum anderen durch Flucht vor dem Bewusstsein dessen Erkenntnisfähigkeit auszuschalten, um zu schmerzhafte Erkenntnisprozesse zu vermeiden. Daraus erklärt sich die menschliche Eigenschaft, in konstruierte oder virtuelle, in Schein- oder Traumwelten zu flüchten. Auch ästhetische künstlerische Welten, deren Gesetzmäßigkeiten der Künstler selbst festlegt, können hier ihren Ursprung haben.
Offenbarungen des Bewusstseins
Man kann sich das Bewusstsein als eine die Wirklichkeit offenbarende Rasierklinge vorstellen, die scharf genug ist, um sehr tief schneiden zu können und dadurch etwas frei- und offenzulegen – so tief, dass es auch weh tun oder gefährlich werden könnte. Die Möglichkeiten der Bewusstseinsflucht, halten das Bewusstsein aber davon ab, zu tief zu schneiden. Sie ermöglichen es dem Bewusstsein im Normalfall, nur in eine gewisse Schnitttiefe vorzudringen, die entweder unverfänglich oder ungefährlich ist.
Kreation und Beurteilung
Die Kunst als Bildsprache oder als verschachtelte Symbolsprache, die Inhalte vielschichtig darstellen kann, ist eine Möglichkeit des unbewussten Erkenntnisgewinns, der das Bewusstsein nur partiell einschaltet. Kunst entsteht analog etwa zu einer Meditation in einem Zustand der Versenkung, in dem das Bewusstsein ausgeschaltet ist. Es ist nicht möglich, beim Zeichnen oder Malen jeden einzelnen Strich bewusst zu setzen. Das Zeichnen erfolgt also eher unbewusst, mit einer initiierenden bewussten Absicht und in einem in Intervallen auftretenden intermittierenden Prozess der Selbstreflektion mit bewusster Einordnung der eigenen Arbeit. Zu malen oder zu zeichnen ist so zweigeteilt in einen weitestgehend unbewussten schöpferischen und kreierenden Prozess und einen beurteilenden, rückkoppelnden Prozess, in dem das Werden des Werkes immer wieder ins Bewusstsein geholt und kritisch beurteilt wird.