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Kunsttagebuch: Wahrheit und Verdrängung

Der Mensch befindet sich in einem seltsamen Zwiespalt. Die Wahrheit will er sehen und erkennen und kann sie dennoch nur häppchenweise und nie vollständig ertragen, weil sie ihm zu viel würde. Wer seiner vollständigen Wahrheit zu nahe käme, liefe Gefahr durchzudrehen.

Deshalb gibt es nicht nur aktive Verdrängungsmechanismen wie „positives Denken“ sondern auch ganze Industrien, die dem Zuhörer oder Zuschauer Fluchtwelten vorgaukeln. Dazu zählen Pferdewetten, Poker, Serien-Binge-Dauerschauen, Filme, Video-Spiele und Social Media als Lebenswelt.

Die Wahrheit als Gift?

Was würde geschehen, wenn alle Menschen sich die Wahrheit sagen würden? Wäre das das Ende des sozialen Miteinanders, das Ende der Zivilisation und der Kultur? Man kann es annehmen – weil unser Selbstbild die ungefilterte Wahrheit nicht ertragen könnte. Andererseits braucht der Mensch die Wahrheit und jagt ihr sogar hinterher. Wähler, Journalisten, Detektive, Philosophen und ernsthafte AutorInnen wollen die Wahrheit zutage befördern. Nur darf Wahrheit genauso wenig permanent auf einen einströmen wie die Unwahrheit.

Der blinde Fleck hat einen Sinn

Ein Wahrheitssucher ist auch der Künstler. Es gibt aber in der Kunst einen Unterschied zwischen „etwas sagen“ bzw. „sich etwas sagen“ einerseits und andererseits „etwas verschlüsselt symbolisch sagen“ bzw. „sich etwas verschlüsselt symbolisch sagen“. Symbolische Kunst, allegorische Kunst oder Kunst, die metaphorisch kommuniziert, unterläuft Verdrängungsmechanismen, indem sie Vermittlungskanäle verwendet, die nicht direkt und eindeutig etwas ausdrücken. Die Art, etwas zu vermitteln und nahe zu bringen, ist dosiert, weil man Inhalte nicht so einfach und nicht so schnell erfassen kann. Kunst, die indirekt kommuniziert, entschleunigt die Wahrnehmung.

Die dosierte Wahrheit

Kunst kann Wahrheiten vermitteln, die die Verdrängung nicht überfordert. Verdrängung ist ein dosierter Schutzmechanismus gegenüber der Wahrheit. Kunst kann Inhalte zeigen und gleichzeitig verdecken, nach außen kehren oder in ihrem Inneren verschwinden lassen. Wer vor einem Kunstwerk steht und es betrachtet, stellt sich fast immer die Frage nach dessen Bedeutungsgehalt. Die Entschlüsselung von Bedeutung ist ein Prozess der Filterung und der Offenbarung. Wahrheit und Verdrängung sind zwei Seiten derselben Medaille. Deshalb bedingen sich Wahrheit und Unwahrheit – nicht nur in der Kunst.

Weitere Kunsttagebücher:

  1. Was ist Kunst? Und warum nicht?
  2. Als die Nacht aus dem Blickwinkel des Tages unterbelichtet wirkte
  3. Warum Eitelkeit zur Kunst gehört und doch ihr Untergang ist
  4. Ziellosigkeit als Grundlage assoziativer Prozesse
  5. Kopfkino oder zeigen und weglassen im anspruchsvollen Film
  6. Warum die Größe einer Zeichnung ihre Aussage verändert
  7. Wann Form ein Inhalt sein kann
  8. Was könnte das sein?
  9. Gedanken-Gefühls-Bilder innerhalb einer Formgenese
  10. Die Welt ist voller Möglichkeiten oder Zufall und Entscheidung in der Kunst
  11. Über das „Zuviel“
  12. Wiederholung als Formoptimierungs-Prozess
  13. Der assoziationsoffene Raum
  14. Kunst und technisch-handwerkliches Können: Warum es besser ist, nichts zu können
  15. Methoden der Kunst: Durch Wegnehmen und Hinzufügen Bedeutungen erschaffen
  16. Der Kunsst
  17. Was ist Kunst?
  18. Künstler-Selbstbild: Skizze eines zufallsgesteuerten Lebens ohne anarchistische Romantik
  19. Beliebigkeit als Kunstprinzip: Über die vermeintliche Sinnlosigkeit assoziativer Folgerichtigkeit
  20. Langlauf oder Kurzstrecke? Das Intervall in der Kunst
  21. Der Künstler: Ein Assoziationsautomat
  22. Zeichnen und die Macht des Zufalls
  23. Vorhersehbarkeit und Offensichtlichkeit – über die Langeweile in der Kunst
  24. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  25. Hinz- und Kurzgeschichte: Als der Unterhaltungskünstler den ernsthaften Künstler traf
  26. Über die metaphorische Schwangerschaft der Bilder
  27. Über das Vorläufige und das Endgültige in der Kunst
  28. Warum Kunst ein Virus ist
  29. Kreieren und wiederholen: Warum Kunst nicht kreativ ist
  30. Das Unverwechselbare in der Kunst als Ausdruck der eigenen Unfähigkeit
  31. Das Ungefähre als das nicht Greifbare
  32. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  33. Der blinde Fleck und die Kunst der Betrachtung
  34. Kompetenz und Versagen als sich selbst bedingende Gleichzeitigkeit
  35. Kunst als Selbstdialog
  36. Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
  37. Die Überforderung
  38. Eindeutigkeit und Wahrnehmung in der Kunst
  39. Kunst als Sprache
  40. Der Mangel als Ansporn
  41. Bedeutung und Orientierung als Ziele der Kunst
  42. Selbstbild und Seins-Inszenierung
  43. Kunst als Chiffre der Notwendigkeit
  44. Kunst als fortgesetzter Traum
  45. Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?
  46. Die Maslow-Bedürfnis-Pyramide oder fühlen und durchleben in der Kunst
  47. Jenseits der Worte
  48. Das Gefühl für die Dinge oder von der Schwierigkeit, Kunst zu definieren
  49. Zwischen Selbsttransformation und Fremdwahrnehmung
  50. Die Absolutheit der Ich-Perspektive
  51. Fehler machen als „Sesam-öffne-dich“
  52. Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen
  53. Jede Regel will gebrochen sein
  54. Die Intrinsik als Wesenszug
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