Das Märchen vom Hasen und dem Igel handelt davon, dass der vermeintlich schnellere Hase feststellen muss, dass der Igel bereits immer schon da ist, wenn er, der Hase, am Zielpunkt angekommen ist. Das Geheimnis des Igels ist es, dass seine ihm gleichende Frau einfach am Zielpunkt wartet. Der Igel ist also quasi doppelt vorhanden und muss sich gar nicht anstrengen, um ans Ziel zu gelangen. Er ist also immer schon da, und das zu jedem Zeitpunkt – einfach zum Verzweifeln.
So ähnlich verhält es sich mit einer Kunst-Definition: Meint man, eine griffige allgemeingültige Erklärung dafür gefunden zu haben, was Kunst ist, und passt diese Beschreibung zu der Kunst, wie man sie im Augenblick des Nachdenkens vor sich sieht, offenbart sich direkt danach jedesmal eine andere Kunst, auf die die gefundene Definition doch nicht (so ganz) zutrifft. Zum Beispiel: denke ich, Kunst kommt aus dem Gefühl, offenbart sich eine Kunstrichtung, die dann doch rational dominiert ist, etwa im Werk von Piet Mondrian, Victor Vasarely oder M. C. Escher.
Gefühl und Verstand
Man mag das rationale Element in der Kunst wiederum einschränken und von einer Synthese sprechen. Bei Escher etwa liegen seinen Werken zwar rationale Überlegungen zugrunde aber die Umsetzung könnte Gefühlssache sein – genauso wie mein Gefühl mir sagt, dass die zu einfachte und damit gleichmacherische Simplifizierung meines Merksatzes zerstört ist.
Einfach und kompliziert
Ein anderes Beispiel: Ich behaupte, Kunst ist vielschichtig. Dann betrachte ich die erotischen Zeichnungen Gustav Klimts und vermisse diese Vielschichtigkeit. Die Zeichnungen sind, was man auf den ersten Blick sehen kann, gänzlich ohne doppelten Boden. Andere seiner Werke sind allegorisch. Sind die privaten Zeichnungen eines Malers dann keine Kunst bzw. sind sie „schlechtere“ Kunst oder aber unverzichtbarer Teil des Schaffensprozesses? Es mag unterschiedliche Betrachtungsweisen zu dieser Frage geben und dementsprechend gleich mehrere gleichberechtigte Antworten. Aber auch hier werden die Umstände immer komplizierter und was Kunst sein mag und welche Eigenschaften sie haben muss, ist deshalb zunehmend weniger eindeutig.
Absichtslos oder Auftraggeber-gemäß
Auch ein ideales Postulat, dass Kunst absichtsfrei sei, dass sie sich den Zwängen etwa von Kommerz, staatlicher Vorgabe und allgemein jeder Einmischung entziehen sollte, wäre ein Anspruch, der nur zum Teil seine Berechtigung hat. Denn bedeutende Werke wie die Malereien Michelangelos sind Auftragsarbeiten gewesen. Und so muss ein Künstler vorbehaltlich seiner Absichtslosigkeit leben und unter Umständen seine Kunst als Auftrag oder als thematisch ausgerichteten Wettbewerbsbeitrag realisieren. Nicht zu reden etwa von rein kommerziellen Illustrationsarbeiten, die mitunter ebenfalls längst die Grenze zur Hochkultur durchbrochen haben. Die den Jugendstil prägenden Zeichnungen von Aubrey Breadsley etwa waren zu einem guten Teil Buchillustrationen, also kommerzielle Werke. Oder wie ist Kunst einzuschätzen, die zum Investitionsgegenstand und Wirtschaftsfaktor geworden ist und zu diesem Zweck auch angefertigt wird? Kunst verallgemeinernd als eine nur sich selbst verpflichtete Ausdrucksform zu definieren, funktioniert also wieder nicht.
Allgemeingültig oder Sonderfall
Die Liste sich widersprechender Eigenschaften ließe sich beliebig erweitern. Der Versuch, Kunst in eine zu enge Zwangsjacke zu pressen, würde ihr nicht gerecht werden. Möglich wäre es, Ansprüche an die Kunst zu stellen und Thesen dafür zu formulieren, was ihre Ziele sein könnten. Anwenden und herunterbrechen müsste man das auf den jeweiligen Fall. Letztlich mag man darauf kommen, dass die Vielfalt der Kunst der Vielfalt des menschlichen Fühlens, Denkens und Agierens entspricht und allgemeingültig nur so abstrakt beschreibbar ist, dass eine Praxisrelevanz kaum noch gegeben ist. Will man es genauer, muss man Kunst für viele Einzel- und Sonderfälle definieren und sich entscheiden, ob Kunst etwa der Selbstverwirklichung dient oder zielgruppenorientiert einen Publikums- oder sogar Massengeschmack bedient.
Motiv und Ursache
Was man weiß, ist: Kunst ist ein Ausdrucksmedium und hat eine Ausdrucksform. Der Weg, den jemand beschreitet, um etwas auszudrücken, ist aber nicht vorherzusehen. Auch warum er dies tut, kann völlig unterschiedlich motiviert sein. Hinzu kommt, dass jeder Künstler oder jeder Kunstschaffende seine eigenen unverwechselbaren Eigenschaften mitbringt, sowohl Fähigkeiten als auch Unfährigkeiten, die die Kunst als Ergebnis eines Schaffensprozesses formen. Vermögen oder Unvermögen etwas auszudrücken machen es fragwürdig, ob etwas Kunst ist, gar keine Kunst, Kunsthandwerk oder Handwerk. Immer also, wenn man meint, den Schlüssel dazu gefunden zu haben, was Kunst ist, und man überprüft diese Annahme, wartet bereits eine andere These, die allgemein formuliert ebenso berechtigt oder unberechtigt sein mag. Wenn man eine Antwort auf die Frage, was Kunst ist, gefunden hat, ist auch die gegenteilige Antwort immer schon da, ganz egal, wie man methodisch vorgeht. So kann etwa ein nach gängigen Kriterien künstlerisch Unvermögender etwas schaffen, das dennoch große Wirkung auf seine Betrachter hat. Das, was Experten, für Nicht-Kunst halten würden und wenig ausdrucksstark, würde dennoch eine Reaktion beim Betrachter hervorrufen. Wäre es dann „nur“ Betrachtungskunst?
Kunst oder Nicht-Kunst
Das Heil der Kunstdefition mag in ihrer Allgemeinheit oder Verallgemeinerbarkeit liegen und doch wird eine solche Definition immer unspezifischer und immer weniger der Kunst ansich gerecht. Aber auch viele unterschiedliche und gleichberechtigte Definitionen würden es erschweren, Kunst zu verstehen. Es bleibt eine Lösung: Kunst ist ein Ausdrucksmedium, das unbestimmbar bleibt. Letztlich wäre es damit unmöglich, zu bestimmen, was Kunst ist und was nicht. Anstelle einer allgemein gültigen Definition tritt ein persönlicher Wertekanon, der zur Auseinandersetzung einlädt. Die zahlreichen Inhalte dieser Auseinandersetzungen und Meinungen formen in ihrer Vielschichtigkeit ein Gefühl dafür, was Kunst sein mag und was nicht.
Verstand und Gefühl als Instrumente
In der gefühlsgesteuerten Wahrnehmung solcher kulturellen Diskurse tritt etwas Verblüffendes zutage: Der Verstand ist gut in der Wahrnehmung von Klarheit und Eindeutigkeit, das Gefühl spielt seine Vorteile in der Wahrnehmung von Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit aus. Die Unklarheit kann so über die Intuition exakter wirken als es die Klarheit über den Verstand vermag.
Weitere Kunsttagebücher:
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