Stell dir mal vor, vor dir liegt ein schwarzer und ein weißer Würfel, mit etwas Abstand dazwischen. Wenn du zwischen den Würfeln schnell hin und her blickst, kann es sein, dass du irgendwann als Mischfarbe aus den beiden anderen ein Grau siehst. Du siehst Grau, obwohl es als Motiv oder Farbe eines tatsächlichen Gegenstandes nicht vorhanden ist. Das ist Virtualität im Kopf.
Ein anderes Beispiel: Zwei Menschen diskutieren über Flüchtlinge und Zuwanderung in Deutschland. Der eine Diskussionsteilnehmer ist gegen Zuwanderung, der andere dafür. Sie tauschen ihre Argumente aus und führen ein konstruktives Gespräch. Jeder bleibt zwar am Ende des Gespräches bei seiner Meinung aber sie haben die Position des jeweils anderen verstanden. So formt sich virtuell eine Art Konsens.
Die virtuelle ungefähre Meinung
Es ist, als würde er unsichtbar im Raum schweben. Er ist weder die neue Meinung des einen noch die des anderen, er ist eher eine Option als Mischung aus beiden Meinungen. Als Option ist er zwar gedanklich vorhanden aber (noch) nicht im Kopf der beiden Diskutanten vorhanden geschweige denn ausgesprochen – also wäre dieser Gedanke rein virtuell, enthalten in einem begrifflich schwer zu fassenden Bereich des Denkens oder Fühlens. Man könnte diese mögliche inhaltliche Position auch als Ahnung einer möglichen Meinung bezeichnen.
Ich und Bewusstsein als virtuelle Projektionen
All dies mag sofort einleuchten, es ist allerdings nur die beispielhafte Basis für ein Denkmodell: dass nämlich Positionen, Haltungen und allgemein impulsvermittelte Informationen virtuell und nicht biologisch oder physikalisch manifest sind. Sie könnten als Vermittlungen zwischen Positionen, etwa zwischen Extrempolaritäten, aufgefasst werden. Unser Ich und unser Bewusstsein können mutmaßlich ebenfalls solche virtuellen Projektionen sein. Was wäre, wir hätten zu einem Thema eine feste Meinung, die später auch als klare Erinnerung daran, was wir zum Zeitpunkt des Gespräches gedacht und gesagt haben, abrufbar wäre? Zugleich hätten wir aber drei andere Meinungen alternativ angedacht, die virtuell neben der manifesten Meinung vorhanden wären. Das wäre eine Art des Mehrfachdenkens, das etwa im Falle der Ausformulierung von Gemeinsamkeiten oder der Anbahnung eines Kompromisses zum Tragen kommen könnten. Auch hier, ähnlich wie beim durch die Augen gegenständlich nicht wahrnehmbaren Grau, würde etwas vorhanden sein, dass eigentlich nicht real existiert. Andererseits könnte man es „die real existierende Virtualität“ nennen, die zwar eigentlich nicht da ist aber doch Relevanz entfaltet.
Das virtuell Wichtige
Was wäre nun, wenn alles, was für uns wesentlich aber nicht greifbar ist virtuell wäre aber damit in seinen Konsequenzen nicht weniger wichtig? Vielleicht sogar im Gegenteil: weil es so wenig greifbar ist, sind wir danach ein Leben lang auf der Suche. Nach der Liebe, nach dem eigenen Ich oder nach unserem Bewusstsein. Auch etwa die Frage „Was sind andere Menschen für uns?“ scheint konkret und doch, je mehr man in die Details geht, desto schwerer erklärbar oder wahrnehmbar werden die Mechanismen des sozialen Miteinanders.
Konstruktion der Wirklichkeit
Es könnte aber noch weiter gehen: Die Wissenschaft versucht, gerade das, was der Mensch für sehr menschlich hält, all die Gefühle, die Verhaltensweisen, Neurosen oder Verrücktheiten, biochemisch zu definieren. Verschiedene Hinweise, etwa Beeinträchtigungen durch partielle Hirnschädigungen etwa bei Unfallopfern, legen das auch nahe. Dennoch könnte es sein, dass manches, was zu unseren Eigenschaften zählt, nicht so einfach mechanistisch erklärbar ist, sondern Ergebnis einer Projektion ist bzw. eine projizierte Virtualität, die im eigentlichen Sinne nicht biochemisch vorhanden ist und damit nur die übergeordnete Folge eines solchen biochemischen Prozesses. Der Gedanke ließe sich vertiefen: Könnten Eigenschaften wie „Intuition“, „Fühlen“, „bewusstes Denken“, „Selbstbild“ oder „Weltbild“ virtuell-manifeste Konstruktionen sein?
Selektive und interpretierende Wahrnehmung
Philosophie und Soziologie sind manchmal extrem in ihrem Weiter- oder Zuende-Denken. So gibt es Strömungen in der Soziologie, die eigentlich alle wesentlichen verhaltensrelevanten Eigenschaften als sozial konstruiert annehmen, ob die Zweigeschlechtlichkeit, Ordnungsprinzipien, Hierarchien, Führungsverhalten, Identität, Kriminalität oder Alter. Der radikale Konstruktivismus in der Philosophie geht davon aus, dass wir nicht in der Lage sind, eine objektive Realität zu erkennen und dass das, von dem wir denken, wir würden es sensorisch wahrnehmen, von uns selbst in unseren Köpfen konstruiert wird. Demnach würden wir die Ergebnisse unserer sensorischen Wahrnehmungen gewichten, weglassen, interpretieren, kurz: subjektivieren, und unseren Bedürfnissen, die zum Beispiel viel mit unserem Selbstbild zu tun haben, anpassen. Ein in seinem Selbstbild deformierter Mensch könnte dann zum Beispiel Schwierigkeiten haben, seine eigenen Fehler überhaupt wahrzunehmen oder im Gegenteil dazu neigen, diese zu dramatisieren oder überzubetonen.
Mechanistische Weltsicht und Virtualität
Vermutlich sind die Begriffe der „Konstruktion“ und der „Virtualität“ entscheidend für die Beschreibung des Menschseins, andererseits gibt es aber Grundgegebenheiten, die man als „mechanistische, physikalische oder biochemische Grundlagen“ bezeichnen würde, auf denen diese Virtualität erst aufsetzt bzw. die sie erzeugen. Was dennoch bleibt, ist die schwierige Fassbarkeit des Unbestimmten, das die sensorisch erzeugte Virtualität ist. Wo verläuft die Trennlinie zwischen Glaube und Wahnsinn, wo die zwischen Meinung und Faktum?
Ein Ursache-Wirkungs-Pradoxon
Das Menschenbild jedoch, das traditionell von „Manifestation“ und von „Materie“ geprägt ist, hat sich inzwischen geändert. Der Pendel der Wissenschaft sowohl in der Teilchenphysik, wie auch in Hirnforschung und Soziologie schlägt seit langem in eine andere Richtung aus, bei der das materiell Greifbare nur eine Dimension von mehreren Dimensionen ist. Die andere Seite mag man „Konstruktion’ oder „virtuell“ nennen, „Projektion“ oder „Ergebnis eines emergenten Prozesses“. Die Virtualität, die man bisher mit dem Cyberraum im Web oder im Videogame gleichgesetzt hat, wird aber begrifflich inzwischen auch anderweitig wichtig und damit sehr handfest. Sie bezeichnet das, was unser Gehirn an selbst entwickelter Software nutzt und zum besten gibt – sie ist nicht zu sehen, nur zu ahnen und flüchtig wie ein Gedanke.