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Als die „schweigende Mehrheit“ eine Art Stimmbruch erlitt und nicht mehr aufhörte zu reden

Politikverdrossenheit

Die „schweigende Mehrheit“ ist eine Paradoxie, die sich selbst widerspricht. Denn, wer schweigt, dessen Existenz kann man als Politiker gar nicht wahrnehmen. Also kann ein Politiker gar nicht wissen, dass es sie gibt. Aber man könnte als nicht vollständig auf den Kopf gefallener Politiker per „gesundem Menschenverstand“ einfach mal davon ausgehen, dass es diese „schweigende Mehrheit“ in irgendeiner Form gäbe, vor allem dann, wenn man die nicht artikulierte Meinung der „schweigenden Mehrheit“ als Beleg dafür nehmen würde, dass man selbst recht mit dem hat, was man gerade behauptet hat.

Eigentlich war es ja genau besehen nur die eigene wenig originelle Meinung, die man von sich gegeben hat. Die behauptete Bejahung durch die „schweigende Mehrheit“ jedoch, lässt die unattraktiven Simpel-Meinung plötzlich wie ein bedeutendes Faktum erscheinen – eine Art Einöde im vegetationsmäßig exaltierten Pelz. Vielleicht wäre es in diesem Fall aber besser gewesen, man hätte selbst geschwiegen – als eine Art schweigende Minderheit.

Die schweigende Minderheit in Form eines stummen Politikers

Denn wenn es die „schweigende Mehrheit“ geben würde, würde sie es vielleicht mal richtig gut finden, einem schweigenden Politiker zuzuhören. Denn ein schweigender Politiker könnte theoretisch ebenfalls eine Paradoxie sein, weil er garantiert der einzige Politiker sein würde, der keinen Unsinn reden könnte, weil er ja als schweigende Minderheit absolut nichts sagen und damit auch nichts falsch machen könnte.

Die schweigende Mehrheit mutiert zur Quasselstrippe

Jedenfalls: Die „schweigende Mehrheit“ gibt es schon lange nicht mehr. Sie redet inzwischen ununterbrochen. Und zwar im Internet: Dass die Erde eine Scheibe ist, dass in der Erde als hohle Scheibe Echsenwesen leben, dass die Bundesrepublik Deutschland gar nicht existiert und es deshalb auch keine Bundesbürger geben kann. Aber halt! Das denken gar nicht alle, die vorher geschwiegen haben. Das denken nur ein paar kleine Gruppen. Es sind die, die – bevor es das Internet gab – keine Stimme hatten. Bzw. sie hatten zwar eine, aber die war so irgendwie seltsam, dass ihnen niemand zuhören wollte. Aber, ha! Jetzt, im Internet, müssen die Leute zuhören bzw. mitlesen.

Hater und Faker in Unterwäsche vorm PC

Sie können jetzt alles sagen und müssen nicht mehr schweigen. Auch die, die Fake News verbreiten, um Unfrieden zu stiften, die Hetzer, die in Rippchenunterhemd und Schlüpfer den ganzen Tag vorm Bildschirm hängen und Leute denunzieren, weil sie sich insgeheim nach Liebe sehnen (wie berühmte Ärzte festgestellt haben) und niemanden zum Reden haben. Sie sondern den ganzen Tag und die ganze Nacht vereinsamt Kommentare über unsere Bundeskanzlerin ab, und wie schlecht alles ist, überall.

Einwegkommunikation in einsamen Kommentarboxen

Endlich können sie sich artikulitieren. Die damals schweigenden Minivereine mit exotischen Meinungen über die Welt und die Politik, über die in der Nachbarschaft früher nur kopfschüttelnd gelacht wurde, sind zur dauer-einweg-kommunizierenden Minderheit geworden. Das erinnert an ein Paarungsritual, bei dem sich ein Minivogel plötzlich riesengroß aufbläht, um wahrgenommen zu werden. Er sieht zwar etwas lächerlich aus, aber immerhin guckt man vor dem Lachanfall kurz hin.

„Flat Earth“ und „Flat Erik“ geben sich die Hand

Es geht hier um Aufmerksamkeit. Die sprechenden Minderheiten wollen schockieren. Mit platten Erdscheiben, hohlen Planeten, mit Asylanten als Feindbild, das ihnen Stabilität gibt, weil da endlich einer ist, den sie treten können, wo sie bisher immer nur getreten wurden. Es ist ein gutes Gefühl, eine Stimme zu haben und etwas schreiben zu können. Aber halt! Eine Stimme haben sie zwar aber keinen Namen. Denn wie heißen sie eigentlich? Um nicht erkannt zu werden, kommentieren die meisten unter Pseudonym. Oha. Jetzt müssen sie zwar nicht mehr schweigen aber sie sind unsichtbar. Also könnte man in Zukunft von der unsichtbaren Minderheit sprechen, die eigentlich nicht wirklich ‚was zu sagen hat, aber eine Stimme hat sie jetzt.

Urheberrechtsrichtlinie Artikel 13 und die CDU

Und die Politiker? Jene Politiker, die früher im Alleinbesitz von Kenntnissen über die Meinungen der „schweigenden Mehrheit“ waren, müssen nun zur Kenntnis nehmen, dass niemand mehr schweigt. Tatsächlich: Alle sagen was. Internet macht’s möglich. Wie reagieren die Politiker auf diesen wahrgewordenen Traum? Denn nun wissen sie ja definitiv, was die Leute wollen. Ach? Sie halten sich die Ohren zu? Ist ja nicht wahr. Als im EU-Parlament die neuen Urheberrechtsartikel von CDU und SPD durchgewunken wurden, haben CDU-Politiker behauptet, die, die gegen das Gesetz protestiert haben, wären gar keine echten Menschen, sondern Bots. Bots sind kleine Softwareprogramme, die eigenständig im Web kommunizieren können. Als allerdings 200.000 reale Menschen in Deutschland auf die Straße gegangen sind, um zu protestieren, hat ein CDU-Politiker behauptet, sie wären gekauft. Von Google zum Beispiel. Als dann 5 Millionen Unterschriften gegen die Gesetzesrichtlinien gesammelt wurden, ein bei keiner anderen EU-Petiton erreichter Wert, haben sich CDU- und SPD-Politiker die Ohren zugehalten und so getan, als wüssten sie das nicht. Wer diskutieren wollte, dem wurde gesagt, er hätte den Gesetzestext nicht gelesen, den die CDU geheim halten wollte, der aber dank einer Piratenpolitikerin veröffentlicht wurde.

Demokratie als Schreckgespenst der Politiker

Tja, wer früher behauptet hat, er würde die Meinung der „schweigenden Mehrheit“ kennen, konnte von sich zumindest noch behaupten, er wäre ein Demokrat, weil er ja mit den Leuten, die er unbekannterweise gar nicht kannte, zum Glück auch nicht reden musste. „Zum Glück“ deshalb, weil es sich ja herausgestellt haben könnte, dass sie anderer Meinung sind. Heute aber stellt sich heraus: Dass keiner mehr schweigt, ist für die Politik, die die Erde CO2-mässig wegbrutzelt, die privatesten Daten der Bürger der NSA zugänglich macht, Zensurgesetze beschliesst und die EU in ein autoritäres Geheimgebilde verwandelt, eine unerwartete Begegnung: Oh Gott, ein Wähler und sogar einer der mitredet. Voll der Horror.

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