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Kunsttagebuch: Bedeutung und Orientierung als Ziele der Kunst

Eine Grundlage sozialen Lebens und sozialen Handelns ist Orientierung. Orientierung kann dabei vieles sein: Das Gegenteil von Angst oder Handlungsunfähigkeit, die Klarheit, zu wissen was zu tun ist, die Eindeutigkeit des Denkens und die Möglichkeit, das eigene chaotische Innere in eine Form zu bringen. Letzteres hat einen Bezug zur Kunst bzw. zur Ausübung der künstlerischen Tätigkeit.

Dieser Vorgang, Gefühlen, Gedanken, übergeordnet-abstrakten Denkabläufen und insgesamt inneren Befindlichkeiten, die sonst nicht greifbar erscheinen, durch Kunst eine Form zu verleihen, ist ein sich selbst vergewissernder Orientierungsprozess. Er soll dazu führen, sich im Über-sich-und-die-Welt-Wissen möglichst eine Eindeutigkeit zu verschaffen. Auf dieser Grundlage können weitere Überlegungen angestellt werden, können schrittweise Ziele bestimmt oder eine ganze Kultur aufgebaut werden.

Scheinorientierung oder Gewissheit?

Es wäre anzunehmen, dass die künstlerische Vergewisserung der eigenen inneren Befindlichkeit oder des äußerern Wirkens lediglich eine temporäre Orientierung oder sogar nur eine Scheinorientierung sein könnte. Allerdings ist dennoch entscheidend, wie man diese Orientierung empfindet, das heißt, welche Funktion sie für den Künstler einnimmt. Auch eine virtuelle Realität kann Orientierung geben, selbst wenn sie nicht nachhaltig wirkt. Einige beispielhafte Fragen zur Positionsbestimmung wären beispielsweise:

Selbst wenn dies objektiv nur eine Momentaufnahme wäre oder eine Scheinrealität, so würde der Kunstschaffende durch den Prozess der Kunstausübung dennoch eine Orientierung erhalten.

Wie entsteht Orientierung?

Orientierung ist also Selbstgewissheit oder das Gefühl klar zu wissen, was man glauben oder wonach man handeln soll. Orientierung kann

Gerade im Bereich des Sichtbarmachens des Unsichtbaren, im Gestaltannehmen neuer Formen, wie etwa das Innere eines Menschen abzubilden – also zum Beispiel Ansichten und Sichtweisen, Gefühle oder Arten, die Welt zu betrachten – liegt eine Stärke von Kunst. Wobei ein künstlerisches Gesamtwerk auch den Prozess von der Selbstfindung oder der Erkenntnisfluktuation abbildet. Sofern man bei Kunst von „Absichtslosigkeit“ spricht, ist der Rahmen dafür die Wahrnehmung der eigenen künstlerischen Tätigkeit, die vom Künstler selbst rezipiert und bewertet wird.

Absichtsvoll und absichtslos

Man kann Kunst als ursachelos oder absichtslos empfinden, obwohl sie tatsächlich eine Ursache und eine Absicht hat. Nämlich im weitesten Sinne die unbewusste Absicht, das eigene Ich und die Welt in der Verschränkung ihrer sowohl wahrnehmbaren als auch nicht wahrnehmbaren Dimensionen erfahrbar bzw. handhabbar zu machen. Kunst ist ein Erlebnisstück: Sie erzeugt wiederum Gefühle und Gedanken, Empfindungen und Werturteile, sie zwingt einen selbst und die Rezipienten dazu, Position in einem Bereich zu beziehen, der mitunter wenig greifbar ist. Kunst macht nämlich auch Strukturen als übergeordnete Muster der Welt und des Ichs sichtbar, die zwar fühlbar und denkbar nicht aber sichtbar sind. Selbst wenn man die Visualisierung etwa mathematischer Formeln in Form von Fraktalen (etwa von Mandelbrotmengen oder Juliamengen) als im weitesten Sinne bildgebendes Verfahren des Strukturellen ansieht, wird hier etwas sichtbar gemacht, das für einen Mathematiker zwar denkbar ist aber solange unsichtbar bleibt, bis es visualisiert ist.

Welche Rolle spielt Sinnhaftigkeit in der Kunst?

Sinnerzeugung durch Kunst ist ein Mittel, um Bedeutungslosigkeit zu überwinden. Keine Bedeutung würde ähnlich wie das Nichts Orientierungslosigkeit erzeugen und dadurch zu Haltlosigkeit führen. So wie der Mensch nicht nicht kommunizieren kann, kann er nicht in einer bedeutungslosen Welt leben. Dem, was er wahrnimmt, ordnet er Bedeutungen zu. Wer künstlerisch tätig ist, transzendiert das eigene Sein, indem er ihm Bedeutugen zuweist. Sinnstiftung setzt so Orientierungspunkte. Denn Bedeutung und Sinn definieren das Selbst indirekt in einer grundlegenden Weise. Man mag als einen zentralen menschlichen Antrieb annehmen, bedeutsam zu sein und sein Leben mit Sinn zu erfüllen. Über die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk schafft der Künstler Sinn, und Sinn erzeugt Orientierung in der ansonsten unüberschaubaren Welt, die nie in Gänze, im Besonderen angesichts ihrer unüberschaubaren Interdependenzen, wahrnehmbar ist. Aber nicht nur das große Ganze ist nicht einzuordnen, auch eine gültige Ich-Definition scheint unmöglich. Wenn das Ich definierbar ist, dann nur über das Erleben, wie auch der künstlerische Prozess ein ästhetisches Erleben ist und dazu beiträgt.

Weitere Kunsttagebücher:

  1. Was ist Kunst? Und warum nicht?
  2. Als die Nacht aus dem Blickwinkel des Tages unterbelichtet wirkte
  3. Warum Eitelkeit zur Kunst gehört und doch ihr Untergang ist
  4. Ziellosigkeit als Grundlage assoziativer Prozesse
  5. Kopfkino oder zeigen und weglassen im anspruchsvollen Film
  6. Warum die Größe einer Zeichnung ihre Aussage verändert
  7. Wann Form ein Inhalt sein kann
  8. Was könnte das sein?
  9. Gedanken-Gefühls-Bilder innerhalb einer Formgenese
  10. Die Welt ist voller Möglichkeiten oder Zufall und Entscheidung in der Kunst
  11. Über das „Zuviel“
  12. Wiederholung als Formoptimierungs-Prozess
  13. Der assoziationsoffene Raum
  14. Kunst und technisch-handwerkliches Können: Warum es besser ist, nichts zu können
  15. Methoden der Kunst: Durch Wegnehmen und Hinzufügen Bedeutungen erschaffen
  16. Der Kunsst
  17. Was ist Kunst?
  18. Künstler-Selbstbild: Skizze eines zufallsgesteuerten Lebens ohne anarchistische Romantik
  19. Beliebigkeit als Kunstprinzip: Über die vermeintliche Sinnlosigkeit assoziativer Folgerichtigkeit
  20. Langlauf oder Kurzstrecke? Das Intervall in der Kunst
  21. Der Künstler: Ein Assoziationsautomat
  22. Zeichnen und die Macht des Zufalls
  23. Vorhersehbarkeit und Offensichtlichkeit – über die Langeweile in der Kunst
  24. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  25. Hinz- und Kurzgeschichte: Als der Unterhaltungskünstler den ernsthaften Künstler traf
  26. Über die metaphorische Schwangerschaft der Bilder
  27. Über das Vorläufige und das Endgültige in der Kunst
  28. Warum Kunst ein Virus ist
  29. Kreieren und wiederholen: Warum Kunst nicht kreativ ist
  30. Das Unverwechselbare in der Kunst als Ausdruck der eigenen Unfähigkeit
  31. Das Ungefähre als das nicht Greifbare
  32. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  33. Der blinde Fleck und die Kunst der Betrachtung
  34. Kompetenz und Versagen als sich selbst bedingende Gleichzeitigkeit
  35. Kunst als Selbstdialog
  36. Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
  37. Die Überforderung
  38. Eindeutigkeit und Wahrnehmung in der Kunst
  39. Kunst als Sprache
  40. Der Mangel als Ansporn
  41. Selbstbild und Seins-Inszenierung
  42. Kunst als Chiffre der Notwendigkeit
  43. Kunst als fortgesetzter Traum
  44. Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?
  45. Die Maslow-Bedürfnis-Pyramide oder fühlen und durchleben in der Kunst
  46. Jenseits der Worte
  47. Wahrheit und Verdrängung
  48. Das Gefühl für die Dinge oder von der Schwierigkeit, Kunst zu definieren
  49. Zwischen Selbsttransformation und Fremdwahrnehmung
  50. Die Absolutheit der Ich-Perspektive
  51. Fehler machen als „Sesam-öffne-dich“
  52. Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen
  53. Jede Regel will gebrochen sein
  54. Die Intrinsik als Wesenszug
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