Man kann die Welt der Ereignisse in zwei Bereiche aufteilen: jene Ereignisse, die aus der Vergangenheit ableitbar sind, also mit großer Wahrscheinlichkeit vohersehbar sind. Sie sind so Teil der üblichen Erwartungshaltungen. Die anderen Ereignisse kommen zufällig und völlig überraschend auf einen zu. Und da man sie nicht kommen sieht, bilden sie das Besondere im Leben. Der britische Ex-„Talk-Talk“-Sänger und Musiker Mark Hollis, der am 25. Februar 2019 64-jährig gestorben ist, war ein Meister der Unvorhersehbarkeit.
Talk Talk war eine aufsehenerregende Pop-Band der 1980er-Jahre, die mit Synthie-Pop anfing. Gedacht war sie als Kommerzband à la „Duran Duran“, „Spandau Ballet“ oder „Human League“. Die stilistischen Anknüpfungspunkte dieser Bands waren „New Wave“ und „New Romantic“, denn in den 1980er-Jahren entstanden in der Post-Punk-Phase zahlreiche Bands mit synthesizerlastiger Musik. Die Plattenfirmen wollten wie stets den Trend nutzen und Bands puschen, die Rendite versprachen. „Talk Talk“ sollten sich diesbezüglich anfänglich als Glücksgriff herausstellen, zumal sie Musik schreiben und spielen konnten und keine aufblasbaren Poppuppen waren.
Die ersten „Talk-Talk“-Alben
Dabei wirkt eine Unvorhersehbarkeit noch spannender und noch überraschender, wenn sie sich auf einem Weg ergibt, der längst eine klare Bahn gezogen hat und damit eine Richtung vorgibt. Hat eine Achziger-Jahre-Band wie „Talk Talk“ drei kommerziell erfolgreiche Pop-Alben veröffentlicht, geht der Musik-Fan davon aus, dass auch das vierte Album solchen konsumierbaren Pop liefern wird. 1982 war als erstes Album „The Party’s Over“ erschienen, 1984 „It’s My Life“ und 1986 „The Colour of Spring“. Alle drei waren kommerziell erfolgreich, und aus Sicht der Plattenfirma EMI würde sich das nun kommende Album noch besser verkaufen.
„Give it Up“ live in Montreaux
Talk Talk hatten bereits 1983 mit den beiden Singles „It’s my life“ und „Such a Shame“ Hits, die sie zur Band der Stunde machten. Der nachfolgende Song „Give It Up“ ist Teil eines Live-Konzertes beim Jazz Festival in Montreaux 1986. Das Lied in der Studioversion wurde im gleichen Jahr gegen Ende der kommerziellen Phase der Band aus dem dritten Album „The Colour Of Spring“ veröffentlicht.
Das Ende der Kommerzialität
Doch die kommerzielle Popphase endete schon nach den ersten drei Alben. Danach bekam die Band von ihrer Plattenfirma EMI Amerika für die nächste Platte freie Hand. Erwartet wurde ein weiteres Pop-Meisterwerk aber 1988 kam mit „Spirit of Eden“ eine sperrige Platte ohne jedes Hit-Potenzial heraus, die mit ihren sechs atmosphärischen überlangen Stücken nicht mehr einzuordnen war. 1991 folgte mit „Laughing Stock“ abermals eine frei improvisierte CD, die den kommerziellen Freitod der Band zementierte. Raritäten, Demoversionen und andere unveröffentlichte Versionen der Phase zwischen 1982-1988 wurden 1998 auf „Asides Besides“ veröffentlicht. Noch nicht veröffentlichtes Material aus der Zeit nach 1988 erschien auf der Raritäten-Compilation „Missing Pieces“ 2001. Mark Hollis als Kopf der Band brachte schließlich 1998 das Soloalbum „Mark Hollis“ heraus und ließ danach nie wieder in der Öffentlichkeit etwas von sich hören.
Ausnahmealbum „Spirit of Eden“
Für „Spirit of Eden“ hatten „Talk Talk“ ihr Studio in einer Kirche eingerichtet und viele bekannte Musiker für immer neue Sessions eingeladen. Unter Musikjournalisten legendär wurde der Umstand, dass Mark Hollis und Mitstreiter Tim Friese-Greene die meisten der dort eingespielten Beiträge ziemlich umgehend wieder löschten. Sie wollten nicht das Erwartbare sondern musikalisch auf unerforschtes Land vordringen. Gemeinsam mit der Band hatten sie eine musikalische Vision entwickelt, die mit dem dann aufkommenden Begriff „Post-Rock“ wenig klar beschrieben ist. Einflüsse auf „Spirit of Eden“ kann man in den Arbeiten der Art-Rock- bzw. Prog-Rock-Bands „Van der Graaf Generator“ oder „King Crimson“ aber auch in experimenteller Klassischer Musik sehen. Das Erbe von „Talk Talk“ in einer ähnlichen musikalischen Auffassung weitergetragen haben die späteren „Radiohead“, die analog zu „Talk Talk“ spährisch-abgeboben klangen und nicht mehr bestimmten Stilen zuzuordnen waren sondern ihren ganz eigenen Stil entwickelten. Übrigens beschritt einen ähnlichen Weg ein paar jahre vorher die Band „Japan“, die sich von Teenie-Idolen zu ernsthaften Musikern wandelten. Ihr Frontman David Sylvian sollte später sehr anspruchsvolle Musik machen und ebenfalls auf den Kommerz pfeifen.
Referenzmusik vor eigenem Anspruch
Wie vor ihnen etwa Van Morrison mit dem Album „Astral Weeks“ (1968) oder „Van der Graaf Generator“ mit dem Album „The Least We Can Do Is Wave to Each Other“ (1970) ihre ganz eigenen musikalischen Stimmen fanden, die mit nichts Vorherigem vergleichbar waren, schufen „Talk Talk“ eine Musik, in der sie ihren Weg zur Musik fanden. Was folgte waren Jahre des Prozessierens mit ihrer Plattenfirma, die sich geprellt sah. Doch mag man sich darüber freuen, dass nicht die Plattenfirma obsiegte. „Spirit of Eden“ jedenfalls wurde ein Album, das eigentlich zu anspruchsvoll war, um wahr zu sein.
Naivität und Genialität
Etwas anderes ist faszinierend. Es geht manchmal nicht nur darum, was ein Werk ansich repräsentiert. Es geht auch darum, wie sich ein Musiker oder eine Band auf ihrem Weg entwickeln. Denn es ist für das Publikum faszinierend, einem Künstler dabei zuzusehen, wie er wächst. Bei den Comics wuchsen der Franzose Jean Giraud alias Möbius oder der Amerikaner Barry Windsor-Smith von ihren naiven Anfängen ausgehend über sich hinaus und ihre Fans konnten ihnen dabei zusehen, wie aus einfachen Zeichnern Genies des Visuellen wurden. Ähnlich verlief es bei „Japan“ oder bei „Talk Talk“ und Mark Hollis: Der Weg vom Synthie-Pop-Star zu Hohepriestern ernsthafter Musik war völlig unerwartet. Die meisten alten Fans konnten damit nichts mehr anfangen, in Musikerkreisen jedoch wurden „Talk Talk“ zur Legende.
Was geschah nach „Talk Talk“?
„Talk-Talk“-Schlagzeuger Lee Harris und Bassist Paul Webb haben den musikalischen Gedanken ihrer Band noch weitergetragen. Ihre Band „’O’rang“ brachte es zwischen 1994-1996 auf drei Veröffentlichungen. Paul Webb veröffentlichte darüber hinaus unter dem Namen „Rustin Man“ 2002 das Album „Out of Season“, 2019 erscheint „Drift Code“. Hollis zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und wurde zum Howard Hughes oder J. D. Salinger der Musik. Über sein Leben bzw. seinen Tod ist kaum etwas bekannt, außer dass Hollis seine Berufung eher in der Erziehung seines Sohnes sah. Aber das beruht auf Hörensagen. Mit seiner Musik hat er sich dennoch verewigt – aber wahrscheinlich wäre ihm dieser Umstand sowieso egal gewesen. Produzent Tim Friese-Green war auch nach „Talk Talk“ als Produzent tätig und hat unter seinem Namen und dem Pseudonym „Heligoland“ drei Alben und zwei EPs aufgenommen.
Nachruf auf Mark Hollis
Mark Hollis ist mit seinen „Talk Talk“ kurz und heftig auf der großen Musikbühne erschienen, er hat erst unerwartet ernsthafte Texte zu hörbarer Popmusik gedichtet, um dann immer tiefer in das Wesen der Musik einzutauchen. Dort fand er seine Bezugspunkte einer nie gehörten ästhetisierten Leidenschaft, die den Zuhörer in Abgründe der Stille und der Langsamkeit reissen konnten. Das Album „Spirit of Eden“ ist in der Geschichte der Popmusik eine der größten Überraschungen überhaupt, ein Glücksfall, wie es ihn vielleicht nur einmal in einem Jahrzehnt gibt. Man kann sich außerdem darüber freuen, dass Hollis sich als Musiker auf dem Höhepunkt seines Schaffens nicht wiederholen wollte, er hat einfach aufgehört, in der Öffentlichkeit zu sprechen, in der Öffentlichkeit zu sein, in der Öffentlichkeit seine Musik hörbar zu machen. Vielleicht hatte er das, was er sagen wollte, bereits gesagt und hatte dem nicht viel mehr hinzuzufügen, obwohl er mit Wim Wenders über ein Filmprojekt gesprochen hatte, zu dem er die Musik hätte beisteuern sollen. Das Projekt kam jedoch nicht zustande. Hollis hat gezeigt, was es für einen Musiker heißt, zu schweigen und zu verschwinden – genauso unerwartet, wie er die Musikbühne betreten hatte. So wie er seine Musik gefunden hat, in aller Stille und höchster Konzentration, so hat er sich ihr als öffentliches Gut wieder entledigt. Mark Hollis hat sein Musikalität auf ein paar Alben hinterlassen und ist dann von der Bildfläche verschwunden. Dieses Mal unwiederbringlich und für immer. Eine letzte Überraschung.
2 Responses to “Mark Hollis: Die Kunst des Weglassens und des Verschwindens”
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[…] aus den Musikern herauskitzelt oder als Katalysator, der etwas in Gang setzt. Fripp stellt seine Progressiv-Rockband-Formationen seit nunmehr 40 Jahren aus Spitzenmusikern […]