Seit es Computer gibt bzw. die ersten Vorstellungen davon, was ein Computer sein könnte, haben Science-Fiction-Autoren oder Wissenschaftler imaginiert, Mensch und Maschine miteinander zu verbinden. Es gibt Konzepte, bei denen man das menschliche Bewusstsein auf einen Computer überträgt oder umgekehrt, den menschlichen Geist durch eine angestöpselte künstliche Intelligenz erweitert. Aber: Ist das nicht schon längst passiert?
Es hat sich ein Bild des Web etabliert, das seltsam anmutet. Von „Resonanzraum“ oder „Echokammer“ ist die Rede, und es ginge, so hört man, bei der selektiven Wahrnehmung online um „Filterblasen“. Alle drei Begriffe beschreiben etwas Fatales: Eine begrenzte Wahrnehmung, eine sich selbst verstärkende Botschaft, die mannigfaltig reflektiert und wie in einem Spiegelkabinett potentiell unendlich zurückgeworfen und wiederholt wird, bis man nicht mehr sehen kann, woher die Botschaft ursprünglich kam. Der Begriff der „Filterblase“ legt nahe, dass der Ausschnitt der Welt, der für uns relevant ist, kleiner geworden ist. All das steht im Widerspruch zu den unendlichen Möglichkeiten, die das Web bietet.
Privatheit als innere Einkehr
Im Vor-Computer-Zeitalter saßen Menschen an Stammtischen in Kneipen und machten dort ihrem Unmut Luft. Sie schimpften über die Regierung, über Ausländer, über die schlechte Bezahlung, den ätzenden Kapitalismus, über Schwule und überhaupt über in ihren Augen alles Schlechte, das die Welt für sie bereithielt. Der Stammtisch als Symbol für die Öffnung des Geistes in Richtung seiner Abgründe und Abgründigkeiten hatte dabei nur eine Konkurrenz: Das Alleinsein. Auch allein konnte man gut depressiv und hasserfüllt sein, konnte sich zugestehen, was man alles falsch gemacht hatte in seinem Leben. Man konnte sich in Gänze betrachten inklusive seiner Mängel, konnte die eigenen Verfehlungen ansehen, nachempfinden und dadurch durchleben. Qualifiziertes Alleinsein in Ruhe ist in Zeiten des Medienterrors und des allgegenwärtigen Internet zwischen Mediathek, Insta, YouTube, Streaming Mangelware geworden. Der Mensch in der Dauerberieselung will dauerentspannt sein, wird aber dauergestresst.
Medienschicksal im Medienzeitalter
Das ganz Kleine, die private Situation des ungestörten Alleinseins, und der Kreis der Freunde und Bekannten war ein Ort, an dem man sein konnte, wie man auch ist: niedergeschlagen, fatalistisch, aggressiv, wütend, von Hass erfüllt. Es wurde nicht aufgezeichnet, es blieb privat und der Kreis der Menschen, die daran partizipierten, war überschaubar. Hinzu kam, dass perfekte Bewegtbild-Ablenkungen noch zeitlich und örtlich begrenzt waren. In Deutschland gab es lange Zeit nur die drei Programme des öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit klaren Standards für Ausgewogenheit und Anspruch. Das schien langweilig und begrenzt aber es hatte den Vorteil, dass es Orientierung brachte. Heute ist Fernsehen oder Streaming über das Web das virtuelle Berieselungszuhause. Es ist unterwegs und potentiell überall möglich. Instagram als bunte Bilderwelt, YouTube als bunte Videowelt und die bunte Online-Spielewelt leisten ihren Beitrag zur Dauerunterhaltung. Das Web ist zum ungleich komfortableren, spannenderen und vielfältigeren Stammtischersatz geworden.
Der Word Wide Stammtisch
Wo vormals die räumliche und zeitliche Begrenztheit den Alltag des „Sich-innerlich-reinigens“ ausmachte, wabern Hass und Ressentiments heute ungefiltert durch das Web. „Hate-Speech“/“Hassrede“ in Form von Hasskommentaren in Blogs und Sozialen Netzwerken und Shitstorms mit Mord- oder Vergewaltigungsandrohungen machen das Internet zur gigantischen Echokammer der Unmenschlichkeit. Die kleinen analogen Ventile zuhause oder am Stammtisch haben ausgedient, das Web ist ein gigantischer Verstärker für explizite Botschaften geworden, die sich irrlichtern gegenseitig verstärken.
Manifestation des Virtuellen
Wenn man so will: Das Böse im Menschen wird milliardenfach gespiegelt, das Monstrum, das in uns meist schlummert, tritt zu Tage. Vielleicht müssten die christlichen Kirchen konstatieren: Der Teufel ist jetzt auferstanden, er hat sich virtualisiert und ist damit überall auf der Welt präsent. Die Unmenschlichkeit der Virtualität, in der man potentiell alles sagen und zeigen kann, die Gefühllosigkeit der digitalen Welt, in der Sensorik und Empathie nicht mehr funktionieren wie im echten Leben, haben zum vorläufigen Ende der Beißhemmung geführt. Der enthemmte Mensch und seine prinzipielle Wut haben sich wie eine Tsunami-Welle gesteigert, sind aus der Virtualität übergeschwappt in die Wirklichkeit.
Kriegsgebiet Soziales Medium
Was also ist eigentlich geschehen? Wir haben uns selbst in Form unserer Psyche und inneren Befindlichkeiten in den virtuellen Raum ausgelagert. Alles, was in der menschlichen Kommunikation früher zu schwierig war – ein Beziehungsgespräch, beichten von Fehlern, jemandem den Hass, den man empfindet, ins Gesicht zu schreien etwa – ist nun ganz einfach. Man kann es schreiben, das ist gar nicht schwer. Und die Feiglinge, die sich nie getraut haben, einem Menschen gegenüber zu treten und ihm zu sagen, was sie denken, können im Web alles machen und jeder sein. So wird der Feigling zum Held und der Schwächling zum starken Mann. Im Web kann jeder alles sein und alles machen. Wir haben das Web und unsere Kommunikation zur Hassmaschine verbunden, in der wir nicht mehr erwachsen werden müssen. Es ist zum verlängerten Arm von Unausgegorenheiten geworden, ein Sammelbecken für die ewiglich gekränkten Kinder, die sich Liebe erträumen und anstatt dessen persönliche Degeneration erleben. Wer hätte das gedacht? Ein Teil der Web-Nutzer ist online in seinem Hass verbunden, Soziale Medien sind Zonen der Entgrenzung und virtuelle Kriegsgebiete geworden.
Das Web als Einbahnstraße
Dabei kann man aktuell die Erfahrung machen, dass nicht nur die Realität ihre Entsprechung im Virtuellen findet, es funktioniert auch umgekehrt. Was sich online anreichert, der Hass auf alles Andersartige zum Beispiel, schwappt hinüber in die Realität. Die „Echokammern“, von denen die Rede ist, sind Verstärker fatalistischer Weltbilder. Der Algorithmus von Facebook, „Edgerank“ genannt, aber auch die Algorithmen von Google, YouTube, Instagram oder Twitter haben bisher verstärkt dem Nutzer jene Informationen angezeigt, die zu seinen Vorlieben passen. Das klingt im ersten Moment sinnvoll, dann aber wird klar, dass damit vieles, was uns informationell zufällig begegnen könnte und unser Weltbild erweitert, herausgefiltert wird.
Die Mensch-Maschine
Längst und in ihrer Konsequenz relativ unbemerkt ist der Mensch eine Synthese mit der Maschine eingegangen. Nutzenaspekte von Smartphone, Tablet und Web zuhause haben zur lebensübergreifenden smarten Erlebniswelt geführt, in der wir uns zum Beispiel mit elektronischem Adressbuch, Wegweiser und Notizzettel nichts mehr merken müssen. Ein Teil unseres Verstandes ist abgeschaltet, wir überlassen ihn längst der Künstlichen Intelligenz und unterfordern uns. Der Kern unseres sozialen Seins, die Kommunikation, ist bei Nutzern korrumpiert. Mit welchen Konsequenzen?