Jetzt wieder mit viel Atmosphäre
Eine neue Herausforderung für altgediente Besucher stellte die bei strahlendem Wetter über die Pfingsttage stattfindende 47. Ausgabe des Moers-Festivals dar. Als eine Art Schnitzeljagd angelegt verteilte es sich vom Festivalgelände über den Schlosspark bis hinein in verschiedene Spielstädten in der Innenstadt. Unter dem Label Moersify sollte das Festival „wieder“ zurück zu den Moersern gebracht werden, so dass viele unübliche Spielstädten in der Stadt mit einbezogen wurde. Die Cafés Mondrian und Lyzeum haben mit Konzerten mitgemacht, in der Barbara Buchhandlung fanden Lesungen statt und sogar im Büro des Bürgermeisters konnte man ein mitternächtliches Konzert besuchen. An vielen weiteren Spielorten konnten sich Einwohner und Besucher kostenlos oder sehr preiswert der experimentierfreudigen Musik des Festivals annähern.
Eine Bühne mit Namen retro77 fand sich auf der Wiese, auf der für lange Zeit das zentrale Festivalzelt stand, bevor das Festival vor vier Jahren in die neue Festivalhalle umzog. Auf dieser Open Air Bühne präsentierten sich Konzerte, Djs und die Morning Session, auf denen Festivalmusiker neu gemischt ihre Improvisationskunst bewiesen. Am Eröffnungstag legte ein DJ Platten mit Aufnahmen früherer Moers-Konzerte auf, was für den altgedienten Festivalbesucher einen besonderen Zauber hatte. Der Zuschauer konnte entspannt auf der Wiese liegen oder, war er früh genug zugegen, auf aus Paletten zusammengehauenen Sitzgelegenheiten entspannen.
Gleich nebenan, auf der andere Seite des den Schlosspark durchziehenden Baches traten junge Menschen mit Gitarre zum Liedermacher-Massaker an. Jeder durfte 2 bis 4 Stücke spielen, dann ein schneller Wechsel. Hier hört man eine ganz andere Art von Musik, die völlig jenseits des Festivalanspruchs in ihren besten Momenten etwas anziehendes hat und ausserdem einen Blick auf die zumeist simple Seelenlage junger Menschen erlaubte. Schnitzeljagend von einer Spielstädte zur anderen ist man jedenfalls gerne hier vorbeigeschlendert und hat kurz inne gehalten.
Die jungen Liedermacher aus ganz Deutschland verbrachten gleich die Nacht jamend auf der Wiese und fanden neue Freundschaften, so dass am letzen Tag frisch zusammengewürfelte Trios ihre Liebe zu gemeinsamen Helden, der deutschen Rockband Kettcar, hinaus schmetterten.
Klangweg und Bimmelbahn
Der Weg durch den Park wurde von Moerser Gymnasiasten mit in den Bäumen hängenden Klangelementen bereichert. Man konnte an Strippen ziehen und verschiedenste Geräusche verursachen, was von den Flanierenden gerne angenommen wurde. Leider fehlten schon am zweiten Tag viele der Strippen oder waren von Vandalen unerreichbar hoch in die Äste geworfen.
Alternativ konnte man auch mit einer kleinen Bimmelbahn, dem „Moers Festival Express“, eine abenteuerliche Fahrt zu den wichtigsten Festivalorten wagen. Leider fuhr diese zwar regelmässig, aber zu selten für den ausgeklügelten Plan des planenden Schnitzeljägers. Doch sollte sich jeder Besucher wenigstens eine Fahrt mit dieser Bahn gegönnt haben.
Die im Programmheft abgedruckte Kartenübersicht mit allen Spielstädten folgte dem Gebot grafischer Niedlichkeit, was eine Verachtung kartografischer Genauigkeit mit sich brachte. Der nicht ortskundige Festivalbesucher durfte so den einen oder andere Umweg in Kauf nehmen und musste viel suchen. Eine musikalische Schnitzeljagd eben.
Der Held der ersten Stunde
Die Jazz-Legende Peter Brötzmann spielte am Eröffnungstag ein Solokonzert mit Saxophon und Klarinette im Schlosshof, dem Ort, an dem 1972 das Festival erstmals stattfand und bei dem er damals schon als aus der Fluxus-Bewegung kommender Musiker dabei war. Brötzmann, der noch an zwei weiteren Tagen sein energiegeladenes Spiel präsentieren konnte, spielte ungewöhnlich sensibel auf, beinahe sanft. So dass man ihm bereits eine neue Altersmilde attestieren wollte. Doch mit seinen beiden anderen Auftritten, als zusätzliches Mitglied von Oxbow und im Duo mit Heather Leight bewies er erneut, dass er auch mit 77 noch ein kräftiges, wütendes, schreiendes und ausdauerndes Saxophon spielen kann.
Oxbow ist eine US-amerikanische Band, die seit 1988 Soul, Blues und Free Jazz verbindet. Peter Brötzmann hatte sich angeboten, den Moers-Auftritt des Quartetts zu unterstützen. Heraus kam eine gewaltige Musik, die ein Besucher als das heftigste Konzert beschrieb, das er je gesehen hat. Dabei besass er jahrelange Erfahrung mit Punkrock-Konzerten. Oxbow spielten sicher nicht lauter oder wütender auf als eine Hardcore-Punkrock-Band, doch sie waren abgründiger, drangen tiefer vor. Der Soul des Sängers Eugene S. Robinson führte in ungewöhnlich düstere Lagen, seine sexuellen Gesten, so steckte er beispielsweise sein Mikrophon auf Höhe seines Schrittes in die Hose und machte obszöne Bewegungen, wirkten im musikalischen Kontext weniger spielerisch als die der Vorbilder aus der Soul- und Funkmusik der 70iger. Gitarrist Niko Wenner ergänze den Sound mit seiner mit Slidetechnik gespielten Gitarre durch eine brüchige, raue Blues-Tonalität, während Bassist Dan Adams und Peter Brötzmann für die treibende Energie quer durch das gesamte Frequenzspektrum sorgten.
Den dritten Auftritt hatte Brötzmann am letzen Tag mit der amerikanischen, zur Zeit in Glasgow lebenden Pedal-Steel-Gitarristin Heather Leight. Leight baute mit durch Slide-Technik und Vibrati schwimmende Arpeggien eine enorme, 45 Minuten lang tragende, sich nie auflösende Spannung auf. Brötzmann Spiel lieferte zu diesem hohen Spannungsniveau ein Äquivalent aus gewaltigem, gequältem Saxophon und Klarinettenspiel, das nur selten eine Entwicklung in mildere Gefilde zuliess. Wie Brötzmann auf einer Podiumsdiskussion zur Frage der Sinnhaftigkeit des Festivals am Nachmittag anmerkte: Die Wut ist noch da.
Wasserflaschenprohibition
Mit dem ersten Hallenkonzert verband sich auch das große Ärgernis des Festivals. Am Eingang musste man sich filzen lassen, Taschen vorzeigen, das ganze Übel. Man kennt das in einem Deutschland mit verbessertem Sicherheitskonzept und es geht soweit in Ordnung. Aber es wurden den Gästen auch ihre leeren Plastik-Wasserflaschen weggenommen. Mit der Begründung, dass der Caterer des Festivals ein Recht auf maximalen Umsatz habe, dass das Wasser an den Verkaufsständen zu den festgelegten deftigen Preisen gekauft werden müsse. Das ginge vielleicht auch noch in Ordnung, doch gab es Wasser nur in Plastikgläsern. Die praktischen Behälter, die man prima im Rucksack mit auf die Schnitzeljagd hätte nehmen können, wurden dem zahlenden Festivalbesucher rüde abgenommen.
Damit sabotiert der Veranstalter aber seine Idee des verteilten Festivals, weil man als Besucher doch abwägen musste, ob man so schlecht ausgerüstet – ohne Wasserflasche – die Wanderungen durch den Park in die Stadt noch unternehmen wollte. Menschen, die am Einlass beteuerten, Diabetiker und für den Erhalt ihrer Nierentätigkeit auf ständige Flüssigkeitszufuhr angewiesen zu sein wurden hämisch die Vorlage eines ärztlichen Attestes abverlangt. Das hatte natürlich niemand dabei. Es fehlt dem Festival der ausdrückliche Warnhinweis, es nur mit ärztlichem Attest zu betreten. Das die Verkaufsstände eine wichtige Einnahmequelle des Festivals sind, ist unbestritten. Aber es ist unverantwortliche Habgier, wenn die Gesundheit des Publikums für eine maximale Gewinnerzielung riskiert wird. Hier sollten die Festivalverantwortlichen in sich gehen und für nächstes Jahr eine liberalere Lösung finden. Oder ausreichend Schliessfächer vor der Halle installieren.
Hard Vibe
Dafür war die erste Hallenband ein Glücksfall. Talibam! aus den USA sind Matt Mottel am Keyboard und Kevil Shea an den Drums. Talibam! holten sich für ihre drei Konzerte jeweils andere Mitstreiter, so dass man über die Tage drei sehr unterschiedliche Konzerte sehen konnte. Zum Auftakt mit Matt Nelson, Saxophone, und Ron Stabinsky an der Orgel spielten sie von Herbie Hancock und Miles Davis inspirierten 70iger Jahre „Psycho-Jazz“, der wirkte, als eroberten die Instrumentalisten das Feld, das die elektronische Musik in den letzen Jahrzehnten fast unangefochten bearbeitet hat, wieder zurück in den Fundus handgemachter Musik.
Talibam! trauten sich zu dem letzen Hallenkonzert am Montag neun weitere Schlagzeuger einzuladen. Es spielten also ein Keyboarder und 10 an ausgewachsenen Drumsets sitzende Trommler gemeinsam. Als Kommunikationssystem diente ein langhaariger Herr, der gelegentlich quer über die Bühne lief und den Musikern einen Zettel mit einer Notiz hinhielt, ergänzt durch Kevin Sheas spartanisches Dirigat, mit dem er einzelne Einsätze steuerte. Bei zehn gleichzeitig agierenden Trommlern hat man als Zuhörer keine Chance mehr, einzelne Spielelemente einem Musiker zuzuordnen, das improvisierende Individuum tritt zurück hinter die Soundwand der Gemeinschaft. Dieses Gewirr an Schlaggeräuschen funktionierte erstaunlich gut und führte zu einem furiosen, kraftvollen Höhepunkt und würdigen Abschluss des Festivals.
Das Andere
Wer das ungewöhnliche auf dem ungewöhnlichen Festival suchte, wurde fündig. Sonntags spielte auf der Open-Air-Bühne im Festivaldorf vor der Haupthalle die kanadische Country-Band Murder Murder Flottes zwischen Bluegrass und Outlaw Country, das in meinen Ohren durchweg nach Bluegrass klang. Das Etikett Outlaw Country – das seit Anfang der 70iger einigen Musikern anhaftet, die dem zunehmend poplastigen und einseitig kanonisierten Countrysound Nashwilles nach Texas entflohen – verdient sich die Band mutmasslich weniger aus musikalischen Gründen als aus ihrem geografischen Abstand zur „Music City“ Nashville. Eine gewöhnliche wenn auch gute Bluegrassband an einem ungewöhnlichen Ort, so kann man es auch machen.
Im Pulverhäuschen am Schloss sollte man an den Knöpfen einer elektronischen Installation drehen und verschiedenste Geräusche aus dieser quälen können. „Bloodbath Disco Slaughter Machine“ hieß das ganze. Meine drei Versuche, dort während auf meiner Schnitzeljagdtour vorbeizuschauen, sind leider gescheitert. Hoffentlich gibt es dieses Angebot auch noch im nächsten Jahr. Ich will unbedingt noch an den Knöpfen spielen.
Unterwassermusik mit Lichterfahrung konnte der untertauchende Badehosenbesitzer im Becken des Solimare-Aktivbades geniessen. Barfuss am Beckenrand war leider nichts zu hören, diese Konzerte öffneten sich exklusiv nur den Konsequenten.
Moers 2018 erforderte eine neue Art des Einlassens
Das Besondere der Schnitzeljagd war, dass man keineswegs sicher sein konnte, in der Haupthalle die besseren oder spektakuläreren Konzerte erleben zu können. Überraschungen und herausragende Qualität konnte es an jedem Ort geben. Wer sich nicht bewegte, verpasste etwas. Das Angebot war so vielfältig, dass man ohnehin laufend verzichten musste. Auch eine interessante Erfahrung. So fielen Entscheidungen bisweilen nicht nach musikalischen Präferenzen sondern nach Art der Spielstädte. Nachmittags in der Sonne vor der Open Air Bühne, abends die Halle. Bisweilen habe ich andere Spielstädten einfach deshalb bevorzugt, weil mir so die Security-Grabscherei am Eingang der Haupthalle erspart blieb. Für mich, der ich das Festival seit Mitte der 80iger Jahre besuche, ganz neue Auswahlkriterien.
Tim Isfort, der künstlerische Leiter im zweiten Jahr, erlaubte sich am Samstag einen seltsamen Scherz mit den Besuchern. Die für 22:12 angekündigte ominöse Band Botox Family, über die im Vorfeld im Internet nichts zu finden war, stellte sich als reine Erfindung heraus. Interessierte Festivalbesucher wurden mit einem Freibier vertröstet. Zumindest, so lange der Vorrat reichte. Was nicht lange war, einige gingen auch damit leer aus.
Multikulti ohne Visa
Es scheint Tim Isforts Steckenpferd zu sein, Musiker aus weniger bekannten, unzugänglichen Regionen der Welt nach Deutschland zu holen. Bekannt sind seine jahrelangen Kooperationen mit Musikern aus Myanmar. Diesmal wollte er acht Musiker der indischen Minderheit der Siddi nach Moers zu holen. Musiker, die in der Nähe zur pakistanischen Grenze leben. Am Ende haben nur drei ein Visum bekommen, die die betörend schöne Musik ihrer Heimat darboten und sich nicht scheuten, mit anderen Festivalmusikern zu kooperieren, z.B. mit dem Elektroniker Achim Zepezauer, der überraschend gut die Folkloredarbietung ergänzte.
Wieder viel viel viel…
Wie jedes Jahr fanden sich zahlreiche überraschende, wunderbare Konzerterlebnisse in Moers, die hier aufzuzählen zu lange dauern würde. In kürze, was mir besonders gefallen hat:
Quartabé, das charmante Quartett aus Brasilien spielte Werke berühmter experimenteller Komponisten ihrer Heimat, Werke ihrer Professoren. Sie konnten nicht alle vorbereiteten Stücke präsentieren, weil ein Saxophone auf der Reise beschädigt wurde. Aber was sie mit zwei Klarinetten, Keyboard und Drums ablieferten, war den Besuch der Open Air Bühne bei strahlendem Sonnenschein alle Mal wert.
Spinifex aus den Niederlanden und Belgien. Freie und frische Improvisation mit Einflüssen verschiedener Kulturen.
ZA!, die beiden verrückten Spanier, die mit elektronischen Tonerzeugern, einem Schlagzeug und elektronisch verbogenem Gesang wild aufspielten und zum Tanzen einluden. Sie traten zweimal auf, einmal in der bestuhlten Halle, einmal auf der offenen Bühne im Festivaldorf. Der zweite Auftritt geriet artgerechter, da vor der Bühne getanzt werden konnte.
Horse Lords aus den USA (Warum hiess die Bluegrassband nicht so?), die an die besten Zeiten kollektiver Improvisationskunst in Sinne Ornette Colemans erinnerten.
Peter Erskine und die WDR-Bigband. Peter Erskine als Drummer von Weather Report und Steps Ahead längst eine Jazz-Legende präsentierte Kompositionen von früheren Mitmusikern wie dem verstorbenen Jaco Pastorius und eigene Werke. Die WDR-Bigband wie immer präzise und inspiriert.
Irreversible Entanglement aus den USA.
Und viele mehr. Andere Festivalbesucher würden eine ganz andere aber ebenso überzeugende Liste aufmachen. Es ist ein Festival, das das Glück des Besuchers herausfordert, dabei soviel bietet, dass man mit seinen Entscheidungen kaum falsch liegen kann.
Glückwunsch an die verantwortlichen: Das Konzept der verteilten Konzerte, der musikalischen Schnitzeljagd ging voll auf. Zumal das Wetter sich dafür von seiner besten Seite zeigte.
Auf der Arte Homepage findet man noch einige Tage den Livemitschnitt aus der Haupthalle.
Fotos: (c) Juchelchen, M. Ganswindt