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Rückblick auf das Jahr 2017 (1): Politik als Storytelling und der Politiker als sprachröhrender Entertainer

Politikjoker

2017, das war ein wildes Medienjahr. „Medienjahr“ soll heißen: rekapituliert man, was in Massenmedien oder Webstreams sozialer Medien zu lesen, zu hören und und zu sehen war, dann sieht es so aus, als wäre in unserem westlichen Wirtschafts-Paradies das „Böse“ stärker und stärker geworden. Das „Böse“, das sind rechtsextreme Parteien oder solche, die die Macht des Marktes anstelle der Macht des Volkes sehen wollen. Das „Böse“ sind auch mehr Autokraten, das Fortschreiten des Populismus und der grassierende Mangel an Menschlichkeit. Dabei wird oft außer Acht gelassen: Gehört und gewählt wird, wer die besten Geschichten erzählt.

Wie in den Anfängen der Menschheit, als unsere Vorfahren an Lagerfeuern saßen, sich Geschichten erzählten und die informativ und unterhaltsam sein mussten, um spannend zu fesseln, sitzen wir vor unseren telemedialen Bildschirmen und lassen die Wirklichkeit nicht informationell sondern unterhaltsam an uns heran. Es sollte nach Möglichkeit ein Kick mit jeder Information verbunden sein. Damit sie nicht langweilig ist, darf jede noch so relevante aber leider trockene Information nicht sachlich rüberkommen sondern lieber spritzig, besonders, dramatisch und neu. Viele Nachrichten oder Meinungsäußerungen sind genau das und tun nur noch so, als würden sie informieren. Der Augenblickseffekt reicht aus, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Der Moderator als Content-Entertainer

Nicht nur in der Kunst unterscheidet man gerne zwischen Form und Inhalt. Dort und überall sind die Kreation bzw. Produktion von Inhalten und das Darstellen oder Verkaufen dieser zwei unterschiedliche Paar Schuhe. So kann es sein, dass es zum Beispiel einen genialen Witzemacher gibt, der die Witze aber selbst nicht gut vortragen kann. Er braucht dann jemanden, der die mediengerechte Vermittlung übernimmt. Benötigt wird ein Entertainer oder Showmaster, ein Moderator oder Verkäufer, einfach jemand, der sowohl Esprit hat, über eine begnadete Artikulationsfähigkeit verfügt, das richtige Auftreten und eine medienaffine Austrahlung mitbringt – damit der ursprüngliche Inhalt massentauglich und möglichst unterhaltsam rüberkommt. Ein Prototyp für solch einen Kommunikator ist Christian Lindner: als begnadeter Redner kann er das Publikum ggf. sogar darüber hinwegtäuschen, dass es ihn gegen die eigenen Interessen wählt, einfach weil er so sympathisch ist und auf alles irgendeine Antwort hat.

Medienvermittlung vor Inhalt

Wer kennt das nicht: Eine Veranstaltung erschiene farblos und fade, erst die Zuversicht und die Ausstrahlung eines gestandenen Moderators oder Präsentators macht daraus etwas Besonderes mit großer Eingängigkeit. Souveränität, Lockerheit und Witz öffnen die Herzen der Zuschauer, sprechen ihre Gefühle an. Ob nun ein Wissenschaftler glaubt, eine epochale Entdeckung im Bereich der Quantenmechanik gemacht zu haben oder ein Politiker das 300-Seiten-Papier seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter in zwei Sätzen widergibt, die dummerweise aber genau das Gegenteil der Studie sagen, damit es schneller verständlich wird – gefragt ist immer mehr eine vermittelnde Kompetenz, gerade in der Gleichzeitigkeit von Massen- und Mediengesellschaft. Da geht es sehr um die Form, der Inhalt, könnte man manchmal glauben, erscheint variabel. Wenn man genau hinhört, wimmeln die an die Öffentlichkeit gerichteten Einlassungen, Interviews und Reden auf der politischen Bühne mitunter wie eine Ansammlung von Hohlformeln. 2017 war ein weiterer Meilenstein bezüglich der Tarnung von Nicht-Inhalten. Das kann man mit Blick auf Donald Trump in Amerika sagen aber auch im Hinblick auf Viktor Orbán, den Ministerpräsidenten von Ungarn, oder Recep Tayyip Erdoğan, den Präsidenten der Türkei, die hinter ihren systematisch desinformierenden Kampagnen Demokratien in autokratische Abziehbilder verwandeln. Ihre Methode ist, über die Medien Geschichten zu erzählen, die ankommen. Orban zum Beispiel hat ja dem eigenen Vernehmen nach nichts gegen Flüchtlinge, er will angeblich nur die christliche Kultur schützen. Das war eine der vielen fragwürdigen Geschichten, die man in 2017 zu hören bekam.

Politiker als Geschichtenerzähler

Ob Emmanuel Macron in Frankreich die rechtsextreme Front National verhindert, Martin Schulz bei seinem Ansinnen, für die Bundestagswahl zu kandidieren, zunächst 100% der SPD-Deligierten-Stimmen beim Bundesparteitag am 19. März 2017 bekommt, um später in ein politisches Tief zu fallen, oder Christian Lindner von der FDP es schafft, seine Partei zu stärken und danach wieder zu schwächen – sie alle stehen für Inhalte, sie alle haben in 2017 ihre Versprechungen gemacht und ihre Geschichten erzählt. Mal gut und mal schlecht. Auf den Wähler oder Deligierten hatten nicht nur die Inhalte Einfluss, sondern die Personen selbst und die mit ihnen verbundenen Geschichten. Gemeint sind hier nicht unbedingt „Lügengeschichten“, sondern glaubwürdig erscheinende Geschichten, die Inhalte eingängig in griffig-metaphorische Wortbilder verpacken. Diese können viele verstehen, selbst wenn sie sich nicht eingehend mit dem Thema befasst haben. Im Zweifelsfall genügt eine Pointe oder eine witzige Wendung, eine sympathische Einlassung auf die Frage eines Journalisten oder aber eine schlagfertige Rückfrage, die den politischen Gegner aus dem Konzept bringt.

Donald Trump, der Wähler-Flüsterer

Und wer war 2017 der größte, der außergewöhnlichste Geschichtenerzähler? Ohne Zweifel Donald Trump. Seine Geschichten docken am Wunsch vieler amerikanischer Wähler an, für sie fatale politische Strukturen zu zerstören. Das amerikanische Wirtschaftssystem ist kummulierend in der Weltwirtschaftskrise 2007 aus dem Gleichgewicht geraten und hat danach zu einer weiteren Polarisierung bei der Verteilung der Finanz-Mittel geführt. Immer weniger verfügen über immer mehr Geld, immer größere Bevölkerungsteile können sich immer schlechter finanzieren. Die Unzufriedenheit war noch nie so groß wie jetzt. Und was für Geschichten erzählt Donald Trump deshalb? In einer Zeit, in der die meisten Amerikaner ihre finanziellen Möglichkeiten immer weiter eingeschränkt sehen, bietet er ihnen verbal alle denkbaren Sprachschablonen, um ihren Hass auszudrücken. Ob gegen Farbige, Frauen, Demokraten oder einfach das Wirtschaftssystem – verbal ist alles zu verunglimpfen, was sich denken lässt. Alles, was man will, ungefiltert direkt aus dem Gefühl auf die Zunge, in die laufende Kamera oder den Tweet getippt. Wie befreiend: Amerika, das Land des unbegrenzten Hasses hat endlich Form angenommen. Donald Trump als Showmaster der kollektiven Wut gibt allen Ressentiments und allem Hass eine Kurz-Form. Er drückt in seiner Unkorrektheit und sprachlichen Ungenauigkeit genau aus, was an Aggressionen in den Menschen, die ihn wählen sollen, gärt. Auch andere Demagogen in der Geschichte hatten diese Fähigkeit, Gefühle der Massen zu erspüren und dafür als Sprachrohr zu fungieren.

Die Geschichte von der Veränderung

2017 ging es um politische Umwälzungen und ihre Fortführung. Wo die Rezepte fehlen, Probleme zu lösen, ist Storytelling angesagt, gutes, altes Geschichtenerzählen, das die Massen fesselt. War es in Amerika schon seit langem so, dass der Wahlkampf immer mehr einer inszenierten Seifenoper glich, ist nicht erst mit Karl Theodor zu Guttemberg schon lange auch in good old Germany und in Europa die Formel angekommen „im Zweifelsfall Form vor Inhalt“. Es geht nicht mehr darum, etwas zu ändern, es geht darum, Geschichten zu erzählen, die gut nach Veränderung klingen oder Sensationen bieten.

Fakenews oder die Moral von der Geschicht‘

Dass Politik an den Tatsachen vorbei vor allem auch von dem Eindruck lebt, den die Wähler von dieser Politik haben, mag nichts Neues sein. Neu ist aber einerseits das Verhältnis zwischen der großen Anzahl drängender Probleme im In- und Ausland, wie dem Erstarken des Populismus, und andererseits dem zunehmenden Surrealismus in den Politiker-Geschichten, die unterhaltsam erzählt werden – aber weit davon entfernt sind, Handlungsalternativen zu bieten, mit denen etwas zu ändern wäre. Ein schönes Beispiel, wie man diese Geschichten unterlaufen kann, ist ihre Konfrontation mit harten Fakten. In Sachen „Pflegenotstand“ zum Beispiel hat der Auszubildende Alexander Jorde in einer „Hart-aber-fair“-Sendung der ARD erst Angela Merkel ratlos hinterlassen, und später in einer anderen Sendung, dem „Jahresrückblick 2017“ mit Moderator Markus Lanz, Christian Lindner von der FDP mit wenigen Worten aus dem Konzept gebracht. Der hatte vorher proklamiert, in der Pflege müsse effizienter gearbeitet werden und nicht gewusst, dass ein Pfleger schon jetzt bis zu 40 oder 50 Menschen betreuen muss und damit hoffnungslos überlastet ist. Im Gegenteil, im Augenblick fehlen bereits etwa 100.000 Pflegekräfte für eine menschengerechte Betreuung. Fakten gegen Politiker-Geschichten – und siehe da, Azubi Alexander Jorde hatte das Publikum auf seiner Seite. Was jeder sofort verstanden hatte, war die Geschichte von der Hohlheit jener Geschichten, die seifenblasenmäßig auf nur behaupteten Fakten beruhen.

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