Immer neue Digitalunternehmen mit ihren Apps drängen auf den Markt und virtualisieren die Welt: Google ersetzt die Gelben Seiten, Uber die Taxi-Zentrale und Facebook die Nachbarschaft. Das Internet insgesamt schafft die sozialen Hemmnisse ab und macht die Hassrede solange hoffähig bis sie in die reale Welt zurückschwappt und Donald Trump Präsident wird.
Durch die Virtualisierung der Welt gehen nicht nur Arbeitsplätze verloren, sondern langfristig wird das Modell des Besitztums in Frage gestellt. An seine Stelle treten Abonnement-Modelle beispielsweise für das Film- und Musik-Streaming oder Software-Leasing.
Wachstum als Modalität des Wirtschaftssystems
Unser Finanz- und Wirtschaftssystem basiert auf einer Dynamik des Wachstums. „Wachstum“ wird in gesättigten Märkten und in Märkten, in denen permanenter Verdrängungswettbewerb herrscht, zu einem systemisch lebenswichtigen Thema. Man kann andere Firmen übernehmen, man kann in andere Märkte hinein expandieren, man kann neue Produkte bringen und damit innovativ sein. Doch die Optimierung des Wachstums wird dennoch immer schwieriger. Der Marketingfachmann kennt Kurven für Produktlebenszyklen und reife Märkte, die nach einem endgültigen Höhepunkt nach unten weisen.
Systemkollaps durch unendliches Wachstum?
Gesamtmärkte sind dynamisch, das heißt, wenn Produkte sterben und Teilmärkte gesättigt sind, muss das nicht der Untergang des Wirtschaftssystems sein, weil neue Produkte und andere Märkte folgen können und so zur Erneuerung beitragen. Doch gibt es Anzeichen dafür, dass der Kapitalismus der reichen westlichen Gesellschaften ein begrenztes Konzept ist, das sich nach einem Höhepunkt selbst destabilisiert. Das liegt daran, dass das Konzept ohne Wachstum nicht funktioniert, Wachstum aber nicht ewig aufrecht zu erhalten ist.
Das Marketing verändert sich durch die Digitalisierung
Ein Motor der Wirtschaft nach der Jahrtausendwende sind Technologie-Unternehmen, die die Welt verändern, indem sie Technologien einführen, die die Welt komfortabler machen aber gleichzeitig flüchtiger erscheinen lassen. Früher war die Welt des Marketings in Produkte und Dienstleistungen unterteilt. Durch die Technisierung, durch Digitalisierung und Virtualisierung, hat sich das verschoben, bzw. es gibt eine begriffliche Schwerpunktverlagerung: Wir sind nicht mehr nur von Hardware umgeben, die unseren Alltag mit Digitaltechnologie durchdrungen hat, sondern haben vor allem mit Software zu tun, um die Hardware zu betreiben und benutzen zu können. Wie gehen Hardware, Software und mediale Inhalte (Content) ineinander über?
Beispiele für Hardware, Software und Content
- Das Handy beispielsweise ist die Hardware, sein Betriebssystem iOS oder Android ist die Software, um es zu betreiben, und die Apps sind die Anwendungssoftware.
- Der Fernseher ist die Hardware und die Fernsehsender bieten ihre Inhalte/den Content softwarebasiert dem Kunden an.
- DVD und Blue-ray-Disc als Trägermedien enthalten Filme und sind so nicht nur ein Inhalt/Content sondern technisch gleichzeitig eine Softwarelösung.
- Filmstreamingdienste wie Netflix liefern sowohl Inhalte und stellen sie gleichzeitig als Software für Handys, Tablets, Desktopcomputer oder Fernseher zur Verfügung.
- Musik: Von der Schellackplatte über die Langspielplatte (LP) und die Compact Disc (CD) bis zum digital verfügbaren MP3-Format ist die Musik als Produkt immer flüchtiger, unsichtbarer und weniger greifbar geworden. MP3-Musik ist Content in Softwareform für Handys, für Bluetooth-Lautsprecher, für Fernseher oder HiFi-Anlagen.
- Softwarekauf: Konnte man früher die Trägermedien Diskette, CD-ROM oder DVD der Software mit den gedruckten Handbüchern, die man gekauft und bessessen hatte, anfassen, wird sie nun digital vermietet und vertrieben.
Der virtuelle Server ersetzt den Hardware-Server
Nachdem die analoge Welt zusehends digitalisiert wurde, bedeutet der nächste Schritt, die Virtualisierung, auch, dass Software die Aufgabe von Hardware übernimmt. Wo beispielsweise früher ein Computer als Server Speicheraufgaben ausgeführt hat, ist ein virtueller Server eine Software, die auf einer Hardware läuft. Dabei lassen sich auf einer Hardware mehrere sogenannte virtuelle Maschinen betreiben, die die ehemaligen Hardwarelösungen zum Teil oder ganz in ihrer Funktion die physikalische Welt immitierend nachbilden können.
Die Virtualisierung des Geldes
Sieht man sich die Geschichte des Handels an, erfolgt hier ebenfalls eine Virtualisierung. Wo am Anfang beispielsweise mehrere Ziegen gegen ein Pferd getauscht wurden, wo also reale Gegenwerte für physikalisch Vorhandenes bestanden, ist mit der Einführung des ersten Zahlungsmittels bereits eine Abstrahierung des real Vorhandenen erfolgt. Ein Geldschein repräsentiert nicht mehr eine real vorhandene Ware sondern er ist ein gesamtgesellschaftlich vereinbartes Versprechen, für die Banknote einen Gegenwert zu erhalten. Nur ist der entscheidende Schritt damit vollzogen: ein Wert ist nicht mehr oder nicht vollständig an real existierende Waren gekoppelt. Der Weg hin zur Kreditkarte oder zur Zukunftsvision des völlig bargeldlosen Geldverkehrs auch im Alltag ist damit geebnet. Die vollständige Virtualisierung des Geldes und der Wegfall des Bargeldes würde damit die Werte, um die es ursprünglich ging, ihres physikalischen Vorhandenseins entledigen und sie damit aus dem Bewusstsein entfernen. Je virtueller und abstrakter die Bereiche des menschlichen Lebens werden, desto mehr kommt das Gefühl für die Waren, mit denen gehandelt wird, abhanden und desto mehr wird die realitätsbasierte Orientierungsfähigkeit des Einzelnen eingeschränkt und sogar erschwert.
Kredit, Leihgabe und Leasing als Virtualisierungsvorläufer
Sieht man sich nun an, wie mit im Grunde nicht mehr vorhandenem Geld an Börsen gehandelt wird bzw. wie dort reale Welt und Handelswelt entkoppelt wurden, oder sieht man sich an, wie Dinge des Alltags mit Geld finanziert werden, das man selbst nicht besitzt, erhält man eine Vorstellung von der Zukunft. Bereits der alt hergebrachte Kredit, das Verleihen und Leihen von Geld, versetzt jemanden in die Lage, mit Werten etwas zu tun, ohne selbst dieses Geld zu besitzen – ebenso wie das gänige Leasing dazu führt, dass einem Autofahrer sein Auto rein physikalisch nicht mehr gehört. Er nutzt es nur noch, besitzt es aber unter Umständen auch am Ende nicht mehr. Denkbar ist, dass ein geleastes Auto das nächste ablöst. Das ergäbe ein Leben mit Auto, ohne je selbst ein Auto besessen zu haben. Kredit, Leihgabe und Leasing kann man aus diesem Blickwinkel als Vorläufer der Virtualisierung ansehen.
Alles mieten, nichts besitzen
Geht man in dieser Betrachtung einen Schritt weiter und richtet sein Augenmerk auf das Geld und die Bezahlvorgänge, verdichtet sich der Trend. Bargeldloses Zahlen und Kreditkarten virtualisieren das Geld immer weiter. Ein Lebenskonzept, dass sich auf den so ständig verfügbaren Kredit stützt, gründet unter Umständen, ohne dass dies dem Nutzer ständig bewusst wäre, auf gar nicht vorhandenem nicht selbst bessesenem Geld. Wo früher DVDs oder CDs gekauft wurden, werden Filme nun gegen eine monatliche Gebühr angesehen oder wird Musik im Abo gestreamt. Was hinterlässt ein Streamer seinen Kindern, wenn er stirbt? Jedenfalls keine Tonträgersammlung und keine Filmsammlung. Er hat ein Leben lang monatlich für eine Nutzung bezahlt und rein physikalisch nichts dafür zurück erhalten, was ihm gehören würde. Es bleibt nichts zurück, das man verkaufen könnte. Auch Software wird längst gemietet und geleast. Die großen Konzerne bauen so ihre Marktmacht aus. Denn sie erhalten schon jetzt Geld von ihren Abokunden, das sie theoretisch abheben und ansehen können. Zumindest solange, wie es physikalisch vorhandenes Geld geben wird. Der Kunde selbst hält über die Nutzung hinaus nichts in Händen.
Schleichende Enteignung der anfassbaren Welt und des Besitzes
Es ist auf dieser Grundlage absehbar, in welche Richtung Digitalisierung und Virtualisierung gehen werden. Über das Internet als Vertriebskanal und Medium für die Inhalte werden immer mehr zentrale gesellschaftliche Funktionen und Ritualisierungen digitalisiert und dadurch virtualisiert. Die Welt wird zunächst scheinbar transparenter, grenzüberschreitender, einfacher und dadurch schneller in ihren Abläufen. Gleichzeitig wird sie abstrakter, weniger anfassbar und weniger durch das Gefühl erschließbar. Der damit einhergehenden schleichenden Enteignung wird man sich nur schwer entziehen können. Das bezieht sich auf physikalisch vorhandene und anfassbare Waren und Gegenstände wie auch auf den Geldverkehr. Damit wird die Virtualisierung eine Dimension politischen Ausmasses auch weit über den Wegfall von Arbeitsplätzen erhalten.