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Die „Marvel-Method“: Jack Kirby als narrativer Zeichner und grafischer Autor

Ein Comic-Heft hat einen Autor und einen Zeichner. Es gibt aber auch andere, arbeitsteiligere Möglichkeiten, die das übliche System durchbrechen. Eine erweiterte Variante wäre, dass ein Autor eine Geschichte schreibt und ein anderer Autor zum Beispiel eine Kurzgeschichte in eine dramatische Dialogform umschreibt – und damit also ein Drehbuch für das Comic verfasst. Genau so, wie ein Dramatiker für das Theater einen Roman dialogisch interpretiert. Bei den Comics in Amerika – gerade bei den arbeitsintensiven Heften – gibt es ja sowieso die Arbeitsteilung zwischen Entwerfer, der mit Bleistift arbeitet, und Tuscher, der die Bleistiftzeichnungen mit schwarzweißer Tusche nachzeichnet. So wie es Singer-Songwriter in der Popmusik gibt, so gibt es bei den Comics darüber hinaus auch Zeichner-Autoren, die in Personalunion das gesamte Comic ganz alleine schreiben und zeichnen. Wobei in Amerika eher eine kooperative Produktionsweise vorherrscht, das heißt, das kaum eine Einzelperson tatsächlich alles ganz alleine macht, während das in Europa traditionell eher der Fall sein kann. Die Art und Weise, wie bei den Marvel-Comics ab den 1960er-Jahren unter Stan Lee gearbeitet wurde, war ganz anders. Man ging einen ganz anderen Weg als einen der zuvor beschriebenen. Diese Methode ist so einmalig, dass sie einen Blick wert ist. Hier im Video werden verschiedene Aspekte des Wirkens von Zeichner-Legende Jack Kirby beleuchtet – unter anderem auch die sogenannte Marvel-Methode, Comics zu produzieren.

Zunächst einmal zu den Anfängen der Superheldencomics: Der Comic-Verlag Marvel-Enterprises hatte zwar als Nachfolger von Timely Publications/Timely Comics teilweise Helden der 1930er- und 1940er-Jahre neu belebt und wiederverwertet – zum Beispiel Captain America, Human Torch (Die Fackel bei den Fantastischen Vier) oder Namor, der Sub-Mariner. Dennoch ist schon allein die schiere Menge der ab Anfang der 1960er veröffentlichten Titel eindrucksvoll. Damals erschien das in Comicheft-Form, was viele heute eher aus dem Kino kennen: X-Men, Spider-Man (Die Spinne), Die Fantastischen Vier (The Fantastic Four), Die Rächer (The Avengers), Hulk, Daredevil, Captain America, Iron Man, Ant-Man, Thor, Punisher, Blade oder Ghost Rider. Auch die Figur des Silver Surfer wurde damals erfunden. Bevor manche der Superhelden eigene Titel bekamen, wurden ihre Geschichten in Heftserien zusammengefasst wie zum Beispiel Tales of Suspense mit Captain America und Iron Man oder Tales to Astonish mit Hulk, Submariner und vorher Giant-Man/Wasp, Journey Into Mystery (Thor), Strange Tales (Human Torch, Dr. Strange und Nick Fury: Agent of S.H.I.E.L.D).

Zum zweiten war bemerkenswert, dass die meisten dieser Hefte Stan Lee als Autor führten und Jack Kirby als Zeichner. Zwar gab es weitere Zeichner wie Steve Ditko, John Romita Sr., Don Heck oder Bill Everett – aber der Löwenanteil der Zeichnungen stammte von Jack Kirby. Verblüffend daran war, dass er unter den bezeichneten Zeichnern trotz seines immensen Arbeitspensums der virtuoseste, qualitativ Beste und vor allem Kreativste war. Dass im Wesentlichen nur zwei Mann eine neue popkulturelle Art entwickeln, Geschichten zu erzählen und diese zugleich umsetzen, erstaunt auch heute noch. Die Frage ist: Wie haben sie das gemacht? Auch als Stan Lee ab 1971 kürzer trat, war zunächst mit Roy Thomas wieder nur ein Hauptautor da, der ebenfalls ein gewaltiges Pensum absolvierte. Erst danach kamen weitere neue Autoren und auch immer mehr Zeichner hinzu.

Nach europäischen Maßstäben ist die Bewältigung eines solchen Arbeitspensums kaum machbar. Allerdings weiß man, dass Kirby der wohl produktivste Zeichner in der Geschichte der Comics war. Er hat seinen Stil immer weiter vereinfacht und ikonisiert, das heißt auf wesentliche Striche reduziert. Zudem hat Kirby ganz bewusst, weil er keine Lust dazu hatte, Zeit seines Lebens fast alle seine Comics von anderen Zeichnern tuschen lassen. Er war nicht der akribische Ausführer und konnte sich so allein auf das Design seiner Comics konzentrieren. Der Schlüssel dazu, einen solchen Output zu erklären, ist aber woanders zu suchen: Die Marvel-Methode besteht darin, dass Stan Lee seinem Zeichner gar keine Comic-Drehbücher – noch nicht mal im weitesten Sinne – geliefert hat. Es wurden dem Zeichner ganz grobe Ideen, manchmal nur in einem Satz oder wenigen Sätzen geliefert und Kirby hat diese Ideen im Zeichenprozess zu Geschichten gemacht. Er hat also, während er gezeichnet hat, die Geschichte von Bild zu Bild, von Seite zu Seite improvisiert und zwar ohne Text oder Sprechblasen einzufügen. Denn dies war der zweite Teil der Marvel-Methode: Die nur mit einigen Hinweisen am Rand der Zeichnungen versehenen Seiten kamen zurück zu Stan Lee und der hat sich durch die Zeichnungen inspirieren lassen und auf deren Grundlage die Texte geschrieben und eingefügt. Der narrativen und dann der zeichnerischen Improvisation folgte also letztlich die ausführende Text-Improvisation. Für den Texter Stan Lee hieß das: Er hat die Geschichten auf der Grundlage lockerer Ideen zeichnen und damit von Jack Kirby vordenken lassen. Die Geschichten von Lee/Kirby vor allem bei den Fantastischen Vier sind deshalb so phantasiereich, weil sich Kirby ohne eine Textkorsett voll ausleben konnte, er konnte seine Phantasie schweifen lassen und sich in den Charakteren verwirklichen. Der kreative Erfolg der Hefte basierte also nicht nur darauf, dass Kirby erzählerische Arbeit übernahm, er basierte grundlegend auf einem vollständig improvisierten Workflowkonzept, das hochgradig motivierte, weil es den Akteuren Freiheiten ließ. Der Zeichner wurde in die Lage versetzt, seine Vorstellungen und Träume umzusetzen. Das grafische Schreiben und das narrative, erzählende Zeichnen waren ein revolutionärer und zugleich ökonomischer Ansatz. Anders herum gedacht: Hätte Stan Lee für alle Geschichten Drehbücher schreiben müssen, wäre er mit der Arbeit gar nicht nachgekommen. Die Marvel-Methode war also nicht ein durchdachtes Konzept, sondern eine, die ökonomischen Notwendigkeiten folgte. Erzählen als Workflow-Methode – typisch amerikanisch und businessmäßig professionell.

Dahinter steckt der zutiefst produktionsorientierte Ansatz, zu liefern, Deadlines einzuhalten, nicht zuviel nachzudenken, sondern die Regelmäßigkeit sicherzustellen. Und das innerhalb eines recht ehrgeizigen und irrwitzigen Gesamtkonzeptes. In der Zeit, in der ein europäischer Zeichner ein Album fertig hat, hat sein amerikanischer Kollege 10x soviel abgeliefert. Allerdings auch um den Preis, dass die Qualität der Comic-Hefte meistens viel schlechter ist als die europäischer Alben. Die improvisatorische Lee/Kirby-Methode der 1960er-Jahre hat viele erzählerische Fehler zur Folge gehabt, zum Beispiel Stränge, die ins Leere liefen und nicht weiterverfolgt wurden. Dennoch hat die „Marvel method“ hervorragend funktioniert. Im Video erläutern die beiden Professoren Charles Hatfield (Cal. State, Northridge) and Ben Saunders (University of Oregon) fachkundig, warum Jack Kirby nicht nur ein grandioser Zeichner ist, sondern auch ein Bildgeschichten-Erzähler, wie man ihn nur selten findet. Zu zeichnen war für Kirby nicht nur die Visualisierung seiner Vorstellungen und Ideen, zu zeichnen war ein Vehikel für seine Vorstellungswelt. Denn schreiben nach der Marvel-Methode bedeutete anzufangen zu zeichnen, ohne viel nachdenken zu müssen. Die Geschichten entstanden aus der Kraft der Zeichnungen heraus. Selbstinspiration und reiche Imagination sind die Stichworte für diese Arbeitsmethode.

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