Der schmierige Dorfgigolo, Toussaint Paque, war ebenfalls zum Leichenschmaus erschienen. Dabei hatte Jean-Pierre ihn gar nicht eingeladen. Jean-Pierre kannte sonst niemanden mehr, der sich noch Pomade in die Haare schmierte. Toussaint stand auf Rock ’n’ Roll aus den 1950er Jahren, das könnte seine Frisur erklären. Jean-Pierre erinnerten die fettigen Wellen auf Toussaints Kopf an Gustav Gans (fr. ‚Gontran Bonheur‘). Der Witwer mochte den passionierten Jäger nicht besonders. Gerade beugte sich Toussaint mit einem strahlenden Lächeln zu der neuen Wächterin hinüber. Vielleicht sollte Jean-Pierre sie warnen. Ach was.
Jean-Pierre und Marga hatten Toussaint vor vielen Jahren kennengelernt, als sie auf einem Dreikönigsfest waren, das jedes Jahr im Januar von den Honoratioren des Ortes veranstaltet wurde. Alle Bewohner waren eingeladen, auch die von auswärts. Marga ging natürlich hin, denn es gab Königskuchen und Sekt ganz umsonst. Links von ihr saß Jean-Pierre, der damals schon ihr Mann war, und rechts saß Toussaint, der gerade von seiner Ex-Frau ein kleines Häuschen am anderen Ende des Ortes geschenkt bekommen hatte. Toussaint ging aus dem gleichen Grund hin, es gab umsonst Königskuchen und Sekt. Sie sei also die berühmte Schlossherrin Marga, schnatterte Toussaint, er freue sich ja so, ihre Bekanntschaft zu machen. Dabei lehnte er sich zu ihr herüber, bis er ganz schief saß und umzufallen drohte. Dann erwähnte er die Kaninchenplage auf dem Schlossgrundstück, fügte hinzu, dass er Jäger sei und davon träume, ihr Abhilfe zu verschaffen. Marga dachte sogleich an Abhilfe in anderer Hinsicht, gab sich aber abwartend. Das merkte ihr Sitznachbar und stellte sich hastig vor. Er sei Toussaint Paque, aber heilig sei er nicht und er käme auch nicht nur zu Ostern, wie der Osterhase. Dann lachte er schallend. „Toussaint“ ist das französische Wort für das Fest Allerheiligen, wird aber auch als Name verwendet. Und „Pâques“ ist die französische Bezeichnung für Ostern. Marga kam das zwar vulgär vor, aber vielleicht hatte dieser Toussaint ja irgendwelche Qualitäten. Sie sah ihn abschätzend an. Er schwatzte munter weiter drauflos und schließlich verabredete man sich für den kommenden Samstag zur Kaninchenjagd. Marga nahm sich vor, Toussaint Jean-Pierres Musketensammlung zu zeigen.
Am Freitag nahm Marga ein romantisches Bad in ihrer goldfarbenen Badewanne. Die war nicht aus echtem Gold, sah aber so aus. Hach, war das herrlich. Da sie sich einmal am maroden Lichtschalter einen gewischt hatte, musste Jean-Pierre auf dem Waschbecken und auf dem Wannenrand Kerzen aufstellen. Er brachte Marga ein Glas preiswerten Sekt und stellte den Kassettenrekorder an. Marga sang gerade die Arie der Königin der Nacht lauthals mit, als etwas an ihrem Kopf zischelte und es stank nach verbranntem Haar. Ihre Haare hingen in eine der Kerzen. Margas Gesang ging direkt in einen spitzen Schrei über. Sie sprang auf und eine Welle rosigen, duftenden Wassers spülte die Kerzen vom Badewannenrand. Eine davon rollte brennend unter ein Handtuch. Das Handtuch entzündete sich und Marga schrie noch lauter.
Da trat Jean-Pierre ein und warf das Handtuch ins Badewasser (nicht etwa den Kassettenrekorder). Weinend berichtete ihm Marga alles und er untersuchte ihre Haare, am Hinterkopf waren einige Locken deutlich kürzer. Sie würde halt auf der Jagd einen Hut tragen müssen. Fortan würde sie immer einen Hut tragen, wenn sie ausging. An diesem Abend war Marga ungewöhnlich anschmiegsam und lieb. Jean-Pierre wunderte sich zwar ein wenig, freute sich aber hauptsächlich. Vielleicht war eine Kaninchenjagd gar nicht so schlecht.
Außer den antiken Musketen, die eh nicht funktionierten, hatten Marga und Jean-Pierre auch noch ein modernes, schussbereites Jagdgewehr. Das beanspruchte Marga natürlich, als am nächsten Tag Toussaints postgelber Citroën Acadiane auf das Schlossgrundstück fuhr. Marga trug ein weißes Hemd mit üppigem Rüschenkragen, der aus einem dunkelroten Samtjackett quoll, dazu ockerfarbene Kniebundhosen, schwarze kniehohe Reitstiefel und einen moosgrünen Dreispitz wegen der verbrannten Haare. Wär ja schön gewesen, wenn man Pferde gehabt hätte und reiten könnte. Sie konnte sich ohnehin nicht vorstellen, wie Jagd ohne Pferde gehen sollte. Marga hatte „Fantomas bedroht die Welt“ (‚Fantômas contre Scotland Yard‘) gesehen und da kamen Pferde drin vor, die den Reitern sehr gut standen. Daher staunte sie nicht schlecht, als Toussaint einen Verschlag aus dem Kofferraum holte. Den wollte er am Rand der Wiese aufstellen, damit sie beide sich dahinter verschanzen konnten. Marga sah hilfesuchend zu Jean-Pierre, der mit den Schultern zuckte. Was sollte er machen, es war ja nicht seine Idee gewesen, diesen Dorfcasanova hereinzulassen. Marga wandte sich trotzig zu Toussaint um. Sie würde sich nicht verschanzen. Niemals. Sie würde sich vor Idioten wie diesem Toussaint verstecken, aber mit ihm verschanzen würde sie sich nicht.
Amüsiert sah der Wächter von weitem zu. Er hatte den Auftrag bekommen, Margas Oldtimer zu putzen und zu polieren. Die alten Karren fuhren zwar nicht mehr, sollten aber dennoch schön aussehen. Der Wächter wienerte gerade Margas Mercedes-Benz Lo 2000 von 1932. Den Lastwagen, mit dem ihr damaliger Freund zu Beginn ihrer Karriere als Antiquitätenhändlerin die Ware herumgefahren hatte.
Dann tauchte die Ziege Marguerite auf dem Rasen auf, Toussaint zielte auf ein unvorsichtiges Kaninchen am Ende der Wiese und Marga befürchtete, Toussaint würde die Ziege erschießen. Die Dinge waren total außer Kontrolle geraten. Toussaint schoss. Der Schuss war unheimlich laut. Marga kreischte und zielte mit dem funktionierenden Jagdgewehr auf Toussaint, der sich überrascht duckte. Der Wächter sah, dass Margas Gewehr in seine Richtung schwenkte und warf sich zu Boden. Marga drückte ab, der Rückstoß traf schmerzhaft auf Margas Schulter und riss die Waffe hoch. Der Schuss landete zumindest teilweise in dem großen alten Mercedes LKW. Die Schrotkugeln klingelten auf dem Metall. Jean-Pierre warf sich auf Marga, entriss ihr die Waffe und fing die Frau auf, bevor sie zu Boden fiel. Margas Schulter war geprellt, sonst war niemand verletzt. Toussaint packte in Windeseile sein Zeug ein und fuhr schimpfend weg. Er erzählte danach allen Leuten im Ort und im Café des Nachbarortes, dass Marga eine gefährliche Verrückte sei. Marga erzählte danach allen ihren Freunden in Marseilles, ein verrückter Jäger habe versucht, ihre Ziege zu erschießen. Marga ging nie wieder zum Dreikönigsfest, obwohl es dort Kuchen und Sekt umsonst gab. Aber sie war sehr nett gewesen zu Jean-Pierre an dem Abend nach der Schießerei. Also war er nicht wütend auf Toussaint. Prinzipiell hatte Toussaint damals auch recht gehabt. Marga war verrückt gewesen.
Inzwischen hatte der Gigolo aufgegeben, an der Wächterin herumzubaggern und saß eng an die blond gefärbte Sängerin geschmiegt, die im alten Pfarrhaus wohnte. Die Rentnerin lächelte selig. Was fanden die Frauen bloß an dem schmierigen Kerl? Irgendwelche Qualitäten musste er doch haben. Jean-Pierre schüttelte den Kopf und wandte sich wieder den anderen Gästen zu.
Hier ist das erste Buch Leben mit Marga von Charlotte Palme in neun Teilen nachzulesen:
Teil 1: Voodoo
Teil 2: Es hat Füße
Teil 3: Marga schreibt ein Buch
Teil 4: Griselidis
Teil 5: Jean-Pierres Wunsch geht in Erfüllung
Teil 6: Reinkarnierte Hunde
Teil 7: Abstürze
Teil 8: Schrecken
Teil 9: Auferstehnung
Hier ist das zweite Buch Leben ohne Marga von Charlotte Palme nachzulesen:
Teil 1: Leichenschmaus
Teil 2: Relativitätstheorien