„Zu mir kommen die Massen, die Leute lieben mich“, erklärte der unterhaltsame Künstler dem ernsthaften Künstler. Der dachte nach. „Zu mir kommen nur einige wenige, das stimmt, dafür genau die, die ich treffen will.“
Der Unterhaltungskünstler war verunsichert. „Aber bei mir fühlen sich die Menschen wohl, sie genießen, was ich tue, und können den Schrecken der Welt vergessen.“ – „Dafür schläft bei mir niemals jemand ein, im Gegenteil, wer meine Kunst ansieht, hat die Chance zu erwachen.“ Das wurde dem Unterhaltungs-Künstler zu viel. „Willst du damit sagen, ich wäre einschläfernd? Bei mir tanzen und singen die Menschen, da schläft niemand.“ – „Sehr richtig, die Körper tanzen und die Münder singen, aber ihr Geist ruht bis an ihr Lebensende“, erwiderte der Ernsthafte.
Da schrie der unterhaltende Künstler: „Was masst du dir an? Ich werde dich lehren, überheblich zu sein.“ Bei diesen Worten hatte er ein Messer gezogen und richtete es gegen den ernsthaften Künstler. „Wenn dich deine Unterhaltungskunst ausfüllen würde“, sagte der, „müsstest du nicht plötzlich ernsthaft werden. Stich zu, und du gibst damit zu, dass du dich nach echtem Ausdruck sehnst“, sagte er. Der unterhaltende Künstler erstach in seiner Wut den ernsthaften Künstler.
Als er viel später der Beerdigung beiwohnte, auf der nur wenige Menschen zugegen waren, während auf seiner Beerdigung sicher die halbe Stadt auf den Beinen gewesen wäre, umfing ihn Trauer. Er setzte sich auf einen der harten Holzstühle und blieb dort lange sitzen, und als er aufgestanden und gegangen war, war er nicht mehr derselbe.
Er trat noch auf, aber immer weniger Menschen kamen zu seinen Vorstellungen, doch die wenigen, die klatschten, klatschten doppelt so laut, als das vorher der Fall gewesen war. Er wurde gefragt, was mit ihm geschehen sei. Er erwiderte, um geweckt zu werden aus seinem tiefsten Schlaf, hätte es eines besonders eindringlichen Weckers bedurft. Nur schelle der weiterhin so laut, dass er niemals wieder würden schlafen können. All das Schreckliche, das er deshalb nicht träumen könnte, würde ihn am Tage nicht mehr loslassen und ihn ernsthaft werden lassen.
Weitere Kunsttagebücher:
- Was ist Kunst? Und warum nicht?
- Als die Nacht aus dem Blickwinkel des Tages unterbelichtet wirkte
- Warum Eitelkeit zur Kunst gehört und doch ihr Untergang ist
- Ziellosigkeit als Grundlage assoziativer Prozesse
- Kopfkino oder zeigen und weglassen im anspruchsvollen Film
- Warum die Größe einer Zeichnung ihre Aussage verändert
- Wann Form ein Inhalt sein kann
- Was könnte das sein?
- Gedanken-Gefühls-Bilder innerhalb einer Formgenese
- Die Welt ist voller Möglichkeiten oder Zufall und Entscheidung in der Kunst
- Über das „Zuviel“
- Wiederholung als Formoptimierungs-Prozess
- Der assoziationsoffene Raum
- Kunst und technisch-handwerkliches Können: Warum es besser ist, nichts zu können
- Methoden der Kunst: Durch Wegnehmen und Hinzufügen Bedeutungen erschaffen
- Der Kunsst
- Was ist Kunst?
- Künstler-Selbstbild: Skizze eines zufallsgesteuerten Lebens ohne anarchistische Romantik
- Beliebigkeit als Kunstprinzip: Über die vermeintliche Sinnlosigkeit assoziativer Folgerichtigkeit
- Langlauf oder Kurzstrecke? Das Intervall in der Kunst
- Der Künstler: Ein Assoziationsautomat
- Zeichnen und die Macht des Zufalls
- Vorhersehbarkeit und Offensichtlichkeit – über die Langeweile in der Kunst
- Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
- Über die metaphorische Schwangerschaft der Bilder
- Über das Vorläufige und das Endgültige in der Kunst
- Warum Kunst ein Virus ist
- Kreieren und wiederholen: Warum Kunst nicht kreativ ist
- Das Unverwechselbare in der Kunst als Ausdruck der eigenen Unfähigkeit
- Das Ungefähre als das nicht Greifbare
- Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
- Der blinde Fleck und die Kunst der Betrachtung
- Kompetenz und Versagen als sich selbst bedingende Gleichzeitigkeit
- Kunst als Selbstdialog
- Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
- Die Überforderung
- Eindeutigkeit und Wahrnehmung in der Kunst
- Kunst als Sprache
- Der Mangel als Ansporn
- Bedeutung und Orientierung als Ziele der Kunst
- Selbstbild und Seins-Inszenierung
- Kunst als Chiffre der Notwendigkeit
- Kunst als fortgesetzter Traum
- Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?
- Die Maslow-Bedürfnis-Pyramide oder fühlen und durchleben in der Kunst
- Jenseits der Worte
- Wahrheit und Verdrängung
- Das Gefühl für die Dinge oder von der Schwierigkeit, Kunst zu definieren
- Zwischen Selbsttransformation und Fremdwahrnehmung
- Die Absolutheit der Ich-Perspektive
- Fehler machen als „Sesam-öffne-dich“
- Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen
- Jede Regel will gebrochen sein
- Die Intrinsik als Wesenszug