Der Zug hielt kurz an. Bis eben hatte ich alleine ohne Nachbarn auf einem der Fensterplätze gesessen. Auf den Sitz neben mir hatte ich meine Tasche und meine Jacke gelegt, unter den Sitz gegenüber streckte ich meine Beine aus. Nur der letzte freie Sitz der Vierersitzgruppe war nicht von mir in Beschlag genommen. Ich saß entgegen der Fahrtrichtung, ich saß immer entgegen der Fahrtrichtung. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass ich grundsätzlich gerne auch mal zurückschaute, zwar nicht in der Vergangenheit lebte, aber der Zukunft doch gerne ungeplant gegenübertrat. Vorhersehbares langweilte mich schnell. Auf meinem Schoß lag ein kleines Notizbuch, in dem ich herumgekritzelt, Gedanken notiert hatte. Mit dem Stift, einem schönen Designkugelschreiber aus gebürstetem Edelstahl, spielte ich herum, drückte die Mine heraus und ließ sie wieder in dem Korpus versinken. Ich mochte dieses leise Klicken und der Druckpunkt, wenn die Mine sich ein- und ausfuhr fühlte sich auf meinem Daumen angenehm an. Ab und zu sah ich aus dem Fenster. Langsam wurde es dunkel, die Sonne hatte sich in einen blutroten Drachen verwandelt, der die Welt in Brand setzte.
Einige stiegen aus, mehr jedoch kamen herein. Die Luft wurde weniger. Dann ruckelte es sanft, der Zug setzte sich wieder in Bewegung, als ein Mann sich auf den freien Platz mir schräg gegenüber setzte. Ich wand mich ihm kurz zu, wollte ihm zunicken, wie man das eben so macht. Das erste, das mir an ihm auffiel, war sein Mantel aus dunkelbraunem schwerem Leder. Der Mantel ging hinunter bis über seine Knie. Er war aus so dickem Leder, dass man problemlos Satteltaschen daraus hätte machen können und doch sah er keineswegs störrisch und hart aus, vielmehr floß er an seinem Träger hinunter und erinnerte mich an einen schlammigen Wasserfall. Es war warm im Zug und der Mann öffnete den Mantel, um ihn auszuziehen. Damit das möglich war, musste er eine Art Gurt lösen, der von der rechten inneren Seitennaht bis über das innere untenliegende Mantelteil lag und dort links an der Seite mit einer dicken Stahlschnalle befestigt war. So etwas hatte ich noch nie gesehen, wahrscheinlich diente es dazu, den übereinandergeschlagenen Mantelteilen den richtigen Sitz zu verpassen. Das obere vordere Mantelteil hatte er zuvor so schnell aufgeknöpft, dass ich mich fragte, wie oft er dies am Tag machte. Mantel an, Schnalle zu, Knöpfe zu, Knöpfe auf, Schnalle auf, Mantel aus. Er rollte ihn zusammen und verstaute ihn im Gepäcknetz über meinem Kopf, dann setzte er sich. Nun sah ich auf einen dunkelgrauen Anzug, das Jacket war aufgeknöpft und gab den Blick auf eine Weste und ein schwarzes Hemd frei. Aus dem kleinen Einsteckfach der Weste baumelte eine Uhrkette hervor, zumindest hielt ich es für eine Uhrkette. Auch diese Kleidungsstücke waren von derartiger Qualität und strahlten trotz ihrer eigenartigen Derbheit eine solche schmeichelnde Sanftheit aus, dass ich versucht war, meine Hand auszustrecken und darüber zu streichen. Mantel und Anzug waren von solcher Gegensätzlichkeit, wie es mir noch nie bei einem Menschen aufgefallen war. Dann erst nahm ich den Mann wahr. Er war schlank, das Alter konnte ich trotz seiner schon leicht angegrauten sowie oder gerade wegen seiner silberfarbenen Brille nicht schätzen. Ich hielt Ende zwanzig für möglich, genauso gut konnte er aber auch Mitte fünfzig sein. Im herkömmlichen Sinne würde er sicher nicht als attraktiv bezeichnet werden, aber dennoch fand ich ihn sofort wunderschön. Dabei sah er unendlich müde aus, sein Gesicht war blaß und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er griff in sein Jacket und holte ein Notizbuch hervor, ein kleines ledernes abgewetztes Ringbuch. Ich verfolgte jeder seiner Bewegungen. Er hatte gepflegte fast zarte anmutige Hände und am kleinen Finger der linken Hand steckte unpassender Weise ein breiter Silberring. Dann schlug er die Beine übereinander, legte das Notizbuch auf das eine Bein und blätterte es auf. Mit der freien Hand zog er aus seiner Hemdtasche einen Kugelschreiber heraus. Es war der Werbekugelschreiber einer Versicherung. Dieser Mann schrieb mit dem Giveaway-Kugelschreiber einer Versicherung. Das schockte mich. Ich stellte mir seine Wohnung vor, seinen dunklen Schreibtisch aus Mahagoni mit drei großen schweren Schubladen, die man nur aufbekam, wenn man mit beiden Händen gleichzeitig fest daran zog, die Ecken zierten schwere geschmiedete Beschläge. Viele Male war er mit ihm umgezogen und durch die Beschläge hatte der Tisch keine einzige Macke abbekommen. In der oberen Schublade lagen edle exquisite Füller, auf rotem Samt gebettet und jeder einem anderen Zweck dienlich. Mit dem goldenen Hubkolbenfüller schrieb er Gedichte, mit dem schwarzen notierte er Termine in seinen Filofax, mit dem trivialen Kaufhausfüller, einem Geschenk einer seiner Ex-Geliebten, der zwar häßlich dafür aber sündhaft teuer gewesen war, kritzelte er auf der Schreibunterlage herum während er wichtige Telefonate führte. In der zweite Schublade lagerte eine ganze Batterie von kleinen Glastiegeln verschiedenster Tinten und in der dritten Schublade reihten sich mindestens fünf Brieföffner aneinander und natürlich lag dort auch eine geladene Pistole, die nicht etwa zur Verteidigung diente, sondern mit der er vorgesorgt hatte, dem Leben willentlich ein Ende setzen zu können, wenn er dessen überdrüssig geworden sein würde.
Der Rest seiner Wohnung bestand aus durchsichtigen Plastiksäcken, in denen sich Tausende von Werbekugelschreibern angesammelt hatten, die den Rest seiner Möbel formten. Selbst Innenwände gab es in seiner Wohnung nicht, bildeten doch die aufeinandergestapelten Kugelschreibersäcke ein wahres Labyrinth und geleiteten einen von einem Zimmer zum Nächsten. Überflüssig zu erwähnen, dass kein einziger Kugelschreiber doppelt vorhanden war. Dieser Mann bekam auf Schritt und Tritt Werbekugelschreiber geschenkt. Ich war mir sicher, dass er schon ernsthaft darüber nachgedacht hatte, einen Begleiter einzustellen, der für ihn die tägliche Fuhre durch den Tag brachte und diese dann abends in die entsprechenden Tüten verstaute. Ich bin mir sicher, dass es ihm nicht entgangen war, dass ich ihn minutenlang angestarrt hatte, hoffte jedoch gleichzeitig, dass es sich in Echtzeit nur um einige besonders kurze Sekunden gehandelt hatte. Es war mir peinlich, ich spürte wie mir heiß wurde und mir die Röte ins Gesicht stieg. Ich wand mich ab, kramte mir einen Kaugummi aus meiner Handtasche, stopfte diesen in meinen Mund und widmete mich scheinbar meinen Notizen. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Mann begonnen hatte, seinerseits in sein kleines Buch zu schreiben. Ich wollte, nein, ich musste unbedingt seine Schrift sehen, dann würde ich ihn auch keines Blickes mehr würdigen, aber seine Schrift musste ich sehen. Kurz überlegte ich aufzustehen und zur Toilette zu gehen, um dabei einen Blick zu erhaschen, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder, als ich das Zittern in meinen Knien spürte. Und so streckte ich mich mich nur etwas, wie Menschen das eben während langer sitzender Tätigkeiten gerne mal tun. Ich wollte ihn glauben machen, ich sei in diesen Zug schon in Paris Gare de l’Est eingestiegen und würde ihn auch erst wieder morgen Früh in Wien am Hauptbahnhof verlassen. Später bei der Fahrkartenkontrolle sollte ich erfahren, dass er eine Monatskarte besaß, diese Zugstrecke also offenbar regelmäßig befuhr und ihm seinerseits sollte zu Ohren kommen, falls er das überhaupt wahrgenommen hatte, dass ich mit einem Regionalticket unterwegs war und somit keineswegs auf dem Weg von meiner gutsituierten Pariser Familie zu guten Freunden in Wien fuhr, sondern nur von einem geschäftlichen Termin in der hundert Kilometer entfernten nächsten Großstadt kam.
Auf alle Fälle genügte es mir einen langen Blick auf sein Buch zu werfen. Er schrieb mit einem schwarzen Kugelschreiber. Ich selbst würde lieber keine einzige Zeile schreiben, wenn ich dies mit einem schwarzschreibendem Stift tun müsste. Ich schrieb blau oder braun oder eben gar nicht und das seit meiner Schulzeit. Zu meiner Enttäuschung hatte ich kein einziges Wort lesen können, nicht einmal einen Buchstaben hatte ich erkennen können und das obwohl er eine riesengroße Schrift hatte. Wenn er schrieb, bewegte sich seine ganze Hand auf- und abwärts, rutschte über das Papier und erzeugte ein kratzendes Geräusch. Bei jeder Pause klappte er das Buch zu, ließ allerdings den Kugelschreiber darin, um es dann schnell wieder aufschlagen zu können und weiterzuschreiben. In seinen Schreibpausen gähnte er ein paar mal tief, kniff dabei die Augen fest zusammen, nahm sogar seine Brille ab und rieb sich über die Lider. Ich war enttäuscht, dass ich nichts hatte lesen können, aber seine Schrift setzte sich nur aus höheren und niedrigeren Zacken zusammen und glich eher den Aufzeichnungen eines EKG, denn der Handschrift eines exzentrischen Dichters. Warum also klappte er sein Buch überhaupt zu, wenn er nachdachte. Vielleicht hielt ja er mich für eine hysterische Stalkerin und vielleicht sogar erinnerte ich ihn an seine Ex-Geliebte, die, die ihm den häßlichen Füller geschenkt hatte oder aber er wollte sich nur vor meinen neugierigen Blicken schützen. Vielleicht war es ihm aber auch peinlich, dass er mit einem Werbekugelschreiber schrieb, denn einmal kratzte er mit dem Fingernagel an dem Aufdruck herum, ganz so als wolle er ihn ablösen. Ich musste aufhören, ihn anzustarren. Was war nur los mit mir, das war doch sonst nicht meine Art und so zwang ich meine Augen nach unten zu schauen und endlich gelang es mir meine Gedanken wieder auf das Blatt Papier vor mir zu lenken. Ich verbesserte etwas an dem Satz, den ich vorhin notiert hatte, strich etwas durch, machte eine Fußnote und versuchte meinen Sitznachbarn zu vergessen, dessen pure Anwesenheit mich derart aus der Fassung brachte. Gerade wollte ich einen neuen Absatz beginnen, als mein Designkugelschreiber auf einmal zu mir sprach. „Du willst wissen, was der Typ da schreibt. Ok, ich werd es für dich herausfinden. Denn vorher wirst du ohnehin keinen einzigen vernünftigen Satz mehr mit mir schreiben.“ Mein Kugelschreiber sprach zu mir, glitt mir aus der Hand, nicht ohne einen häßlichen dicken Strich über meine Notizen zu machen, als wollte er mir sagen, dass meine Gedanken nichts wert seien, und begann von meinem Sitz zu klettern, rollte über den Fußboden und machte sich daran auf den anderen Sitz hochzuklettern. „Lass das“, dachte ich, „komm sofort zurück“, befahl ich ihm. Dieser elende Kugelschreiber schrieb doch sonst genau das, was ich ihm diktierte. Was bildete er sich ein. „Wenn du nicht augenblicklich umdrehst, werde ich dich mit einer schwarzschreibenden Mine ausstatten und dich nie mehr benützen“, klang es in meinem Kopf. Ich lehnte mich leicht nach vorne und wollte den Kugelschreiber unauffällig ergreifen. Aber er war zu flink und schon auf die Kopflehne des Sitzes geklettert. Panisch sah ich zu dem Mann hinüber. Vielleicht hatte er ja ausgerechnet heute, die Pistole aus seiner Schublade in seiner Jackettasche dabei und würde mich Wahnsinnige damit zur Strecke bringen und jeder Richter der Welt würde ihn freisprechen und seine absolute Notwehr anerkennen. Der Mann jedoch hatte gerade sein Büchlein zugeklappt, seinen Kopf an die Kopflehne gelehnt und schaute sinnierend aus dem gegenüberliegenden Fenster. Mein Kugelschreiber war ihm mittlerweile auf die Schulter gesprungen, an seinem Revers hinuntergerutscht und schlich nun leise über sein Bein in Richtung Notizbuch. Ich musste irgendetwas tun. In diesem Augenblick drehte sich der Mann zu mir. Seine wasserblauen Augen zogen mich in einen Sinnenstunnel, in dem ich drohte das Bewusstsein zu verlieren. Ich täuschte einen Hustenanfall vor, legte mir entschuldigend die Hand vor den Mund und beugte mich nach vorne, dabei stieß ich einmal heftig an sein Bein. Mein Kugelschreiber fiel von dem Stoß herunter und rollte unter den Sitz. Endlich konnte ich mich bücken, ich ergriff den Stift, hörte auf zu husten, griff fast gleichzeitig nach meiner Jacke und meiner Tasche und stürzte zur Zugtür, ganz in der Hoffnung, die nächste Haltestation würde nicht mehr weit sein.
Aber der Zug fuhr weiter durch die Dunkelheit, hielt nicht an und brachte mir mit keinem Halt die ersehnte Erlösung, ließ mich nicht flüchten. Ich lehnte mich mit der Stirn an die kalte Glasscheibe der Zugtüre. Auf einmal spürte ich die Anwesenheit einer Person. Als ich aufsah, sah ich in der Scheibe das Spiegelbild des Mannes. Ich schluckte, drehte mich um. Ich war mir sicher, er würde die Zugtüre aufreißen und mich hinausstoßen. Ich hob meine Hände und legte sie schützend um meinen Hals. In Wirklichkeit muss es so ausgesehen haben, als wolle ich mich selbst erwürgen. Der Mann lächelte mich an. „Sie haben ihr Notizbuch vergessen. Das sollten Sie nicht tun.“ Seine Stimme klang wie die Stille inmitten eines Wirbelsturmes, man konnte sie in der Luft sehen, ganz langsam war der sonore Klang aus seinem Mund auf mich zugekommen und in meine Ohren gekrochen. Ich streckte meine Hand aus, nahm das Buch an mich, stammelte ein Danke, steckte es in meine Jackentasche. Dann endlich hielt der Zug, ich stieg aus, und rannte zum Ausgang, dabei rempelte ich ein sich küßendes Liebespaar an, das sich tränenreich verabschiedete oder ein glückseliges Wiedersehen feierte. Ich lief vor das Bahnhofsgebäude, ich hatte den Zug unplanmäßig eine Station vor meinem eigentlichen Ausstieg verlassen. Und so beschloß ich ein Taxi zu nehmen, ich war zu durcheinander und schließlich war es nicht weit bis zu mir nach Hause. Der Taxifahrer schaltete das Taxometer an und fuhr los. Mein Hand griff in meine Jackentasche, ich zog mein Notizbuch heraus und blätterte es auf. Es war bis auf die letzte Seite voll geschrieben. Eine schwarze eckige kantige Schrift hatte jedes Blatt gefüllt. Wie viele Stunden ich über dem Buch gesessen und die Schrift angestarrt habe, weiß ich nicht. Zu Anfang habe ich es gedreht, auf den Kopf gestellt, habe einen Spiegel hingehalten und es mit der Lupe betrachtet. Abends bin ich in meinem Bett auf dem Rücken gelegen, die Arme mit dem aufgeklappten Buch nach oben gestreckt bis sie mir weh taten und habe gehofft, dass meine Augen endlich würden lesen können. Ich habe versucht das Gekritzel zu kopieren, um mit meinem Nachschreiben sein Geheimnis zu entdecken. Nächtelang bin ich vor meinem Rechner gesessen, habe alle Schriften und alle Sprachen der Welt angeschaut und verglichen, habe verzweifelt nach der Form der Linien gesucht, die mich so zum Narren hielten. Aber das zackige Auf und Ab blieb stumm. Schließlich hielt ich es jedem unter die Nase, der zu mir kam oder der meinen Weg kreuzte. Also nicht nur Familie, Freunden und Bekannten, nein, auch dem Kaminkehrer, dem Paketfahrer, der nicht nur meine Sendungen bei mir zustellte, sondern auch gleich die der gesamten Nachbarschaft bei mir abgab, dem Briefträger und dem vierzehnjährigen Jungen, der mittwochs immer das Wochenblatt so zerknüllt in meinen Briefkasten stopfte, der Kassiererin im Supermarkt oder der Dame am Kiosk, bei der ich mir einmal in der Woche meine Zimtkaugummis kaufte. Jedem erzählte ich die Geschichte von den verlorenen Kontaktlinsen und meiner extremen Fehlsichtigkeit, aber alle schüttelten nur den Kopf und drehten sich mehr oder weniger desintereissiert weg. Merkwürdigerweise fragte nicht einer danach, was es denn damit auf sich habe. Irgendwann steckte ich das Buch dann in meine Handtasche. In genau die Tasche, die ich, wenn ich aus dem Haus ging, eigentlich immer mit mir herumtrug. Es war eine dunkelbraune sackartige Ledertasche, die im Laufe der Jahre ihre Starrheit verloren hatte und nun handschmeichelnd weich war. Sie schluckte meine Habseligkeiten und meine Gedanken, schüttelte sie durcheinanderr, ließ sie wachsen und gab sie, was ganz verwunderlich war, auf Verlangen meist wieder frei. Irgendwie erinnerte mich diese Tasche an den Mantel des Mannes im Zug und vermittelte mir fälschlicherweise eine nicht vorhandene Verbundenheit. Wenn ich unterwegs war, in welcher Stadt und in welchem Land auch immer, dann betrat ich jeden Buchladen, jedes Antiquariat und jede Bibliothek. Immer in der Hoffnung dort einen belesenen Menschen zu finden, der mir die Zeilen würde übersetzen können, die mir mit ihrer Sprachlosigkeit begannen, zunehmend den Verstand zu rauben. Irgendwann, als sich eine graue Leere schon viel zu breit in mir gemacht hatte, befahl ich mir, das Buch einfach zu vergessen. Je mehr Zeit verging, desto unwirklicher kam es mir vor, als sei es einem kurzen Wahnsinn meines Geistes entsprungen. Auch an den Mann erinnerte ich mich kaum noch, er wurde blasser, seine Konturen lösten sich auf. Wahrscheinlich saß er an seinem gewöhnlichen Schreibtisch in seiner gewöhnlichen Wohnung und löste mit seinen Werbekugelschreibern Kreuzworträtsel, bei denen er noch mehr dieser meist häßlich bedruckten Schreibgeräte würde gewinnen können. Und weil diese Minderware in der Regel mit schlechten Minen ausgestattet war, hinterließ er auf jeder Seite seiner Rätselhefte schmierige Kleckse, die auf diese Weise den Weg an seinen Handballen oder den Stoff nahe seiner Manschettenknöpfe fanden. Und doch hatte ich das Buch an seinem Platz in meiner Handtasche gelassen und wenn ich abends nach Hause kam, vor der Haustüre stand und darin nach meinem Schlüssel suchte, so kam es vor, dass meine Hand das Buch berührte. Manchmal fuhr sie erschrocken zurück, als sei es glühend heiß und manchmal streichelten meine Finger nur zärtlich über den Einband und liebkosten es und es fiel mir schwer, sie zurückzuziehen und das Buch loszulassen. Ein- , zweimal hatte ich es noch herausgeholt, aber nur um mich zu vergewissern, dass die schwarze Schrift noch immer da war. Jedenfalls redete ich mir ein, dass dies der Grund dafür war. In Wirklichkeit brauchte ich nur eine Ausrede, es berühren zu können, wo es das doch schon so lange mit mir tat. Natürlich hätte ich jeden Dienstag einfach in den Zug steigen können, um Viertel nach sechs, abends. In den Zug, in dem ich den Mann getroffen hatte, der mir diese Geschichte mitgegeben hatte. Die Wahrscheinlichkeit, ihn dort irgendwann zu treffen, wäre sicher gar nicht so schlecht gewesen. Schließlich hatte ich am Rande unserer Begegnung mitbekommen, dass er eine Monatskarte besaß. Aber ich suchte die Menschen nicht und taugte nicht zur auflauernden Verfolgerin. Eher rannte ich schreiend davon, wenn jemand direkt auf mich zukam und so war diese einzige vielleicht möglicherweise von Erfolg gekrönte Möglichkeit gleichzeitig auch eine Unmögliche.
Seit ich das Buch besaß, war ich getrieben. Eine Unruhe hatte mich erfasst, schubste mich herum und raubte mir die Stille. Schlafen konnte ich kaum noch, ich fühlte mich wie die Prinzessin auf der Erbse. Nachts pochten Gedanken in meinem Kopf, donnerten von innen an meinen Schädel, dass ich am nächsten Morgen sicher war vor dem Spiegel Beulen auf meiner Stirn zu finden. Und tatsächlich tat es an manchen Stellen weh, wenn ich den Finger darauf legte. Ich war übernächtigt und die ständige Schlaflosigkeit bewirkte, dass mein ganzer Körper schmerzte und ich durchsichtig wurde. Und doch gab es keinen wirklichen Grund für diese Rastlosigkeit. Endlich war der Termin heute vorbei, es war anstrengend gewesen. Den ganzen Tag hatte ich mich konzentrieren und präsent sein müssen, was bei meinem derzeitigen Befinden einer ziemlichen Herausforderung geglichen hatte. Mehrmals hatte mich mein Sitznachbar heimlich unter dem Tisch angestoßen, als er bemerkt hatte, wie mein Blick in mich hinein gewandert war. Mein Kopf brummte und vor meinen Augen lag ein milchiger Schleier, so dass alles nur noch angenehm abgemildert in meinem Gehirn ankam. Den Bus hatte ich verpasst, der Zug würde mir also vor der Nase davon fahren, den Nächste würde ich erst in gut zwei Stunden nehmen können und ich spielte mit dem Gedanken, mir im nächstbesten Hotel, an dem ich vorbeikommen würde, ein Zimmer zu nehmen. Ich hatte große Sehnsucht danach, mich vom Schlaf übermannen zu lassen und war mir sicher, dass ich schon träumen würde, bevor mein Kopf in dem großen Daunenkissen versinken würde. Meine Schulter schmerzte. Der Riemen meiner Tasche schien sich hineinzuschneiden und mich zu Boden zu ziehen. Ich konnte meine Füße kaum noch anheben. Ich schob meine Hand unter den Gurt und fühlte durch den zarten Stoff der Bluse, die ich trug, seinen Abdruck. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite flackerte eine Leuchtreklame auf „Zimmer frei“. Das war es, wie in Trance lief ich über die Straße, schaute nicht nach links und rechts. Das herannahende Auto hatte ich zwar im Augenwinkel wahrgenommen, aber es war nicht wichtig. Ich hörte quietschende Bremsen, eine Stoßstange berührte mein Bein, ein Mann stieg aus, packte mich an der Schulter und schrie mir irgendetwas ins Gesicht. Egal, ich machte mich los und ging weiter. Alles war gut und alles, was ich wollte, war in dieses Hotel und die Tasche von meiner Schulter nehmen.
Ich betrat das Foyer.Es war eines jener anonymen Großstadthotelketten, die Häuser auf der ganzen Welt betrieben. In welchem Land man sie auch betrat, man wurde geschluckt und vergaß augenblicklich, ob man sich eigentlich in Rom, Jakarta oder Sydney aufhielt. Alles in ihnen war gleichgeschaltet und so vermittelten sie dem Vielreisenden ein Gefühl des Nachhausekommens. Ich atmete durch. Ich würde also heute Nacht hierbleiben. Endlich konnte ich die Tasche von der Schulter nehmen, langsam ließ ich sie auf den Boden gleiten, ihren Schulterriemen hielt ich zwischen den Fingern, ganz so als ob ich einen Hund festhielt, der an seiner Leine zerrte, weil er draußen eine Katze erspäht hatte. Ich trat an die Theke. Es war niemand zu sehen, auch nicht im Hinterzimmer, dessen Türe offen stand. In der Mitte, ziemlich genau vor mir, stand eine silberne altmodische Klingel. Mit der flachen Hand drückte ich zweimal kurz darauf. Ihr Klirren war laut. Eine Frau, die gerade ihr Fahrrad an dem Laternenpfahl vor der gläsernen Eingangstüre festschloß, drehte den Kopf zur Scheibe und sah herein, ganz so als hätte sie das Läuten bis auf die Straße hinaus vernommen. Irgendwo wurde eine Klinke herunter gedrückt, ich hörte das Schnalzen des Schloßes und ich spürte einen kalten Luftzug an meinen Beinen. Ich hob meinen rechten Fuß und rieb mit dem Spann von hinten über die linke Wade. Ich spürte einen Krampf kommen, ich hatte den ganzen Tag diese unbequemen hohen Schuhe getragen. Ein Mann trat von hinten an mich heran. „Haben Sie reserviert?“ „Nein, das habe ich nicht, aber sagen Sie jetzt bitte nicht, dass Sie kein Zimmer mehr für mich haben. Sie können unmöglich ausgebucht sein, es ist doch noch nicht mal Messe.“ Ich drehte mich um und erstarrte. Es war der Mann, der mir gegenüber gesessen hatte, es war der Mann aus dem Zug. Er ging an mir vorbei, nahm einen goldenen Schlüssel vom Schlüsselbrett und reichte ihn mir. Der Schlüssel hatte in der Mitte des Brettes gehangen an einem verschörkelten Haken, wie ich sie von alten Straßenlaternen aus Paris kannte. Mein Blick verriet mir, dass es der einzige goldene Schlüssel gewesen war, denn alle anderen noch verbleibenden Schlüssel waren aus Edelstahl, ohne Zacken, nur mit kleinen Vertiefungen in ihrem Schaft, so dass sie aussahen wie die altmodischen Lochstreifen eines Fernschreibers. „Natürlich haben wir noch ein Zimmer für Sie.“ Dann schob er mir einen Zettel über die Theke, den ich ausfüllen sollte. „Hier, suchen Sie sich einen Kugelschreiber aus.“ Er bückte sich hinter der Theke und stellte blitzschnell ungefähr zwanzig Plastikbecher gefüllt mir Werbekugelschreiber aller Art vor mich hin. Entgeistert sah ich ihn an. Irgendwie sah er anders aus als neulich im Zug, weicher, nicht so furchteinflößend. „Ihr Zimmer wird gerade noch frisch gemacht, setzen sie sich doch noch solange in die Lobby. Ich bringe Ihnen etwas zu trinken.“ Er kam zu mir herum, schob mich zu einem großen roten Samtsessel und drückte mich hinein. Willenlos ließ ich es mit mir geschehen. Seine Stimme schlich durch meine Ohren, in mein Gehirn, es kratzte hinter meinen Augäpfeln. Ich war völlig durcheinander und kämpfte mit mir. Um mir Halt zu geben, umklammerte ich die Tasche auf meinem Schoß. Er kam zurück und stellte eine kleine Flasche Mineralwasser und ein Glas auf das ovale Tischchen schräg vor mir. Ich tat so, als interessiere es mich nicht wirklich, sah nicht einmal auf zu ihm, spürte aber, dass er mir zunickte. Seine Finger erschienen auf meiner Augenhöhe und ich bemerkte einen blauen langgezogenen Fleck an der Seite seiner Hand. Als er sich abgewandt hatte, griff ich sofort nach der Flasche und trank sie gierig in einem Zug aus. Natürlich verschluckte ich mich und ich musste husten. Dann zog ich aus meiner Tasche einen kleinen Spiegel hervor. Ich öffnete ihn, es klickte. Ich hielt den Spiegel so vor mich hin, dass sich nicht ich selbst, sondern die Rezeption hinter mir darin spiegelte. Entdecken konnte ich ihn allerdings nirgends. Wo war er hin? Dann fielen meine Augen ineinander, starrten sich an. Ich erschrak, ich war mir so fremd, sie flackerten. Ein schwarzer Streifen löste sich aus meinen Wimpern und ronn über meine Wange. Entgeistert sah ich mir zu, ich sah meine Finger, wie sie den Streifen zu einem schwarzen Schatten verieben. Ein weiterer folgte. Mit einem Ruck klappte ich den Spiegel wieder zu, ganz so, als konnte ich das, was gerade passierte auf diese Weise zum Stoppen bringen. Ich verstaute den Spiegel in meiner Tasche, dabei berührte ich das Buch. Ich nahm es heraus und presste es an meine Brust. Wenn er mich nach oben zu meinem Zimmer bringen würde, dann würde der richtige Zeitpunkt gekommen sein und ich würde ihn bitten, mir daraus vorzulesen. Jedenfalls würde ich hier nicht verschwinden, bis jedes Wort daraus erklungen war, so viel war klar. Ich wischte den nassen Fleck mit meinem Ärmel weg, der von meinem Gesicht auf den Einband getropft war, dann klappte ich es auf. Mein Blick schwamm noch immer, ich musste immer und immer wieder blinzeln, um überhaupt hindurchsehen zu können. Ich begann zu zittern, die zackigen Linien waren verrutscht und formten kleine nach rechts geneigte Buchstaben mit ausladenden Buchtungen nach oben und nach unten. Ich hielt mir die Hand vor den Mund.
Ich fuhr zusammen, das Buch fiel mir aus den Händen und landete mit der aufgeschlagenen Seite auf den Boden. „Kommen Sie, ihr Zimmer ist fertig, ich bringe Sie nach oben.“ „Moment, noch, ich bin gleich so weit. Und übrigens, ich finde auch alleine hin, die Türen werden ja wohl Nummern haben.“ Ich nahm die Papierserviette, auf der das Glas stand, das er mir vorher gebracht hatte, wischte über meine Augen und schneuzte mich, dann stopfe ich es langsam in meine Jackentasche. Ich musste mich ganz schnell beruhigen. Dann bückte ich mich und hob das Buch auf, drehte es kurz um. Doch es war vorbei, es hatte aufgehört, zu mir zu sprechen. „Nein, bitte nicht“, fuhr es mir durch den Kopf, „hör nicht auf, bitte.“ „Kann ich Íhnen etwas abnehmen?“ Ich schüttelte nur den Kopf, ich war durcheinander. Was war das eben gewesen. Hatte ich mir das eingebildet. Er ging vor. Seine Schritte wurden von dem dicken Teppich geschluckt, einmal knickte ich mit meinem Absatz fast darin um. Es war, als liefe man auf Sand. Von hinten sah er viel jünger aus, seine Bewegungen waren stark und rund, fast geschmeidig, wie die eines Balletttänzers. Ich würde ihm folgen, wohin er auch gehen würde, so sehr war ich in Gedanken. Abrupt blieb er stehen und ich lief beinahe auf ihn auf. Wir waren vor einer goldenen Türe angekommen. Ich drückte mich an ihm vorbei. Der Duft seines Rasierwassers stieg in meine Nase, dasselbe wie ihm Zug. An Gerüche kann man sich sein ganzes Leben erinnern, man vergisst sie nie. Das Gehirn speichert sie in der Ewigkeit. Ich glaube, er hatte kurz seine Hand auf meine Schulter gelegt, als ich an ihm vorbeischlüpfte, ich war mir nicht sicher, ich hatte etwas gespürt, aber vielleicht hatte ich mir auch das nur eingebildet. Da war etwas gewesen, dass sich so vertraut angefühlt hatte und so nah. Zum Glück bekam ich die Türe mit dem ersten Schlüsseldreh auf. Ich hatte ihn die ganze Zeit mit meiner Hand umklammert, er war feucht und warm vom Schweiß. Dann machte ich einen Schritt in die Dunkelheit des Zimmers hinein. Die Türe zog ich direkt hinter mir zu. Dass der Schlüssel noch von außen steckte, fiel mir nicht auf. Nachher würde ich den Mann fragen, im Augenblick konnte ich nicht. Ich hörte noch, wie er etwas murmelte. Es klang traurig und auf einmal kam mir die Stimme so bekannt vor. Ob er mit derselben Stimme daraus vorlesen würde, das wäre schön, ich würde die Augen schließen und ihm lauschen.
Noch im Stehen holte ich das Büchlein wieder hervor. Nichts stand da, nichts war zu lesen, schwarzes Gekritzel, das sich über mich kaputt lachte. Ich hörte das hämische Gekeckere der Linien. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen, kickte sie mit voller Wucht an die Wand. Auf dem Fensterbrett stand eine Blumenvase mit einem riesigen bunten Blumenstrauß. Wiesenblumen, völlig unpassend für dieses Ambiente. „Die haben doch keine verdammte Ahnung, hier, von gar nichts“, sagte ich zu der Margerite, die ihren Kopf in meine Richtung gedreht hatte. Ich atmete den Duft ein, er füllte meine Lungen. Vor dem Fenster stand eine königsblaue Chaiselongue. Ich kniete mich davor, stütze die Arme darauf und begann hemmungslos zu weinen. Enttäuschung und Wut übermannten mich. „Morgen, wenn du deine Schuldigkeit getan hast, dann werde ich dich hier liegen lassen. Ich will dich nicht mehr.“ Der Mann vor der Türe hörte mein Schluchzen, er hatte sein Ohr an die Türe gelegt. Mit der Hand zog er aus einer Innentasche einen metallenen Designkugelschreiber, er knipste ein paar mal darauf herum, dann nahm er seinen Kopf zurück, lehnte sich mit dem linken Arm gegen die Türe, stützte seinen rechten Handballen auf das Holz und begann zu schreiben. Ich nahm das Kratzen zwar wahr, aber es klang so weit weg, als wenn jemand in einem anderen Flur auf einer anderen Etage des Hotels einen Koffer über den dicken Teppich schleifte. Meine Finger glitten über den Schnitt des Notizbuches, schlugen es irgendwo auf. Und wieder waren es meine Tränen, die lasen. Mein Herz krampfte sich zusammen. Mit den Handballen rieb ich sie weg, krabbelte auf allen Vieren zum Bett und ließ mich hineinfallen. Doch wieder war mein nächster Blick stumm. „Ich hasse dich.“ Kurz überlegte ich das Buch in die Mitte des Zimmers zu legen, anzuzünden und mit wildem Indianergeheul herumzutanzen. Ich war so wütend. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, das Buch in der Hand, gedrückt an meinen Körper. Mitten in der Nacht jedenfalls, wachte ich auf, ich hatte Durst, mein Hals brannte und so beugte ich mich aus dem Bett und öffnete die Minibar. Der kleine Kühlschrank stand direkt in Reichweite. Wie praktisch, dachte ich bei mir. Mir war warm, meine Bluse klebte an meinem Rücken. Im Dunkeln tappte ich in das kleine Bad. Draußen vor der Türe fuhr ein Auto vorbei, seine Scheinwerfer beleuchteten die Wand und als es an der nahen Kreuzung abbog, mein Bett. Das Buch lag aufgeklappt genau an der Stelle, wo sich auch der noch warme Abdruck meines Körpers abzeichnete. Ein paar Seiten waren zerknittert, das Papier an den Knickstellen war weich. Ich machte das Licht im Badezimmer an, musste jedoch die Augen zusammenkneifen, es war so grell. Schwarze Sterne tanzten. Geblendet tastete ich nach der Duschbrause in der Ecke. Ich schlüpfte aus meinen Kleidern. Die Abkühlung tat gut, die Benebelung meiner Niedergeschlagenheit ronn durch den Abfluss und ich schmunzelte vor mich hin. Was hatte mir meine Phantasie da nur wieder für ein Ding vorgespielt. Ich beugte mich vor und zog ein flauschiges Handtuch von der goldenen Stange an der Wand. Wasser tropfte von meinen Haaren auf meine Schultern. Inzwischen hatten sich meine Augen an das Licht gewöhnt. Über dem Waschbecken hing ein deckenhoher Spiegel. Der Spiegel wurde von einem kitschig verschnörkelten Goldrahmen gehalten, ich sah mich an. Das Handtuch, das ich mir um den Körper geschlungen hatte, fiel hinunter. Ich beugte mich vor. Mit meinen Händen tastete ich über mein Gesicht, berührte meine Brust, meinen Bauch, strich über meine Arme. Meine Haut fühlte sich an wie Seidenpapier, transparent, dünn, zart. Ich sah an mir hinunter. Ein einziger nicht endenwollender Satz zog sich in einem mich umhüllenden Kreis an meinem Körper hinunter. Schwarze engineinander verschlungene Buchstaben. Ich versuchte zu lesen, endlich zu lesen. Als die Zimmertüre sich kurz öffente, ließ der Lichtschein vom Flur einen Schatten herein. Ich machte die Augen zu, so wie ich es mir vorgenommen hatte und lauschte seiner Stimme, als er mich in die Arme schloß, mir erlaubte zu sein und mir aus mir vorlas.
Lange Zeit schon presst sie sich sich auf mein Gesicht, entsaftet mein Herz, lässt vertrocknen das Sehen. Deine Worte bringen des Taumels Blendung, lassen mich stolpernd im Nebelschlund den rechten Weg nicht mehr ertasten. Die fahle Eintönigkeit hat sich in mir verloren und kleidet mich aus. Bis in jeden Winkel schiebt sie ihre knisternde Hoffnungslosigkeit. Und nun sitze ich hier und warte darauf, dass sich vielleicht die gleißende Klarheit wieder für einen Moment zu mir gesellt, meine Wirbel wieder aufrichtet. Du fühlst nichts, hast du gesagt, du bist der entlegene Widerschein der kältesten aller Gestalten, hast du gerufen. Heute, gestern und morgen war das. Noch immer höre ich das Zittern deines Mundes, noch immer krallt sich deine Abscheu in meinen Eingeweiden fest. Ich bin befreit, dass ich sie habe, sie verbirgt mein entstelltes Gesicht und umhüllt meine Scham. Dein Gellen wird nicht übertönen die ewige Schönheit und niemals verhüllen die Reinheit ihres Scheins. Und doch hast du mich in eine Kriegerin verwandelt, abkommandiert in den Kampf zu ziehen, um meinem Schicksal die Wahrheit abzuverlangen. Geküsst hast du mich auf die Augen. Die Beste aller Streiterinnen wirst du sein, riefst du mir hinterher, dein fleischlicher Teil wird den Sieg aufgespiesst auf der Spitze deines Helmes heimtragen. Und wenn ich fallen würde, sollte ich dem strömenden Blut meines zerborstenen Schädels hinterherschauen. Du versprachst mir, dass dem verschwenderischen Rausch jener Moment der Ekstase folgen würde, nach dem du dich so sehntest, nicht ich, wie du mich glauben machen wolltest. Und auch als du zu Vergangenheit zerfielst, saugte sie sich umso fester an meine Knochen, ließ mich die Existenz der Hingabe nicht einmal mehr erahnen und stellte meinen Atem ein. Diebe, die mich besuchten, deren unwiderstehlicher Begierde ich mitunter erlag, verlockte es nie, sie zu lösen, allenfalls schnaubten sie ihren geilen Atem in meine Poren, der den Geruch der Abgestandenheit unter ihre metallene Hülle schob. Es ist die monströse Mannigfaltigkeit, die meine Fehlerhaftigkeit offenbart und mir ungerechtfertigt Bestialität entgegenhält, die jeden angeekelt den Blick senken lässt und so war es dieser Schauder, der mich tanzend dazu aufgefordert hatte, mich zum Schweigen zu entschließen. Schon so lange warte ich darauf. Halte mich, bis ich zu Staub werde.