Keiner weiß, wo sie die ganze Zeit über gesteckt hatte, ob sie sich verborgen gehalten hatte oder einfach nur übersehen worden war. Vielleicht hatte sie es ja sogar auf Letzteres angelegt. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, hätte auf eine bestimmte Weise zu ihr gepasst.
Jedenfalls war bis zu dem Tag, an dem sie auf einmal in der Mitte des Platzes gestanden hatte, alles gut gewesen. Alles war gut für alle gewesen.
Ein kleines Mädchen hatte sie zuerst entdeckt, blieb stehen, zupfte seine Mutter am Ärmel und zeigte, wie kleine Kinder es tun, mit dem Finger auf sie. Dabei riss es den Mund auf, als wollte es schreien. Der verzweifelte Ton jedoch, der zu seinem Gesichtsausdruck passte, verblieb in seinem Hals und ließ es lediglich keuchend nach Luft ringen. Die Mutter erschrak, auch ihr Mund öffnete sich, schien stumm zu schreien, dann jedoch verzogen sich ihre Mundwinkel nach unten, ihre Schneidezähne durchbissen die weiche Haut der Unterlippe, ein roter Tropfen ronn übers Kinn und ihr ganzer Körper schien für einen kurzen Moment zu krampfen. Sie bückte sich, nahm ihre Tochter auf den Arm, drückte deren Gesicht fest an ihre Schulter, drehte sich um und lief erst ein paar Schritte rückwärts, fast stolperte sie und fiel, um dann in die Richtung davon zu rennen, aus der sie gekommen waren. Das Mädchen auf ihrem Arm strampelte, wollte sich befreien, wenigstens den Kopf noch einmal drehen und einen Blick erhaschen. Die Panik der Mutter jedoch war stärker.
Erst nach einigen Straßenecken blieb sie stehen, setzte ihr Kind auf den Boden ab, nahm dessen Kopf zwischen ihre Hände und küsste es immer und immer wieder auf die Augen. „Warum kann ich das nicht“, fragte das Mädchen. „Es ist so schön.“ Die Mutter warf den Kopf zurück und begann zu lachen, hörte nicht mehr auf damit, lachte und lachte und irgendwann lachte das Mädchen und alle anderen, die zwischenzeitlich stehengeblieben waren, mit ihnen mit. Das Gelächter wurde von den Fenstern der Häuser geschluckt, widerhallte in den Unterführungen und wurde von den Hauswänden weitergetragen. Es prallte an Spaziergängern ab, die sich alsbald vor Kichern auf dem Boden kugelten, wurde um die nächste Ecke geschleudert, verlor auf dem Weg seine Tiefen und Höhen und gelangte als verzerrtes Kreischen irgendwann auf den Platz, an dem sie noch immer stand. Freiwillig jedoch stand sie dort nicht. Die Menschenmasse hielt sie fest. Erfolglos hatte sie versucht, ihre zarte Gestalt durch die sich aneinanderdrängenden Körper hindurchzuzwängen, hatte um sich geschlagen, bis ihre Arme schmerzten und ihre Hände rot waren. Und nun stand sie einfach still, wollte dass es vorbeiging, es über sich ergehen lassen. Sie zitterte, ihr Gesicht war blaß.
Eine junge Frau machte den ersten Schritt auf sie zu und legte zögerlich die Hand auf ihre Wange. Langsam tastete sie darüber. Ihre Finger bewegten sich gleich der einer suchenden Blinden, die sich zum ersten Mal bemüht, Punkte und Striche unter ihren Fingerkuppen wahrzunehmen. Fasziniert erfühlte die junge Frau die senkrecht verlaufenden Furchen unter den Augen, erspürte deren Sanftmut, lauschte deren Schmerz. Ihre Finger tranken und ertranken gleichermaßen darin. Dann glitten sie höher. Ihr Zeigefinger bewegte sich behutsam von links nach rechts, folgte der zarten Linie der Häärchen. Mehrere Male wischte er darüber, wollte sich trocknen und die Nässe abstreifen. Aber da das nicht ging, zog die junge Frau ihre Hand zurück, schob den Finger zwischen ihre Lippen und leckte daran. Der salzige Geschmack kroch über ihren Gaumen und schien in ihrem Hals zu explodieren. Ihr Blick wurde starr, ebenso ihr Körper, ihre Mimik schien zu entgleisen, dann schlang sie die Arme um ihren Körper, hielt selbst ihre bebenden Schultern fest.
Es kam Bewegung in die Menge, der Platz war mittlerweile angefüllt von Menschen. Es wurde geschubst, gedrängelt, ein eigenartig hysterisches Murmeln war zu vernehmen. Immer wieder erklang von irgendwoher ein irres Kichern. Ein Mann löste sich, trat entschlossen heran. Er hatte Hände wie Klötze und so schob er die junge Frau brutal zur Seite. Dass sie hinfiel, es gerade noch schaffte, sich aufzurappeln bevor sie zertreten wurde, nahm er und auch niemand anderes wahr. „Jetzt bin ich dran“, er streckte seine schwielige Hand nach vorne. Sein abgebrochener Fingernagel erreichte ihre Haut, fand ihre Wimpern. Mit zwei Fingern zog er Ober- und Unterlid auseinander. Sein Atem kam nah, seine Zunge, er trank in großen Schlucken, konnte nicht genug bekommen, verschluckte sich und hustete gurgelnd. Sie wehrte sich nicht, ließ es geschehen.
Inzwischen waren Ordnungshelfer der Stadt eingetroffen, positionierten Gitter, zogen Gassen und kanalisierten die Menschen in ordentlichen Reihen. Und so bekam jeder seinen Moment mit ihr. Ausnahmslos alle, die an der Reihe gewesen waren, legten für einen kurzen Moment die Hand auf die Brust, verharrten einen Augenblick, um sich dann lauthals lachend sofort wieder hinten anzustellen. Wissend dass es Tage dauern würde, bis sie erneut vorne sein würden. „Was machen wir, wenn sie aufhört?“, schrie eine Frau auf einmal. „Was machen wir dann?“ In den letzten Stunden hatte sie zunehmend erschöpft gewirkt, hatte ein paar mal gewankt sogar. Eine der beiden Frauen, die gerade bei ihr gewesen waren, begannen sich sofort zu beklagen, dass es weniger wurde, dass man etwas dagegen unternehmen müsste, dass das nicht passieren dürfte. Schrecken machte sich breit. Die Polizei schritt ein und zwei stämmige Kerle wurden angesichts ihres Zustandes abkommandiert, sie zu stützen. Ihre bulligen Arme hatten sie unter ihre Achseln geschoben und hielten sie aufrecht. Drohte ihr Kopf nach vorne abzusinken, packte der eine der Beiden sie an den Haaren und richtete sie auf.
Ein Ausschuß wurde gegründet und dieser beschloß alsbald, sie in einen Raum ins Rathaus zu verlegen. Man wollte die Sache besser unter Kontrolle haben und hoffte insgeheim darauf, dass es mit dem Verschwinden aus der Öffentlichkeit, wie schon einmal, ausgerottet würde. Doch das alles änderte nichts daran, dass sie müde wurde und dass es aufzuhören drohte. Der Menge war das einerlei, sie gierte danach, wollte nicht mehr auf das verzichten, was aus ihrem Inneren verschwunden war. Und so legte man sie auf eine Art Trage und zurrte ihren Körper mit dicken Lederriemen fest. Um ihren Kopf herum bauten die besten Ingenieure der Stadt ein metallenes Gestell. Die eisernen Bänder, die an ihrer Stirn auflagen, wurden mit einer weichen Polsterung versehen, dicke Schrauben ragten an der Seite heraus und erlaubten es, die Halterung bei Bedarf zu lösen. Von der Stirn zum Kinn, ihr Gesicht durchquerend verliefen zwei schmale Drähte, die dazu dienten ein Werkzeug zu halten, das auf ihre Augen abgesenkt werden konnte und dazu bestimmt war, ihre Lider auseinanderspreizen. Auf ihrer Haut befestigte man unzählig viele kleine Elektroden. Modernste Technik kam zum Einsatz, steuerbar mit einer Fernbedienung, die bereit lag und mit der sich der an der Reihe befindliche Mensch die erwünschte Intensität an Reaktion provozieren konnte. Der Strom durfte nicht versiegen. Er war zum Lebenselixier und zum Inhalt der Wartenden geworden.
Nach Wochen dann, in denen man weitere grausame Möglichkeiten ersonnen hatte, sie immer und immer zu berühren, trat das kleine Mädchen in der Nacht an sie heran. Es hatte sich heimlich Zuhause weggestohlen und sich im Rathaus unbemerkt einschließen lassen. Nie hatte ihre Mutter sie mit hierher genommen. Es kostete sie viel Kraft, mit ihren kleinen Fingern die Maschinerie, in die man sie gezwängt hatte, zu lösen. Aber schießlich gelang es ihr. Sie kletterte auf das Bett und beugte sich über die Liegende. Ihre kleine Hand liebkoste deren Wangen. Lange saß das Mädchen so, dann schließlich beugte es sich vor und berührte mit seinem Mund ihre geöffneten Augen. Sie vermischten sich, fühlten ineinander. Ein Schluchzen durchfuhr ihren kleinen Körper und sie sackte zusammen. Arme umschlossen sich gegenseitig, ließen sie es einander aushalten.