Ich hatte über mein Tablet einen großen Versender im Internet beauftragt, mir ein rotes Buch zuzuschicken, das ich mir mein halbes Leben lang gewünscht hatte. Zufällig hatte ich es beim virtuellen Stöbern gesehen, sofort in meinen digitalen Warenkorb gelegt und mittels eines virtuellen Aufladecodes, den ich im Supermarkt erstanden hatte, beglichen.
Als das Paket zwei Tage später ankam, lächelte der Paketbote mich analog an: „Was ist da drin? Das wiegt ja kaum was!“ Ich lächelte ihm verschwörerisch zu und gab ihm echtes Trinkgeld. Als ich das Paket hinein trug, kam es mit tatsächlich sehr leicht vor. Ich öffnete es und darin befand sich: nichts. Ich ärgerte mich. Es hätte etwas darin sein müssen, aber dieses Etwas war definitiv nicht im Karton. Man hatte ihn unbefüllt akkurat zugeklebt und an mich verschickt.
Ich rief bei der Hotline des des Webversenders an und beschwerte mich. Man bat mich um einen Moment Geduld und würde sofort den Vorgang aufrufen und bewerten. Es ergab sich ein informationeller kommunikativer Vorgang, in dessen Verlauf sich herausstellte, dass tatsächlich nicht verschickt worden war, was ich bestellt hatte – was ein Versehen gewesen wäre, für das man sich vielmals entschuldige. Die Ware würde nun aber noch am gleichen Tag an mich verschickt werden.
Allerdings müsse man mir dennoch den Versand des ersten Paketes, in dem sich nichts befunden hätte, in Rechnung stellen. Auf meine Frage, warum dies der Fall sei, antwortete mir meine Gesprächspartnerin, dass dies systemimmanent wäre. Ich hätte zwar keine Ware erhalten aber dafür ein Paket, das laut Geschäftsbedingungen im engeren Sinne aber nicht vollständig leer gewesen sei. In vergangenen Prä-Internetzeiten wäre der Fall völlig klar gewesen: ich hätte analog bestellt und dann irrtümlicherweise ein leeres Paket erhalten, in dem sich analoge Luft befunden hätte. Nun hätte ich aber virtuell bestellt und damit ein Paket erhalten, dessen Inhalt zwar wieder lediglich analoge Luft enthalten hätte, da sie jedoch im Bestellprozess nun als keine Ware geliefert klassifiziert würde, was eine systembedingte Kategorie für die Nicht-Lieferung sei, wäre innerhalb der logischen Struktur des virtuellen Bestellvorganges die analoge Luft in virtuelle Luft konvertiert worden.
Virtuelle Luft jedoch wäre in der ganz eigenen Systematik des Bestellprozesses, die für den Erhalt der inneren Folgerichtigkeit des Gesamtsystems absolut notwendig wäre, kein Nichts mehr. Denn alles, was versendet würde, wäre im System eine virtuelle Größe, das hieße im Umkehrschluss, dass alles, was virtuell vorhanden und damit digital abbildbar sei, einen Wert hätte. Deshalb müsse man mir die virtuelle Luft, die mir irrtümlich zugeschickt worden sei, in diesem besonderen Ausnahmefall berechnen. Da die Dimension des Paketes klein und damit die interpolierbar-darstellbare nicht real aber virtuell vorhandene Luft als abstraktes Äquivalent der analog-real-vorhandenen Luft ebenfalls ansich eine nahezu zu vernachlässigende Größe wäre, die aber dummerweise nun mal ihre immanente Entsprechung im System hätte, würde man mir 0,2 Cent berechnen.
Aus administrativen Gründen müsse man diese geringe Summe tatsächlich in Rechnung stellen, obwohl sie nicht überweisbar wäre. Dabei würde es auch nichts nützen, 1 Cent zu überweisen, weil das System in diesem besonderen Fall einen langwierigen Mahnprozess initiieren würde, in dessen Verlauf die einzelnen Mahnposten exponentiell anschwellen würden, was niemand wollen würde. Überhaupt, in diesem Fall vielleicht zum Glück, gehe es aber nicht nur um die rechnerisch gerundeten 0,2 Cent, sondern desweiteren um eine Bearbeitungsgebühr von 25 Euro, die ich zu zahlen hätte, weil sie bei einem solchen Vorgang immer anfiele. Da zu dieser Nettosumme die Umsatzsteuer hinzugerechnet würde und die Buchhaltungssoftware grundsätzlich nicht abbildbare und damit nicht berechenbare und deshalb nicht überweisbare Nachkommastellen runden würde, würden durch diesen Additionsprozess die 0,2 Cent weggerundet werden.
Das Problem wäre also dadurch gelöst – mir und der Mitarbeiterin fiel ein Stein vom Herzen. Ich müsse nur innerhalb von 7 Tagen 25 Euro zzgl. 4,75 Euro Umsatzsteuer, zusammen also 29,75 Euro überweisen und der Fall hätte sich für mich erledigt. All das schien der kompetenten und zugleich freundlichen Mitarbeiterin am anderen Ende der Leitung aufgrund der seltenen Exotik des Falles etwas peinlich zu sein, aber wir beide waren in erster Linie zufrieden, dass der unheimliche Sonderfall endlich vom Tisch war.
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