Die Größe und damit der Maßstab einer Zeichnung kann Einfluss darauf nehmen, wie man zeichnet; denn die zeichnende Hand verhält sich nicht bei jeder Flächengröße gleich. Inwieweit entscheidet die Dimensionierung der Zeichenfläche mit darüber, wie der Zeichenstil und die eigene Ästhetik ausfallen?
Wäre die Ausführung der Zeichnung anders, würde das die Zeichnung beeinflußen – zum Beispiel hin zur Abstraktion in kleineren Formaten. Wäre dann der Inhalt ein anderer bzw. der Ausdruck verändert? Die Antwort richtet sich danach, wie hoch man die Messlatte dafür legt, wo der Ausdruck endet und ein neuer Inhalt anfängt. Der Inhalt könnte im Kern gleich bleiben aber der Ausdruck der Zeichnung, also die Art und Weise wie der Inhalt vermittelt wird, ein anderer sein. Das klingt sehr theoretisch.
Wie zeichnet man auf einem DIN A4-Blatt?
Ein Beispiel: Vor mir liegt ein DIN A4-Blatt (297 mm hoch, 210 mm breit), in meiner Hand ein Füller mit stark abgeflachter Spitze, wie man ihn für kalligraphische Arbeiten verwenden kann. Der Strich damit ist mal dünn, mal dick, je nachdem, wie man die Feder winkelt. Die dicken Striche dominieren aber im Beispiel die Zeichnung, die ich damit angefertigt habe. Da das Blatt mit ca. 30 x 21 cm Fläche schon eine gewisse Größe hat, wirkt die dicke Strichführung nicht überdimensioniert. Doch würde ich die Zeichnung in einem Miniheftchen im Format DIN A7 (74 x 105 mm) anfertigen, bei dem das Blatt ein Seitenformat von nur ca. 10 x 7 cm aufweist, das in eine Handfläche passen würde, würde die Strichbreite im Verhältnis zum Seitenformat dominanter wirken.
Wie zeichnet man auf einem sehr kleinen Blatt?
Doch etwas anderes ist wesentlicher: ein kleines Blatt bietet weniger Platz. Dadurch schrumpfen bei Zeichnumgen z.B. die Innenräume von Flächen, Linien stossen leichter aneinander, vor allem wenn sie mehr Platz beanspruchen, weil sie unter Umständen entweder dick oder zahlreich sind. Auf kleinen Fomaten reduziert man deshalb in der Regel die Anzahl der Striche, vereinfacht, bringt die Aussage reduzierter auf den Punkt. Kleine Zeichnungen sind deshalb meist einfacher gehalten. Große Zeichnungen sind strichreicher und komplexer.
Ein Test: Verkleinern und vergrößern einer Zeichnung
Natürlich ist das nicht verallgemeinbar, weil es zum Beispiel große grobe Tuschpinsel-Zeichnungen gibt, die auch recht einfach gehalten sind. Würde man diese grobe Zeichnung stark verkleinern, würde sie immer noch funktionieren und gut wahrnehmbar sein, weil sie keine Details enthielte, die durch die Verkleinerung in Mitleidenschaft gezogen würden. Arbeitet man jedoch auf dem großen Format mit vielen feinen Strichen, würden diese im Extremfall bei der Verkleinerung nahezu wegfallen oder zumindest für das Auge schwerer wahrzunehmen sein. Dies ist ein Hinweis darauf, dass kleine Zeichnungen anders funktionieren als große.
Buchstabendesign: Einfluss der Darstellungsgröße
Man kennt diesen Effekt im übrigen auch aus der Typografie bei der Entwicklung von Schriftzeichen und Buchstaben: Für größere Schriftgrade werden eigene Headline-Varianten entwickelt, die etwas leichter – das heißt: dünner – in ihrer Strichstärke ausfallen. Würde man eine solche Headlineschrift, die bei 48 Punkt Schriftgröße sehr gut funktioniert, linear verkleinern, bis sie klein wie Buchtypografie wäre, würde sie zu dünn erscheinen. Deshalb sind Mengensatzschrifte für kleinere Schriftgrade (in der Regel 8-12 Punkt Größe) etwas fetter gestaltet. Umgekehrt würden aber die hochvergrößerten Mengensatzschriften zu plumpe Überschriftenformen ergeben.
Typografie und schriftgradabhängig anders gestaltete Buchstaben
Kleine Zeichen wie Buchstaben, Akzente oder Punktuationszeichen weisen aber noch weitere Besonderheiten auf. In der Verkleinerung laufen im Duck simple 45°-Ecken an den Schriftzeichen zu, sie runden sich kaum merklich ab. Deshalb werden bei Mengensatzschriften in die Ecken mitunter Kerben eingefügt, spitze Einbuchtungen, die das Zulaufen verhindern. Sichtbar für das menschliche Auge sind sie in diesen Schriftgraden in der Regel nicht. Im Englischen heißen diese kleilförmigen Öffnungen „Ink Traps“, im Deutschen „Lichtkeil“, „Tintenfalle“ oder „Einstich“. Nutzt man sie irrtümlich im Überschriftensatz, wirken diese Einkerbungen unschön. Auch müssen die Binnenformen bzw. Innenräume der Buchstaben in kleinen Schriftgrößen leicht größer sein gegenüber größeren Schriftzeichen.
Dynamik und Motorik beim Zeichnen
Doch zurück zum Zeichnen: Vielleicht konzentriert man sich beim kleineren Seitenformat mehr, um den Strich fokussierter und genauer zu setzen. Eine Fläche zwischen einem DIN A4-Blatt oder ein DIN A3-Blatt bietet ungefähr den Raum, auf dem man mit einem Stift in einer auf dem Papier aufliegenden Hand Schwung für eine bogenförmige Linie holen kann. Das gilt auch, wenn man sich auf Unterarm oder Ellenbogen stützt und den Stift freier führt.
Wie zeichnet man auf großen Formaten?
Bei wesentlich größeren Formaten – zumal mit Pinsel – können Schwung und Dynamik der zeichnenden Bewegung nicht aus der Hand sondern aus dem Arm und seiner Muskulatur kommen. Damit sind stärkere und weiträumigere Zeichenbewegungen möglich. So verursachen je nach Format bei ganz kleinen Grundflächen die Fingermuskeln die Dynamik der Linien, bei mittleren die Hand- und Handgelenksmuskulatur und bei großen die Arm- und Armgelenksmuskulatur.
Die Kunst der Zeichnung: über Feinmotorik und Grobmotorik
Die Finger mit ihrer Ansammlung sensibel-taktiler Nerven für die Ausprägung des Tastsinnes, sind dabei feinmotorisch, die Arme tendentiell grobmotorisch. So entscheidet die Wahl des Formates auf unterschiedliche Weise darüber, wie fein, kontrolliert oder expressiv die Zeichnung sein könnte, je nachdem wie weiträumig man den Strich anlegt und womit, das heisst: mit welcher Muskelgruppe, man die Kraft auf den Stift überträgt. Es würde aber keinen Sinn machen auf einem DIN A7-Blättchen Schwung für einen weiten Bogen zu holen, weil der nicht auf das Blatt passen würde.
Kleine Zeichnungen sind tendentiell reduzierter und abstrakter
Für mich ist ein Zeichnungsformat, das im weitesten Sinne meiner Handfläche mit gespreizten Fingern entspricht, motorisch gut mit der Handmuskulatur zu bewältigen. Alles, was wesentlich größer ist, holt sich im Falle expressiver, dynamischer Linien den Schwung aus motorisch weniger fein zu justierenden Muskelgruppen. Abschließend könnte ich noch thematisieren, wie sich Bodybuilding auf das Zeichenergebnis auswirken könnte. Wenn also die Muskelgruppen der Grobmotorik die der Feinmotorik überlagern. Aber das ist ein anderes Thema.
Von der Kunstwelt unterschätzt: Klein aber oho
Kleine Zeichenformate verlangen nach einer Formkomprimierung, nach einem visuellen Weniger und einem Mehr an Abstraktion. Kleinere Formen gelten in der Kunst als zu vernachlässigende Größe. Spätestens seit Giacomettis Skulpturstudien im Miniformat wurde man eines besseren belehrt. Kleine Zeichnungen können also gegenüber weitaus größeren anders beschaffen sein, das Thema der Zeichnung anders interpretieren und ausdrücken. Wo der Ausdruck endet und ein tatsächlich neuer Inhalt beginnt, das ist eine Denk- und Wahrnehmungsaufgabe, die einen in den Kern der Kunst-Semantik vordringen läßt.
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