Dr. Zigian war zum Schuppen gegangen, um sein Fahrrad für das Einkaufen hervorzuholen. Als er hineinging, nahm er aus den Augenwinkeln rechts unten direkt an der Tür eine Bewegung wahr und sah, dass dort eine große, dunkle und behaarte Spinne saß, die eine Abwehrhaltung eingenommen hatte. Dr. Zigian betrachtete sie. Hier im Schuppen war sie ein Raubtier, das vor allem Fliegen und Motten den Garaus bereiten konnte.
Er mußte lächeln, weil sie durch ihr Äußeres auch Menschen Angst einjagen konnte. Öfters hatte die Frau von Dr. Zigian ihn gebeten, eine Spinne im Glas hinauszutragen. Das hatte zugenommen, seit die hintere Fassade berankt worden war.
Dr. Zigian dachte zurück an seine Kindheitstage, als er einmal in den kombinierten Hühner-/Schweinestall gegangen war, der ins Haus intregriert und so konstruiert war, dass die Hühner von draußen durch einen unterirdischen Gang hinein gehen konnten. In ihm hatte sich oberhalb ein Holzverschlag befunden und darunter drei Boxen für Schweine. Da die Hühnerstallkonstruktion viel Licht nahm, lag der hintere Teil der Schweineboxen in ziemlicher Dunkelheit. In den Ritzen dort hinten, in den Spalten zwischen Hühnerstall und Wand, hatten Spinnen dichte Netze gewebt. Darunter waren auch immer wieder größere Exemplare, die Dr. Zigian als Junge aufgeregt beobachtet hatte.
Er war in seiner Erinnerung einmal weinend wegen eines Streites mit seinen Geschwistern dort hineingerannt und hatte schauen wollen, ob er von einem der Tore zu den Boxen aus eine Spinne sehen konnte. Es war bewölkt an diesem Tag, die Wolken hingen tief und dunkel am Himmel. So war es dunkel in dem Raum und die eine Glühbirne hoch oben gab zwar Licht, verstärkte aber damit eher noch die Schatten unter dem Hühnerstall, in deren grausigem Dunkel die Spinnenwesen lebten.
Er blickte sehr konzentriert in die Dunkelheit und sah, dass sich zwischen zwei tragenden Holzbalken in einer Vertiefung ein pechschwarzer Schatten gebildet hatte. Dort war der Anfang von etwas Schrägem zu erahnen, das wie die Spitze eines Astes aussah. Der Junge reckte den Kopf weiter nach vorne und sah noch genauer hin. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Der Ast sah aus wie von einem Tannenbaum, als hätte er überall kleine Nadeln. Nadeln… oder: Haare! Der Junge hatte sich damals bei dieser Erkenntnis sehr erschrocken. Er hatte hoch gerechnet, sofern das tatsächlich der Anfang eines Spinnenbeins gewesen wäre, wie groß dann die Spinne hätte sein müssen: Etwa so groß wie die große Faust eines erwachsenen Mannes. Ein kalter Schauer war ihm über den Rücken gelaufen.
Dieses Bild prägte sich im damaligen Augenblick für immer bei ihm ein. Es sollte sein Leben lang zu einer Serie von Alpträumen führen, in denen große, dunkel behaarte Spinnen eine wesentliche Rolle spielten. Damals war er aufgeregt nach draußen gelaufen, hatte seinen Opa und seine Mutter geholt und war mit ihnen in den Stall gegangen. Er hatte auf die Stelle gezeigt, aber sie hatten gesagt, sie könnten nichts sehen, dort wäre nichts. Auch er hatte noch einmal ganz genau hingesehen – aber das schräge Etwas war nicht mehr zu sehen gewesen. Für ihn war das damals ein Indiz dafür, dass er sich nicht vertan hatte.
Dr. Zigian war losgefahren und hatte eingekauft. Während der Fahrt durchströmten ihn weitere Kindheitserinnerungen. Er wunderte sich wieder einmal darüber, welchen Schrecken eine Kinderseele selbst im Kleinen manchmal durchmachen musste. Später kehrte er mit drei bis oben hin gefüllten Beuteln zurück, und er genoß es, zusammen mit seiner Frau das Abendessen zuzubereiten.
In den nächsten Tagen sah er, wenn er in den Schuppen ging, immer wieder nach der Spinne. Sie saß dort still oder wich ruckartig zurück, wenn er die Tür öffnete, oder er sah nur noch am Zittern des Netzes, dass sie sich panikartig beim ersten Öffnen der Tür vor ihm hinter einem Holzkohlesack in Sicherheit gebracht hatte. Die Spinne, wenn auch nicht so groß wie die aus Kindheitstagen, war furchteinflößend, in ihrem Netz hatten sich inzwischen zahlreiche Insekten verfangen, deren Überreste auf dem Betonboden lagen oder zugesponnen im Netz selbst hingen. Eine Spinne dieser Größe war schnell. Frau Dr. Zigian hätte sich nicht in den Schuppen getraut, wenn sie von ihr gewußt hätte. Die Spinne war hier im Schuppen die alleinige Herrscherin, sofern ein Mensch ihr nichts Böses oder etwa eine Katze mit ihr spielen wollte, hatte sie hier kaum natürliche Feinde.
Sechs Tage später betrat Dr. Zigian wieder den Schuppen und war erstaunt. Eine andere Spinne – eine Zitterspinne mit kleinem Körper und sehr dünnen langen Beinen – hatte die größere und kräftigere und nun tote Winkelspinne in ihren Klauen und sponn sie ein. Der Beherrscher des Stalls hatte seinen Meister gefunden. Dr. Zigian war ratlos. Wie hatte es dazu kommen können? Wie hatte die schwächere Spinne die kräftigere überwältigt? Es schien unmöglich und doch war es passiert.
Dr. Zigian war danach hoch zu seiner Frau gegangen, hatte sie umarmt und ihr einen Strauß rote Rosen überreicht. Sie hatte sich still gefreut und ihn gefragt, ob er Lust hätte, sich etwas zu unterhalten. Er bemerkte, dass sie keinen guten Tag hatte, dass sie ihm etwas sagen wollte. So setzten sie sich an den kleinen Steintisch in der Küche, auf den sie eine Kerze gestellt und angezündet hatten. Er erzählte in kurzen langsamen Sätzen, die nur durch ihren Klang beruhigend wirkten, was sein Tag gebracht hatte. Dabei erzählte er ihr auch, was er im Stall gesehen hatte. In seiner Erzählung nannte er die Spinne, die die große besiegt hatte, „Snowden“.
Sie musste lachen. „Nicht heute…“, sagte sie nur und ließ ihn verstummen. Sie senkte den Blick, kam auf ihn zu, setzte sich auf seinen Schoß und umarmte ihn fest. Sie fing an zu weinen. „Ich muß dir etwas sagen…“
2 Responses to “Dr. Zigian und die Unkalkulierbarkeit”
[…] Dr. Zigian und die Unkalkulierbarkeit Dr. Zigian und die Spiegelung […]
[…] seltsame Geschichten um Dr. Zigian: Dr. Zigian und die Unkalkulierbarkeit Dr. Zigian und die Spiegelung Dr. Zigian und die Kunst Dr. Zigian und die Verheißung Dr. Zigian und […]