Herztertz

Zum Schluß war die Entscheidung dafür sehr schnell gefallen. Schließlich hatte ich sie ja auch lange genug vor mir her geschoben. Aber als dann der eine Tag gekommen war, an dem rein gar nichts mehr dagegen gesprochen hatte, musste alles ganz schnell gehen.

Bei einem Geschäftsessen mit mehreren Kollegen, an dem auch sie teilgenommen hatte, entwendete ich in einem unbeobachteten Moment ihre Puderdose aus ihrer Handtasche. Heimlich steckte ich diese in meine Jacke und ging zu den Damentoiletten. Niemand hatte mich gesehen und es war auch niemand zugegen. So stellte ich die Puderdose neben das Waschbecken und klappte den Deckel auf. Auf dem eigentlichen Puder lag eine runde flauschige Quaste. Ich nahm sie in die Hand und ließ sie sanft über mein Gesicht gleiten. Meine Haut wurde matt und ebenmäßig, die Furchen auf der Stirn schwanden. Mir war warm, ich hatte zu viel getrunken. Dann strich ich mit meinem Zeigefinger über die helle pudrige Substanz, tauchte ihn hinein. Ein paar mikrokleine Körnchen blieben an der Spitze haften und legten sich in meinen Fingerabdruck. Später am Abend würde sie die Dose genau hier finden, als die ihre erkennen und sie wieder an sich nehmen. Das Puder fühlte sich gut an, als ich mich hineinlegte. Es war trocken und warm und fast kitzelte es ein wenig, als ich zerfiel, eins wurde.

Es kam, wie ich geplant hatte. Niemand, und vor allem sie nicht, hatte meine Abwesenheit bemerkt und alles, was von mir zurückgeblieben war, war ein halb ausgetrunkenes Glas Rotwein, unter das ich vorsorglich einen 5-Euro-Schein für die abkassierende Bedienung geschoben hatte. Und so landete die Puderdose erst wieder in ihrer Handtasche, am Abend dann in ihrem Bad auf einer gläsernen Ablage vor einem großen Spiegel, durch dessen oberes rechtes Eck ein gezackter Sprung verlief. Ich schlief gut, hatte eine traumlose Nacht, aus der ich am frühen Morgen vom Rauschen ihrer Dusche geweckt wurde. Ich hörte, wie sie ihre Haare fönte, konnte am Rascheln des Stoffes erkennen, dass sie das schwarze Kleid anzog, das sie auch getragen hatte, als sie mir das erste mal aufgefallen war. Dann wurde es plötzlich hell, die Puderquaste nahm mich auf und ich legte mich auf ihr Gesicht. Ich war glücklich, so nah war ich ihr noch nie gekommen. Üblicherweise war sie erschrocken und zusammengezuckt, wenn ich sie oder sie mich ganz aus Versehen nur kurz an der Hand berührt hatte oder hatte ihren Kopf geneigt, wenn mein Blick sich zu lange in ihren Augen versenkt hatte. Und so war es ein ganz wunderbarer Moment für mich. Ich war auf einer ihrer Sommersprossen zu sitzen gekommen, ging mit ihr durch den Tag und gab ihr Schutz unter ihrer zweiten Haut. So ging das nun über lange Wochen. Abends wusch sie mich ab, spülte mich nichtsahnend den Ausguss hinunter, wurde mich ganz einfach und schnell los, um mir am nächsten Morgen wieder einen Platz auf ihrer Haut zu gewähren. Da sie sich tagsüber mehrfach mit ihren Händen durchs Gesicht fuhr oder ihre Wangen und Stirn berührte, wenn sie eine kleine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr steckte, war ich in der vergangenen Zeit nahezu an jede Stelle ihres Körpers gewandert, kannte ihren leichten federnden Gang, weil ich auf ihrer Fußsohle gesessen hatte, hatte die kleine Narbe auf ihrem rechten Unterarm unsichtbar gemacht und wusste wie sich das Wippen ihrer Brüste anfühlte. Als ich also in jede ihrer Poren gekrochen war, entschied ich mich erneut für eine Veränderung.

An diesem Abend hüpfte ich schnell von der Puderquaste, bevor sie die Dose schließen konnte und kroch, so unsichtbar wie ich war, in den goldenen Körper ihrer schwarzen Wimperntusche, holte tief Luft, tauchte durch die Dunkelheit bis ich die tannenbaumförmige Bürste zu fassen bekam. Dort setzte ich mich und wartete. Dieses mal war ich aufgeregter. Morgens dann fand ich einmal meinen Platz auf einem Häärchen ihrer unteren Wimpern, mal kam ich auf dem oberen Wimpernkranz zu liegen, wo mir von dem Auf und Ab manchmal ein klein bisschen schwindelig wurde. Ich saß dort immer ganz still und ließ mich von ihr durch die Zeit tragen. Ich sah in die Richtung, in die sie schaute, sah Dinge, denen ich vorher keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, spürte die längeren oberen Wimpern, wenn sie blinzelte oder ihre Augen für einen längeren Moment vor der Welt verschloß, streckte mich aus in der angenehmen Abgetöntheit ihrer Sonnenbrille und funkelte tiefschwarz, wenn ihre Augen vor Ärger blitzten. Auch das Salz ihrer Tränen konnte ich riechen und schmecken und manchmal, wenn sie bitterlich weinte, löste ich mich auf und zerfloß in einem schwarzen Rinnsal auf ihrer Wange, die ich zart liebkoste. Meist wurde ich dann von einem Papiertaschentuch weg gewischt und konnte erst am kommenden Tag wieder bei ihr sein.

Nun gab es noch eine letzte große Sache, die ich erledigen wollte, vor der ich bisher zurück geschreckt hatte, erschien sie mir doch zu intim. In dieser Nacht kroch ich aus der goldglänzenden Hülle heraus, schlitterte zu einem knallroten Lippenstift hinüber, hob dessen Deckel an und nahm ein Bad in der weichen schimmernden Masse. Alles drehte sich um mich, so intensiv war das Rot. Ich wusste, dass ich sie von diesem Moment an nicht mehr jeden Tag spüren würde, denn nicht jeder Tag würde mein Tag sein. Doch mein Vertrauen zu ihr war groß. Das Wochenende war da und der Zeitpunkt kam, an dem ich auf ihren schimmernden Lippen sitzen durfte. Von nun an streifte mich ihr Atem, wenn sie sprach, wenn sie lachte, explodierte ihre Stimme in meinem Kopf, ich erahnte die Zartheit ihrer Küsse und ertastete die Stille, wenn sie einfach nur da saß und der Welt mit all ihrem Lärm lauschte. Es war betörend und ich zerfloß fast vor Liebe zu ihr. An einem dieser Wochenenden passierte es, dass sie traurig nach Hause ging. Ihre Schneidezähne zerkauten die rote Farbe und mit einem Glas Rotwein spülte sie mich hinein. Ein Schluchzen sog mich hinab, bis ein Strudel mich an einem pulsierenden Etwas freigab. Das Pochen war stark, drückte mich gegen die Wand, um mir bei seinem nächsten Zusammenziehen wieder genügend Luft zum Atmen zu geben. Doch wenn ich genau hinhörte, fiel mir auf, dass es kein regelmäßiger Rhythmus war, der in meine Ohren drang. Ab und zu gab es einen kleinen Hüpfer und ab und zu eine angstmachende Pause.

Doch ich spürte, dass ich angekommen war, hier war mein Platz. Ich setzte mich in das große blutende Loch auf der Rückwand. Hier werde ich warten, bis sie mich findet.