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Dr. Zigian und die 7. Persönlichkeit

Ein Mann, der 40 Jahre lang immer um dieselbe Zeit aufgestanden war, immer um die selbe Zeit gefrühstückt und immer um dieselbe Zeit das Haus verlassen hatte, der immer um dieselbe Zeit den Zündschlüsel in seinem Zündschloss umgedreht hatte, der immer um dieselbe Zeit das Werkstor passiert hatte, konnte eines Tages weder aufstehen, noch frühstücken, noch das Haus verlassen, noch mit dem Auto fahren, noch arbeiten, geschweige denn all dies noch einmal in umgekehrter Reihenfolge absolvieren. Er saß auf der Kante seines Bettes und hatte ein seltsames Gefühl.

Seine Frau, die sich große Sorgen machte, wusste um Dr. Zigians Fähigkeiten und vereinbarte für ihren Mann einen Termin mit dem renommierten Spezialisten.

Am Freitag darauf betrat der Mann unsicher das Atelier von Dr. Zigian, auch deshalb war er verunsichert, weil er Praxisräume erwartet hatte. Aber als er Dr. Zigian gegenüber stand, fasste er sofort Vertrauen. Dr. Zigian trug einen teuren italienischen Anzug mit Seidenweste, darin eine goldene Uhr an einer goldenen Kette und hatte ein distinguiertes Äußeres, das kompetent wirkte und augenblicklich Vertrauen einflößte. Das weiße, für sein Alter ungewöhnlich volle Haar, schien ihn als einen Mann von Weisheit und Erfahrung auszuweisen.

Seine Frau, hob der Mann an, habe hier einen Termin für ihn vereinbart. Er habe im weitesten Sinne eine Art von Problemen, die er persönliche Probleme nennen würde, ohne sie genau bezeichnen zu können. Der Mann wirkte nervös und fahrig uns wollte sich zur Beruhigung eine Zigarette anzünden, worauf Dr. Zigian mit unumwundener Deutlichkeit auf ein Schild zu deuten hatte, das die Räumlichkeiten als uneingeschränkte Nichtraucherzone auswies. Aber nicht nur das, Dr. Zigian betonte seinen aus tiefer Überzeugung heraus resultierenden lebenslangen und ausnahmelosen Nichtraucherstatus.

Der Mann druckste herum, worauf Dr. Zigian ihn freundlich darum bat, ruhig frei heraus zu sprechen. Welchen Behufs Dr. Zigian sei, wollte der Mann kleinlaut wissen. Dr. Zigian musste lächeln: „Ich bin promovierter Surrealist“, antwortete er nichts desto trotz sehr ernsthaft, „und habe es mit Fällen innerer Befindlichkeiten zu tun, die sich auf psychologischem oder psychoanalytischem Wege nicht aufklären lassen.“ Der Mann war beruhigt. Es kam zum Gespräch, in dessen Verlauf Dr. Zigian sich umfangreiche Notizen machte.

Stunden später beendete er die Konversation und bat den Mann darum, noch sitzen zu bleiben. Dr. Zigian verschwand im Nebenraum und kehrte mit einem mattschwarzen Kasten zurück, mit dem er Aufnahmen von dem Mann, der sich dafür hinlegen musste, anfertigte. Es war keine Kamera im herkömmlichen Sinne, und ein Objektiv war auch nicht zu sehen. Der Kasten wurde von einer Assistentin abgeholt, und Dr. Zigian bat dem Mann an, er könne draußen rauchen, bis die Ergebnisse präsentationsbereit wären. Es würde aber nur ein paar Minuten dauern.

Als der Mann zurückgekehrt war, führte Dr. Zigian in einen hellen quadratischen Raum mit Oberlicht, an dessen Wänden in Augenhöhe Leuchtkästen hingen. Dr. Zigian leitete die Aufmerksamkeit seines Patienten auf eine Bilderserie, die rechts von ihm mehrere Leuchtkästen übergreifend hing. Es waren dort ähnlich einem Röntgenbild transparente dicke Folien zu sehen, auf denen sich farbige Schichtaufnahmen zu befinden schienen. Zu sehen war ein abstrahierter menschlicher Körper ohne jedes Detail, ohne Spezifika wie Ohren, Nase, ein Knochengerüst oder ein Organsystem. Allenfalls die äußere Kontur konnte als menschlich angenommen werden, man sah einen Kreis für einen Kopf, Arme, Beine. Und in der Außenkontur befanden sich sechs weitere Konturen, die sich nach innen hin immer weiter verjüngten bzw. verkleinerten.

Der Mann sah die Abbildungen fasziniert an, konnte damit aber nichts anfangen. Dr. Zigian erklärte, dass Röntgen- oder Ultraschallbilder zwar konkreter seien aber der Laie darin auch nichts sehen könne – zumal seine Apperatur Dinge sichtbar machen könne, wie keine andere Technologie. Bei der Surrealografie gehe es um Strukturen, um das Grundlegende. Und im Eigentlichen um die Anzahl der Schichten. „Was sind diese Schichten?“ fragte der Mann. „Ist das nun gut oder schlecht?“ „Wir erkennen hier jedenfalls die Ursachen des Übels“, konstatierte Dr. Zigian, während er einen Zeigestock in die Hand genommen hatte, um dem Mann anhand der Aufnahmen dessen Befindlichkeiten und Zustand zu erläutern.

„Der moderne Mensch“, hob Dr. Zigian an, „ist einer Fülle von Anforderungen gerade im Arbeitsleben unterworfen, die zu einer Art innerer Überlastung führen. Man spricht hier zum Beispiel oft vom sogenannten Burn-Out-Syndrom, das aber nichts anderes als ein manifester Erschöpfungszustand nach Dauerbelastung ist. Nicht bei jedem, der einer permanenten unmenschlichen Belastung ausgesetzt ist, werden diese Erschöpfungsmuster sichtbar oder für denjenigen, den es betrifft, spürbar. Im Gegenteil, zunächst werden sogar noch größere Kräfte mobilisiert. Man fühlt sich bei Dauerbelastung am Anfang sogar stärker als vorher.“ Dr. Zigian räusperte sich und trank einen Schluck Wasser. „Dann gibt es zwei Gruppen von Leuten“, fuhr er fort. „Die einen brechen nach einer längeren Zeit zusammen, mit verheerenden sozialen Folgen, weil sie sich auf lange Zeit hinaus erst einmal regenerieren müssen und in dieser Zeitspanne dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen können. Die zweite Gruppe hält durch. Diese Menschen spalten sich auf, meist in zwei Persönlichkeiten. In Ihrem Fall sehe ich eine ganz ungewöhnliche Spaltung: In Ihnen existieren sieben gleichberechtigte Persönlichkeiten, die unterschiedliche Funktionen wahrnehmen und sich sozusagen den Tag aufgeteilt haben, um überleben zu können.“

Dr. Zigian hatte den Zeigestock in einer einer Parabel nachempfundenen Bewegung über die Schaubilder geführt und dabei tonlos gezählt: „1, 2, 3, 4, 5, 6, 7… Die erste Persönlichkeit hat die Beziehung zu Ihrer Frau geführt – dies ist eine von zwei wirklich lebendigen Persönlichkeiten. Sie steht am Anfang. Die zweite hat den Morgen bewältigt, ist aufgestanden, hat gefrühstückt, sich auf den Weg gemacht, unterwegs noch Dinge erledigt und die Zeit bis zum Arbeitsbeginn genutzt – dies ist eine vor- und wegbereitende Persönlichkeit, eine absichernde. Die dritte, vierte und fünfte Persönlichkeit ist für die verschiedenen Aufgabenbereiche an Ihrem Arbeitsplatz zuständig.“ Die Spitze von Dr. Zigans Zeigestock wanderte auf der Aufnahme die Farbschichten entlang von außen nach innen. „Eine Persönlichkeit für die permanenten Auseinandersetzungen mit Ihren Vorgesetzten. Eine für die Strategieformung, um auf Vorwürfe aber auch auf neue Aufgaben adäquat reagieren zu können sowie um zu lernen, und eine, um die ganz normale alltägliche Arbeit zu erledigen. Die sechste Persönlichkeit stützt die anderen, die am Ende des Arbeitstages fast kraftlos geworden sind und kehrt zurück nach Hause. Sie ist wie eine Mischung aus Heiler und Transportunternehmer zu verstehen.“ Dr. Zigian lächelte. Es entstand eine Pause.

Der Mann hatte erwartet, dass noch etwas käme. „Und die siebte?“ fragte er. Dr. Zigian bückte sich und holte einen großen Kasten hervor, den er öffnete und dem Mann entgegenhielt: „Die siebte ist bisher nicht in Erscheinung getreten, sie ist noch inaktiv, es ist die eiserne Reserve. Wenn Sie als Mensch überleben wollen, lassen Sie Ihre siebte Persönlichkeit den Kasten mitnehmen und anwenden.“ Der Mann sah in den Kasten hinein und wunderte sich. „Verschaffen Sie sich Gehör bei denen, die Ihnen nicht zuhören wollen“, sagte Dr. Zigian, „und wehren Sie sich gegen die, die Sie quälen. Dann werden Sie wieder zu einem Menschen. Damit ist meine Beratung beendet.“ Dr. Zigian verabschiedete sich und verließ den Raum.

Der Mann betrachtete noch einmal den Inhalt des Kastens: Darin lagen ein Megaphon und eine Peitsche.

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