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Liebensmüde

krakauer

Alles begann mit diesen unglaublichen Schmerzen. Zuerst hatte er sie im Nacken gespürt, dann in den Armen und Beinen und schließlich schrien sie ihn auch aus der Rippengegend an. Schleichend waren sie gekommen, hatten sich in seinen Knochen eingenistet, sich von dort ausgebreitet und dominierten inzwischen mit unglaublicher Wucht seinen Kopf.

Das allererste Mal, als sie ihn getroffen hatten, hatte er instinktiv seine Hände im Hals verschränkt, sich versucht mit massiver Kraft zu schützen und die Schmerzen zu erdrücken. Dann hatte er gegen sie angearbeitet, war bis spät abends im Büro geblieben, aber die Schmerzen wurden stärker und stärker. An einem Morgen ging er schließlich zu seinem Arzt. Der hörte sich stumm und nachdenklich sein Leiden an, holte sein Stetoskop aus der Tasche und hörte in ihn hinein, zog seine Augenlider hinunter und leuchtete in seinen Pupillen, betastete seinen Bauch und seinen Unterleib, ließ seine Finger über jeden einzelnen Wirbel seiner Wirbelsäule streichen und, um sich seiner Diagnose sicher zu sein, machte er am Ende der Untersuchung noch ein langes Ultraschall.

Dann setzte er sich ihm gegenüber, nahm seine Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger beider Hände die Augen, bis er ein buntes Flimmern sah.

„Es tut mir sehr leid, aber Sie leiden unter einer sehr seltenen Krankheit, genau genommen sind Sie der erste Fall, aber es bestehen keinerlei Zweifel, ich bin mir absolut sicher. Ihre Schmerzen sind Symptome des Krakensyndroms.“

„Was bedeutet das denn, Krakensyndrom? Davon hab‘ ich noch nie gehört, was passiert mit mir und was für eine Therapie empfehlen Sie mir“, antwortete der Mann wenn nicht bestürzt dann doch irgendwie überrascht.

„Das bedeutet nichts anderes, als dass Sie zu einer Krake transformieren werden. Bald schon. Die Krankheit ist weit fortgeschritten. Es gibt keinerlei Therapie dagegen, kein Medikament, keine Operation, die Ihnen helfen würde.“

Dem Mann wurde schwindelig. Wortlos stand er auf und lief so schnell wie er konnte nach Hause. Dort versammelte er seine Frau und seine beiden Kinder im Wohnzimmer und erzählte ihnen, was der Arzt ihm soeben eröffnet hatte. Seine Kinder klammerten sich an ihn und wollten ihn nicht mehr loslassen. Seine Frau hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte haltlos.

Der Mann stand vom Sessel auf und kroch in sein Bett. Seine Beine hinterließen eine breite Schleifspur. Schluchzend lief ihm seine Frau hinterher. Sie wartete ab, bis er sich ins Bett gezogen hatte, dann ließ sie den Rolladen hinunter und löschte das Licht. Später, als sie die Kinder schlafen gelegt hatte, kam sie zu ihm ins Bett, schlüpfte unter seine Decke, schmiegte sich an ihn und bedeckte ihn mit ihren Küssen. Er umschlang sie mit seinen Armen, zog sie ganz nah zu sich her, hielt sie fest und wiegte sie sanft. Jede Nacht schenkte er ihr nun auf diese Weise die Erholsamkeit des Vergessens. Nach ein paar Wochen dann fiel ihr auf, dass seine Haut auszutrocknen begann. Um sie zu befeuchten, weinte sie die ganze Nacht und benetzte die trockenen Stellen mit ihren Tränen, rieb seinen unförmigen Körper damit ein und verschaffte ihnen beiden damit eine gewisse Linderung. Als jedoch alle Tränen geweint waren, fühlten sich ihre Augen an wie Sand, es brannte bei jedem ihrer Lidschläge. Ihr Blick suchte und fand Balsam in seinen Augen. Die ganze Nacht saß sie nun neben ihm und verlor sich, auf ihre Arme gestützt, in seinen Sichelpupillen. Die Wärme ihres Blicks durchdrang seinen Körper und beide umspannte eine verschmelzende Ruhe. Eines Nachts dann fand er auf einmal Traurigkeit in ihrem Blick und weil er diese Traurigkeit nicht ertragen wollte und auch um es ihr einfacher zu machen, schloß er seine Augen. Sofort kroch eine eisige Kälte durch seinen Körper und die Spitzen der Tentakel erfroren.

Von Verzweiflung gepackt, schrie ihn seine Frau an, er solle die Augen wieder öffnen, weil es das Letzte war, in dem sie ihn gesehen hatte. Aber er hielt seine Augen fest geschlossen. In ihrer Not kam sie nun jede Nacht zu ihm und schrieb mit einer dicken Tuschefeder all ihre Liebe auf seine weiche Haut. Jede Nacht notierte sie ein Gedicht für ihn und malte unzählige Herzen auf seinen Körper. Und doch gebar ihre verzweifelte Liebe nach langer Zeit blanke Wut und unbändigen Hass. In ihren Gedichten wurden die Worte Liebe immer seltener und ihre Hand hatte bald schon die Form eines Herzens vergessen. Ihre Worte waren düster geworden und seine Haut war gezeichnet von häßlichen Flecken der Dunkelheit. Eines Abends dann holte sie aus der Werkzeugkiste eine spitze Feile und ritzte ihre Worte tief in die letzte unbeschriebene Stelle seines Körpers. Blut trat heraus und verkrustete zu dicklichen Wülsten. Zart ertasteten ihre Finger seinen Schmerz. Er ertrug es ohne eine Regung, presste seine Augen fest zu sammen und ein inneres Beben bemächtigte sich seiner. Als sie damit fertig war, glitt ihr die Feile aus der Hand, diese schlug auf den Boden auf und rollte unter das Bett. In den darauffolgenden Tagen betrat sie das Schlafzimmer kein einziges Mal mehr.

An einem Morgen dann kam der gerufene Handwerker und zimmerte aus Holzplatten und Glas ein riesiges Aquarium an der gegenüberliegenden Wand des Bettes. Dieses füllten sie am Abend mit Wasser, schütteten alles Salz, das sie in der Küche fanden hinein und warfen ihn unter großer Anstrengung über den Rand. Sie schlief wieder in ihrem Bett. Sie hatte das Bettlaken ausgetauscht, Decke und Kissen frisch bezogen, alles duftete frisch. Nach all den durchwachten Monaten fiel sie in einen traumlosen Schlaf. In dieser Nacht öffnete er seine Augen, schwamm an die Glasscheibe, saugte sich daran fest, schickte seinen Blick zu ihr hindurch und beobachtete jede Bewegung ihres Schlafes.

Als sie am Morgen erwachte, hatte seine Trauer all ihre Worte auf seinem Körper abgewaschen und das Wasser im Aquarium hatte sich schwarz gefärbt. Die Narben auf seiner Haut schmerzten. Angewidert stand sie davor, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken und schließlich wand sie sich ab. Sie ging zum Kleiderschrank, nahm ihr rotes Kleid heraus, schlüpfte hinein, steckte sich die Haare hoch, weckte die Kinder. Sie öffnete die Haustüre und noch im Hinausgehen setzte sie sich ihre Sonnenbrille auf. Niemand sollte ihre geschlossenen Augen sehen.

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