Ich habe mir gerade ein Glas Wasser eingeschüttet und getrunken. Da musste ich das Glas absetzen, das Wasser darin betrachten und daran denken, was mir als Kind geschehen war. Ich hatte nie Fruchtsäfte oder Brausen getrunken, immer nur Wasser, Wasser ohne Kohlensäure. Klares, transparentes Wasser.
Kann man Tee aus dunklen Tassen trinken? Nein. Das geht nicht. Wenn man Tee trinkt, muss man die Farbe des Tees sehen und beurteilen können, weil die Wahrnehmung der richtigen Farbe das Geschmackserlebnis beeinflusst. Man trinkt deshalb Tee aus blütenweißen Tassen, auch nicht aus gelben, sie müssen reinweiß sein. Wasser darf auch nicht sprudeln. Man muss es in Ruhe sehen, unbewegt. Man muss hindurchsehen können, wie durch eine Glasscheibe. Nur, wenn Wasser glasklar ist, kann man sein Wesen erfassen und kann beurteilen, ob es gut oder schlecht für einen ist.
Ein Schulkamerad kam damals zu Besuch. Wir redeten viel, auch darüber, was unsere Väter arbeiteten. Seiner war Biologe in einer Forschungseinrichtung. Dort wurden Mikroorganismen gezüchtet und es gab Geheimprojekte, über die der Vater nicht reden durfte. Der Vater war aber ein Angeber, ich hatte ihn ja ein paar Mal erlebt. Er musste immer sagen, wie toll er war. So erfuhr ich in den vertraulichen Gesprächen mit seinem Sohn, dass die Forschungseinrichtung an einer Methode arbeitete, Menschen unsichtbar zu machen. Das geschah nicht, wie man sich das so vorstellte, durch Felder oder lichtabsorbierende Kleidung, sondern durch Transparenz. Man hatte Mikroorganismen vollständig durchsichtig gemacht, war auch erfolgreich bei winzigen Insekten gewesen und nun zu Experimenten mit einer großen Spinnenart übergegangen.
Die Lebewesen wurden dadurch nicht vollständig unsichtbar aber ein Wesen, dass sich so näherte, war wesentlich schlechter wahrzunehmen. Darüber hinaus gab es aber eine interessante Besonderheit des Verfahrens: Durchsichtige Lebewesen, die unter normalen Umständen schwer zu erkennen waren, wurden dann nahezu vollständig unsichtbar, wenn sie sich im Wasser aufhielten.
Nun war es so, dass ein Spinnenpärchen, bei dem man die Unsichtbarkeits-Experimente erfolgreich durchgeführt hatte, entkommen konnte. Es waren Wasserspinnen, die zwar nicht unter Wasser atmen konnten, aber die Eigenart hatten, sich Luftblasen von der Oberfläche zu holen, durch die sie lange unter Wasser aushalten konnten. Diese Spinnen waren also im Wasser lebensfähig und dort praktisch nicht mehr zu sehen, was ihnen einen Vorteil beim Jagen brachte. Solche Spinnen waren ungleich erfolgreicher bei der Jagd nach Wasserinsekten und kleinen Fischen oder Fisch- bzw. Froschlarven. Dadurch konnten sie sich schneller vermehren und ausbreiten.
Der Vater des Jungen, der in der Forschungseinrichtung arbeitete, war panisch. Er erzählte, dass die Spinnen weit erfolgreicher waren, als man gedacht hatte. Ihre Lebenserwartung wuchs beträchtlich, weil kein Feind sie mehr sehen konnte. Spinnen brachten hunderte von Jungen zur Welt, von denen im Normalfall nur ganz wenige in der Natur überlebten und heranwuchsen. Nun aber überlebte praktisch die ganze Population, was erst zu einer sprunghaften und dann zu einer lawinenartigen Ausbreitung führte. Noch etwas anderes stellten die Wissenschaftler mit großem Entsetzen fest. Die Spinnen suchten instinktiv den Ort, in dem sie die größten Überlebenschancen hatten: das Wasser. Waren sie vorher normalerweise auch am Wasser oder auf Wasserpflanzen zu finden, lebten sie nun ausschließlich im Wasser, als könnten sie genau erkennen, dass sie dort praktisch unangreifbar waren.
Die Wissenschaftler wiesen sie auch im Grundwasser und dann im Trinkwasser nach. Man baute Filter ein, dennoch schaften es die Spinnen, in die Wasserleitungen und in die Gläser der Menschen. Selbst in Mineralwasserflaschen fand man sie. Die Spinnen hatten eine weiche Konsistenz, man konnte sie beim Trinken kaum mit der Zunge ertasten. So gelangten sie in den menschlichen Körper und waren weder durch Ultraschall noch durch Röntgen aufspürbar.
Die Spinnen sonderten im menschlichen Körper einen Stoff ab, der die Menschen beeinflusste und dazu trieb, ans Wasser zu gehen. Hatte man mehrere Spinnen aufgenommen, so führte deren stoffliche Einflussnahme dazu, dass auch der menschliche Körper transparent wurde. So lösten sich mein Bruder und mein Vater quasi auf, sie sahen aus wie aus Glas. Sprach ich mit meinem Vater, wie mit einem Wesen mit Glaskopf, konnte ich durch ihn hindurch meine Mutter sehen, die hinter ihm das Zimmer betreten hatte. Mein Vater und mein Bruder hatten sich charakterlich verändert, sie hörten gar nicht mehr zu, wenn man mit ihnen redete. Sie zogen sich nackt aus und gingen zum Fluß. Sie stiegen hinein, und ab da waren sie verschwunden. Wir haben sie nie wieder gesehen.
Die öffentliche Verwaltung traf viele Vorkehrungen, um die Spinnen zu behindern oder ganz daran zu hindern, in die Trinkwassersysteme zu gelangen. Zum Teil war dies erfolgreich. Andererseits verschwanden immer wieder Menschen und es machte sich eine große Verunsicherung in der Bevölkerung breit. Dann normalisierte sich die Situation nach ein paar Jahren. Aber die Spinnen fand man nicht mehr. Hin und wieder erzählte jemand davon, dass er beim Trinken eine Verdickung im Wasser gespürt habe. Weiter nichts. Es passierte nichts mehr. Vielleicht hatten sich die Spinnen angepasst, weil sie wussten, dass sie verfolgt würden, wenn sie Menschen weiterhin durchsichtig machten.
So tranken die Menschen die unsichtbaren Spinnen. Man konnte offenbar nichts endgültig Effektives dagegen tun. Manch einer behauptete, es gäbe diese Spinnen gar nicht, es sei eine Aktion der Regierung gewesen, von ihrer Unfähigkeit abzulenken und dass all dies nur Einbildung gewesen wäre. Andere befürchteten, die Spinnen warteten nur auf ihre Gelegenheit und unterwanderten die Gesellschaft.
Vor mir auf dem Tisch stand das Glas Wasser. Ich hatte mich daran gewöhnt zu trinken, ohne wissen zu können, was darin war.