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Der optimierte Spaziergang

Liebesbummler

Ist er schon da? Eine nervöse, mühevoll gedämpfte Stimme sprach in den Hörer des Haustelefons. Nein, noch nicht, ich sage Ihnen aber sofort bescheid, Herr Madoki. Madoki wandte sich zu seinen Vorstandskollegen: So geht das nicht weiter. Ratlosigkeit. Einige Stirnfalten.

Müller, dessen Anzug die gleiche Farbe hatte wie seine Schläfen, sah in Richtung Fenster: Nur die Ruhe, er ist sicher bald da. Kopfschütteln bei dem einen oder anderen Vorstandsmitglied wegen der Situation. Blicke, die andere Blicke suchten und um Zustimmung zur vorherschenden Meinung baten. Stille Übereinkunft.

Madoki war aufgestanden, ging mit den Händen in den Hosentaschen hin und her. Auch er schüttelte langsam aber rhythmisch den Kopf. Er wirkte nervös und unruhig. Müller sprach mit sonorer, unbetonter Stimme: Er hat vier Jahrzehnte hier alles getan. Es ist ok, wenn er es ruhiger angehen lässt.

Madoki stand mit dem Rücken zum Redner, ein Akt unauffälligen Widerstands. Er sah aus dem Fenster nach ganz unten auf eine grüne Fläche. Es war eine Ansammlung undurchdringlicher Baumwipfel, die so eng beieinander standen, dass sie wie eine Fläche wirkten. Dort unten irgendwo, im Park, ging er spazieren, spazieren, jeden Tag. Ok, aber er hat eine Funktion und wenn er die nicht mehr erfüllen kann, dann soll er sich aufs Altenteil zurückziehen. Ist doch kein Problem. Müller schüttelte mit innerem Unbehagen den Kopf: Klar, das kann man anders organisieren, aber das muss er auch wollen. Wollen Sie ihn fragen? Wollen Sie ihm nahelegen, dass er gehen soll?

Modoki hatte sich umgedreht, einen Fuß etwas angehoben und den Kopf leicht nach unten geneigt, um seine Schuhspitze in einem Akt willentlicher Konzentration zu betrachten. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Als er gerade antworten wollte und das mit einem Ich denke… eingeleitet hatte, ging das Haustelefon. Alle Köpfe wandten sich um und starrten auf den Apparat. Madoki nahm ab. Ja? Am anderen Ende die Chefsekretärin mit flüsternder Stimme: Ich sehe ihn gerade aus dem Fahrstuhl kommen. Er ist da. Madoki bedankte sich knapp und legte auf. Alle sahen sich an.

Ein großes Büro, groß aber nicht verschwenderisch. Dennoch war der Abstand zwischen der Sitzgruppe und dem Chefschreibtisch größer als man es von normalen Büros gewohnt war. Er verlieh dem Raum eine Großzügigkeit, die er eigentlich gar nicht hatte. Doch – ohne, dass je jemand darüber nachgedacht hatte – signalisierte diese Raumwirkung, dass man hier an entscheidender Stelle saß.

Mavous saß in einem harten Sessel und sah Müller und Madoki, die auf zwei der drei Stühle vor dem Schreibtisch Platz gekommen hatten, an. Was liegt an? fragte er. Noch ehe einer der beiden antworten konnte, setzte er hinzu, dass ihm der Spaziergang gut getan habe. Er erzählte, dass er einige Salamander gesehen habe und dass einer gewirkt habe, wie ein kleiner Dache. Was hast du gemacht, hast du jemanden getroffen? fragte Müller entspannt. Nein, ich bin spazieren gegangen, einmal um den See und dann weiter, wo ich noch nicht war. Eine lange Strecke aber ich merke, dass ich wieder fitter werde. Aber bestimmt bist du nicht gekommen, um über meinen Spaziergang zu reden. Müller wusste nicht, was er sagen sollte. Madoki sah Müller kurz verunsicht von der Seite an. Allgemeines Schweigen, in das Madoki, der unmerklich von Müller zu Mavous wieder zu Müller und zurück zu Mavous geschaut hatte und es nicht fassen konnte, dass Müller nichts sagte, ein Doch! einwarf.

Mavous wandte den Kopf zu Madoki: Was? Er war erstaunt. Madoki überlegte schnell, dann sagte er: Die Firma ist immer öfter führungslos. Wir sollten darüber reden. Mavous hatte Madoki vor ein paar Jahren in die Firma geholt und schätzte dessen unkonventinelles Denken und seinen Willen, über Probleme nicht nur zu reden, sondern sie direkt anzupacken. Madoki fuhr fort: Es geht um Ihre Spaziergänge. Sie sind immer länger weg und wir wissen nicht, wann Sie zurückkommen. Das hat einige male hier zu Chaos geführt, denn Sie entscheiden und über Ihren Schreibtisch laufen alle wesentlichen Kundenkontakte. Können Sie sich an letzte Woche erinnern, der Regierungsauftrag? Das wäre um ein Haar zurückgegangen, weil Sie nicht da waren. Es tut mir leid, aber ich muss es so sagen: Hier traut sich keiner, Ihnen das zu sagen. Es muss aber gesagt werden, weil die Interessen des Unternehmens sonst leiden. Wir stehen hervorragend da aber die Konkurrenz schläft nicht.

Müller legte ihm eine Hand auf den Unterarm und hakte ein. Das ist ein sensibles Thema. Jeder gönnt dir das, dass du nach all den Jahren auch mal an dich denkst. Meiner Ansicht nach kannst du das machen und sogar weiter ausweiten, genieß dein Leben, aber wir müssen das organisieren. Mavous hatte bei Madoki’s Worten erstaunt geguckt und war nun, nachdem Müller geendet hatte, bereits wieder zu seinem neutral-geschäftlichen Gesichtsausdruck zurückgekehrt. Tja, was jetzt? Wollt ihr, dass ich gehe? Müller hob beschwichtigend die Hände mit nach unten wie Halbschalen geöffneten Handflächen und wollte sofort etwas erwidern aber Mavous ließ ihn nicht. Stopp! Herr Madoki, Richard, ich mache seit ein paar Monaten meine Spaziergänge, das ist das erste Mal in meinen Berufsleben und es tut mir gut. Ein gesundes Unternehmen braucht einen gesunden Chef. Also was? Ok, ich muß kalkulierbar sein. Dann müssen wir drüber reden, was wir machen. Also was machen wir?

Kannst du deine Spaziergänge nicht einfach verlässlich auf sagen wir zwei Stunden eingrenzen? Wenn es mal nicht klappt und du siehst, du schaffst es nicht rechtzeitig zurück, könntest du den Fahrdienst anrufen, der kommt dann zu einem der Ausgänge und holt dich. So haben wir alle ein besseres Gefühl, sagte Müller. Mavous zeigte keine Regung. Er sah aus, als arbeitete es in ihm. Worüber denkst du nach? fragte Müller. Ich denke darüber nach, ob unser Vorstand nicht groß genug ist und wir nicht genügend äußerst fähige Mitarbeiter haben, als dass ich nicht mal meine Runden drehen kann, so wie ich das für richtig halte. Müller zog das vielsagende Gesicht eines Bedenkenträgers, Madoki sah aus, als wollte er etwas sagen, er sagte aber nichts.

Madoki hatte eine Aktenhülle geöffnet und zog einen Plan heraus, den er hochhielt. Das ist der Park, sagte er. Es ist ein Plan, in dem alle Wege eingezeichnet sind, auch die, die ein Navigationssystem nicht erfassen würde, also Schleichwege, Abkürzungen usw. Ich hab das persönlich überprüft. Mavous wandte sich ihm interessiert und amüsiert zu: Sie waren im Park? Sind Sie auch spazieren gegangen? Madoki nickte. Ja, ich war zwei Tage nach Feierabend dort und nochmal morgens, ich habe das Wesentliche selbst überprüft. Mavous war beeindruckt. Zu Fuß? fragte er lächelnd. Nein, sagte Madoki, mit dem Fahrrad. Mavous nickte anerkennend. Auch Müller lächelte. Und? Madoki zog ein paar Tabellen hervor. Alle Strecken sind hier ausgemessen, um den See herum, über den Hügel, auch die Entfernungen zu den Ausgängen, bzw. von den Eingängen ausgehend die Entfernungen zu den wichtigsten Punkten. Mavous wippte leicht in seinem Bürosessel. Also, was? Wozu? Madoki hielt eine Tabelle hoch. Sie können hiermit genau ermessen, welcher Weg wie lange dauert. Selbst wenn Sie sich umentscheiden, und einen anderen Weg unterwegs einschlagen, können Sie mit diesem Navigator genau sehen, wie lange Sie für die Strecke brauchen und auch für den Rückweg und auch, ob Sie zu Fuß zurück gehen oder sich abholen lassen. Es lässt sich alles einprogrammieren, das funktioniert quasi auf Knopfdruck.

Madoki redete noch weiter und erklärte die algorithmische Logik hinter dem kleinen Navigationsgerät, das auf den ersten Blick wie eine herkömmliche Armbanduhr wirkte. Er hatte es während seiner Ausführungen aus der Tasche gezogen und damit einen dramaturgischen Ahaeffekt geschaffen. Es sollte Eindruck machen, als er plötzlich dieses Stückchen Technik in der Hand hielt. Müller schlug vor seinem geistigen Auge die Hände vor dem Gesicht zusammen, wußte er doch, was Mavous davon hielt, wenn man man mehr verkaufte als argumentierte. So hielt sich Müller zurück, hörte zu, beobachtete die beiden im Dialog und stellte erstaunt fest, wie ruhig und überaus sachlich Mavous mit Madoki redete. Vor allem stellte er Fragen und überließ Madoki lange Ausführungen und Redebeiträge.

Müller betrachtete Mavous noch eingehender. Was machte er im Park? Ging er da stundenlang hin und spazierte durch die Gegend, beobachtete Eichhörnchen, Vögel, Salamander? Traf er sich mit jemandem? Was macht man zwei, drei, vier Stunden im Park? Oder war er gar nicht im Park? Ging er in eines der Cafés rund um den Park? In eines der Hotels? Mavous hatte vor drei Jahren seine Frau verloren, sie war gestorben. Er hatte seine Frau  so sehr geliebt, dass danach keine Frau mehr in sein Leben treten konnte. Sie lebte in seinem Herzen weiter und hatte von innen die Tür verriegelt. Mavous trug immer noch den Ring, in den Liebe eingraviert war. Müller konnte Mavous‘ Hände jetzt gerade nicht sehen. Aber als Mavous sich kratzte und für einen Augenblick die Ringhand zum Hinterkopf führte, konnte er sehen, dass Mavous den Ring nicht mehr trug. Müller hätte aber davon gewusst, wenn Mavous eine neue Frau hätte. Sie waren Freunde. Also, was war los?

Kein Ring mehr. Warum? Die langen Spaziergänge im Park. Mavous war im Park unterwegs, nicht woanders, dafür gab es diverse Hinweise. Ein paarmal waren ihn Mitarbeiter suchen gegangen, weil er sein Telefon nicht mitnahm. Sie hatten ihn im Park angetroffen. Was also im Park? Was war da?

Müller versank, während Madoki redete und redete, in einen Zustand, in dem er zwischen Assoziationen und einem Tagtraum hin und her wechselte. Darin sah er Mavous im Park spazieren, ziellos, langsam. Er sah in die Natur, genoss den Luxus, sich Zeit genommen zu haben bzw. Zeit zu haben. Müller sah vor sich, wie Mavous eine Wiese entlang ging, hinauf auf den höchsten Punkt des Parks, weil es ihn interessierte, wie der Ausblick von dort oben war. Auf dem Hügel saß ein Hund, der ein Fell hatte, das Mavous bisher nur bei Ziegen gesehen hatte. Der Hund saß dort und hechelte. Er musste ein Stück gelaufen sein, wirkte ermattet. Mavous näherte sich ihm, hockte sich mit ganz langsamen Bewegungen in Armlänge vor ihn hin und hielt ihm die nach oben geöffnete Handfläche hin. Der Hund schnupperte und leckte Mavous‘ Hand. Sie blieben beide sitzen. Mavous streichelte den Hund. Müller sah, wie von der anderen Seite eine Frau den Hügel mit einem zweiten Hund hinauf kam. Sie ging langsam und beugte sich etwas nach vorne, um instinktiv ihre Körpergröße kleiner erscheinen zu lassen. Mavous sah sie kommen. Sie deutete auf den Hund vor Mavous, zeigte auf ihn, machte mit der Hand eine angedeutete Klaue. Mavous verstand sofort und hielt den Hund vor sich am Halsband fest. Aber der rührte sich sowieso nicht. Er machte kleine Piepslaute, als er sein Frauchen den Berg hochkommen sah.

Müller sah, wie Mavous mit der Frau redete. Sie wirkte distanziert, verabschiedete sich dann und ging mit den beiden Hunden. Mavous sah ihr nach. Müller spürte, dass diese Frau Mavous gefiel, sie entsprach seinem Schönheitsideal, hatte hohe Wangenknochen. Sie hatte ein Gesicht, das mit Mavous ohne Worte sprechen konnte. Das Gesicht sagte zu Mavous Ich bin weiblicher als alles, was du kennst und Ich kann dein Zuhause sein. Ausgeprägte Wangenknochen waren für Mavous die beiden Enden einer strahlend weißen Wolke an einem hellblauen Himmel. Sie sagten Ich bin die Unendlichkeit, wenn du mir so nahe kommst, dass du die äußeren Ausläufer meiner Wangen nicht mehr erfassen kannst, lass‘ ich dich nicht mehr los.

Mavous stand am Berg und blickte hinunter. Er sah der Frau nach. Ihre Stimme: Die Tonlage ihrer Stimme, die Höhe ihrer Stimme und vor allem ihre Melodik. Müller sah Mavous nie wieder Musik hören, weil der Klang dieser Stimme in Mavous‘ Kopf bis zu dessen Lebensende nachhallen würde. Und was sie sagte: Sie sah die Welt mit den gleichen Augen wie Mavous, sie konnte nichts sagen, was er nicht verstand. Und doch verstand er sie überhaupt nicht. Sie war vor ihm in einer Distanz stehen geblieben, die Zurückhaltung und Vorsicht verriet.

Ihre Haut war braun. Die Schatten, die das Blattwerk auf ihr Gesicht geworfen hatte, hatten der einen Grundfarbe viele Nuancen gegeben. Es war eine Farbe, die Mavous innerlich ganz ruhig werden ließ. Eine Farbe der Ausgeglichenheit, der Gelassenheit, eine Farbe des Heimkommens.

Die Frau ging den Berg hinunter. Mavous hatte sie betrachtet, nachdem sie sich zum Abschied die Hände gereicht und sie sich zum Gehen gewandt hatte. Die Kontur ihres Körpers sprach mit ihm. Ich bin eigenständig. Lass mich in Ruhe. Ich brauche dich nicht. Allein bin ich am stärksten. Sie ging mit den beiden Hunden den Berg hinunter. Müller sah Mavous wie er ihr hinterher sah, die Bewegung ihres Körpers sah. Die Bewegung des Körpers dieser Frau ließ Mavous zum ersten mal seit langer Zeit seine verstorbene Frau vergessen. Vielleicht, weil diese Bewegung Lebendigkeit ausdrückte. Eine Lebendigkeit, die Mavous überaus bekannt vorkam.

Müller sah Mavous die Tage danach in den Park gehen. Immer und immer wieder ging er durch den Park, bis er den Eindruck hatte, alles abgelaufen zu sein. Er hielt Ausschau nach der Frau. In seinen Adern floss das Blut der Frau. Er hörte in sich ihre Stimme, seine Lunge atmete die Luft, die sie ausgestoßen hatte. In seinen Kopf hatte sich eine unbestimmte Form gebildet, die ein Gefühl mit einschloss, das er immer hatte, wenn er an sie dachte. Es war ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit, von Aufregung und Endgültigkeit. Müller sah mit halb geschlossenen Augen, dass Mavous nach den ersten Tagen der ergebnislos krampfhaften Suche nach der Frau gelassener wurde. Wie er langsamer ging und die Natur genoss. Wie er dankbar wurde, dass es diese Frau gab oder für ihn gegeben hatte.

Müller sah, wie sie sich schließlich wieder begegneten. Die Frau und Mavous unterhielten sich. Die Frau lachte, sie fühlte sich offenbar wohl in Mavous‘ Nähe. Müller sah die beiden nochmal und nochmal, sie setzten sich auf eine Bank, redeten und lachten, währen die Hunde spielten. Müller sah, dass Mavous sich mit der Frau verabreden wollte. Die Frau verneinte. Ab da sah Mavous die Frau nicht mehr, er ging dennoch jeden Tag in den Park, weil er sich wünschte, sie wäre dort. Sein Blick suchte die durch die Vegatation – vor allem die überaus graden hochstämmigen Bäume – vertikal strukturierte Weite des Parks ab. An manchen Tagen hatte die Natur die Qualität einer Projektion. Sein Herzschlag war ein Trommelrythmus, der sie hervorlocken sollte.

Müller tauchte aus seiner Vision wieder in die Realität ein. Madoki hatte seinen Vortrag über den „optimierten Spaziergang“ Mavous‘ beendet, lehnte sich zurück und wartete auf Reaktionen. Sein jugendliches Gesicht strahlte Zufriedenheit aus. Er hatte alles bedacht. Ein geschlossenes effizientes System. Müller erhob sich. Er legte Madoki die Hand auf die Schulter und sagte zu Mavous: Durchdenk das mal, wir gehen jetzt und lassen dich mal. Wir finden eine Lösung. Madoki erhob sich bereits und ging zur Tür.

Müller wandte sich um zu Mavous, der zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand den ringlosen Ringfinger der linken Hand hielt. Ihre Augen trafen sich. Danke, sagte Mavous. Er hatte Schmutz an den Schuhen. Als die Tür sich geschlossen hatte, lehnte er sich zurück und blickte an die Zimmerdecke. Er spürte das Gefühl, das er für sie hatte. Es war wie eine innere Sonne. Wenn sie die Sonne war, war er ihr Schatten. Er schloß die Augen. Das Telefon schellte.

(Die Geschichte ist entstanden, indem sich Angelika Wicke einen Titel ausgedacht hat und ich nach diesem Titel geschrieben habe.)

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