Hundeline

Frauchen war von einem Raumschiff entführt worden, Herrchen für 30 Jahre Zigaretten holen gegangen. Die brave Hündin Pretty war allein zurückgeblieben und blickte nun verdutzt auf ihren Futternapf, der noch gut gefüllt war. Normalerweise fiel sie über ihr Futter her und würgte alles innerhalb weniger Sekunden herunter, um sich hernach unnötigerweise wieder vollständig zu erbrechen.

Diesmal jedoch betrachtete sie die Schale mit dem Futter wie etwas sehr Einmaliges, etwas, das in dieser Form vielleicht nie wiederkehren würde. Denn sie ahnte, dass Frauchen und Herrchen vielleicht diesmal etwas länger wegbleiben würden. Also ging Pretty zum Napf und aß einen Happen. Es war eine völlig neue Erfahrung für sie, den Bissen mehrmals zu kauen und das Futter richtig zu schmecken. Denn ihre bisherigen Tätigkeiten kulinarischer Speisezuführung waren ausschließlich Schlingen und Würgen gewesen.

So verging der Tag sehr zäh. Pretty teilte sich das Futter gut ein – aber alles hat einmal ein Ende. So kam es, dass ihr nur noch ein allerletztes kleines Stückchen Hundefutter verschüchtert entgegenblickte. Pretty war verzweifelt. Sie wußte, dass sie verhungern musste, wenn der Napf leer war. Sie schaute noch einmal intensiv auf das Stück Futter, das nun zu lächeln schien, andererseits konnte es aber auch sein, dass es kein Lächeln im eigentlichen Sinne war, sondern vielmehr ein Weinen. Pretty konzentrierte sich überhündisch, doch sie hätte immer noch nicht sagen können, ob es nun ein Lächeln oder ein Weinen war, egal wie sehr sie sich auch konzentrierte.

Da fiel ihr plötzlich ein uralter Hundewitz ein, der von Schrödingers Katze handelte. Schrödinger war ein Bernhardiner mit einer stattlichen Hundehütte, der gerne Katzen jagte aber nie eine fing. In der Regel liefen die gejagten Katzen in seine Hundehütte und versteckten sich dort oder verließen sie ungesehen durch den Hinterausgang. Seine Hundehütte hatte zwei Eingänge, die aufgrund der Dimensionierung der Hundehütte weit auseinanderlagen – so weit, dass er mit Blick auf den einen Eingang nie gleichzeitig den anderen im Blick haben konnte. Wenn er also sah, dass die Katze in seine Hütte lief, konnte er nie sagen, ob sie zum anderen Ausgang hinaus wieder verschwunden war oder nicht. Mehr noch, da es stockdunkel in der Hütte war, konnte sich der Bernhardiner noch nicht mal sicher sein, ob die Katze nicht dort verharrte und viel mehr noch, es könnte sein, dass sie auch nach Tagen, Monaten oder Jahren dort immer noch lebte oder auch, dass sie zwischenzeitlich gestorben ist. Der Bernardiner konnte nicht wissen, ob sie tot oder lebendig wäre.

Von diesem Gedanken an die Heisenbergsche Unschärferelation erinnert – Heisenberg war ein Tierfutter-Mettkocher, bei dem man nie wußte, ob und welche verdaulichen Zutaten er in das Futter tat, weshalb auch der Begriff Unschärferelation entstanden war – kam Pretty zu abstrusen Gedanken. Vielleicht lag es auch an der Unterzuckerung, man weiß es nicht.

Und zwar dachte Pretty an ihre übliche quantenmechanische Kommunikation mit sich selbst. Denn wie jeder Hund wußte sie, dass sie in unendlich vielen verschiedenen Zuständen unendlich oft in unendlich vielen Paralleluniversen existierte. Mit diesen anderen Reinkarnationen ihrer selbst hatte sie fast täglich einen regen Gedankenaustausch über soziale Quantennetzwerke, zum Beispiel über FakeQuant oder GoogleMechanics. Da nun in etwa diesem Augenblick oder früher oder später unendlich viele Prettys in unendlich vielen Dimensionen vor unendlich vielen Hundenäpfen saßen, die zum Beispiel entweder vollständig oder halb oder gar nicht gefüllt waren, wäre theoretisch für sie dann genügend Futter für die nächsten Jahre vorhanden, wenn sie in der Lage gewesen wäre, diese Futterportionen zu sich zu transportieren.

Pretty dachte nach: Wie wäre eine solche Menge an Futter aus völlig inkompatiblen Dimensionen bzw. Paralleluniversen in ihres zu transportieren und zwar auch noch in die Zimmer des Hauses, in dem sie lebte, dessen Fenster und Türen sie nicht öfnen konnte? Die Technologie dafür war definitiv nicht vorhanden. Sie wäre aber sicher irgendwann in der Zukunft vorhanden. Die Zeit als einschränkendes Korsett hatte aber in der Quantenkommunikation keine Relevanz. Denn unendliche viele der unendlichen vielen Abbilder von Pretty in anderen Dimensionen waren nicht etwa nur zur gleichen Zeit vor einem oder keinem Futternapf, sondern auch eine oder zwei Sekunden, Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte weiter, weil gemäß der Quantentheorie zu allem alle anderen Alternativen in anderen Wirklichkeiten vorhanden sein können.

Pretty kontaktierte Prettys ein paar Jahre und dann Jahrzehnte weiter und erkundigte sich nach dem Stand der Technologie. Und schließlich, da: Genau 30 Jahre später sollte es möglich sein, Materie in ihre atomaren Bestandteile zu zerlegen und in dieser Form sogar durch die Zeit zu schicken und exakt an einem Ort wieder materialisieren zu lassen. Die Pretty, mit der die Endoplast-Echtzeit-Pretty sprach, war grün und befand sich auf dem wilden Planeten Octoplop. Diese kontaktierte in ihrer Zeit eine gelangweilte Raumschiffmannschaft, die über die Technologie verfügte, und fragte, ob sie bereit wäre, alle Räume eines speziellen Hauses auf dem Planeten Erde per Dimensionstranssubmissionsanzeigetechnologie mit Hundefutter zu füllen. Der Kapitän, der neckisch von der Mannschaft Das Karnickel genannt wurde, verlangte als Gegenleistung eine Erdenfrau. Erden-Endoplast-Echtzeit-Pretty willigte sofort ein, und so wurde kurz danach das Haus mit Futter geflutet, nachdem Frauchen in ihrer nur kurz zurückliegenden Vergangenheit von einem hellgrünen Strahl erfasst wurde, der sie in ihre atomaren Bestandteile zerlegte und in dieser griffigen Form an Bord des getarnten Raumschiffes „Sonnenstern“ transportierte, um sie dort wieder zu materialisieren. Dummerweise hatte sie an diesem Tag ihren Aluhut nicht aufgehabt.