Die Gittertüre ist geöffnet. Der gusseiserne Frauenkopf darauf nickt ihr zu. Sie fährt die Rolltreppe hinunter, steht rechts. Menschen hasten links an ihr vorbei. Andere fahren ihr entgegen. Sie schaut hinüber, sieht sie an. Scherenschnittfiguren an langen Stäben, deren Arme ungelenk wackeln.
Die Rolltreppe nach oben fährt langsamer, sie hat nur die Hälfte der Geschwindigkeit, als die Rolltreppe, mit der sie hinunter fährt. Sie muss sich festhalten. Das schwarze Gummigeländer der Rolltreppe ist klebrig. Trotzdem lässt sie ihre Hand liegen. Die Tasche rutscht von ihrer Schulter, bleibt am Ellenbogen hängen. Der Mann vor ihr stolpert, fällt fast, sie hält ihn. Ihre Schritte hallen den langen Gang entlang. Sie geht langsam, kommt schwer voran, es geht bergauf, eigentlich geht es hinunter. Ihr Atem wird schneller. Die Wände des Gangs sind sind mit schwarz-weißen Fliesen ausgekleidet. Ihr Kleid nimmt die gleiche Farbe an und auch ihre Gesicht, ihre Hände, ihre nackten Beine, ihre Tasche, ihre langen Haare, ihre Schuhe, alles in schwarz-weißem Karomuster. Akkordeonmusik wabert von irgendwo her, schwingt um die Passanten, hüllt sie ein. Die Töne betreten ihre Ohren, drehen sich im Kreis und ziehen weiter. Sie kommt an den Bahnsteig. „Warum hat sie die Augen geschlossen?“ Der Mann neben ihr spricht zu ihr. Sein Blick richtet sich auf das große Plakat, das an der gegenüberliegenden Tunnelwand befestigt ist. Gleich wird es der einfahrende Zug bedecken. Ihren Blick hat er mitgezogen, ihn in Ketten gelegt und entführt. Ein Werbeplakat. „Sie hat die Augen geschlossen, weil sie etwas Schreckliches ansehen musste und nun hat sie Angst, dass andere genau das auch sehen müssen, wenn sie ihr in die Augen schauen und deshalb wird sie ihre Augen nie mehr öffnen.“ Ihre Stimme wird vom Zug überfahren. Eine Frauenstimme hinter ihr sagt „Ach Quatsch, sie hat einfach zu viel von diesem scheußlich stinkendem Parfum in die Augen bekommen.“ Der Mann wendet sich ihr kurz zu. Haut ist über seine Augen gewachsen, sie sehen aus wie welke Blätter. Dann steigt er ein. Schnell senkt sie ihren Kopf und dreht sich weg. Hinter ihr klappt ein Musiker seinen Gitarrenkoffer auf und beginnt zu spielen. Sie bleibt stehen. Der Zug fährt weiter. Ein Mann sitzt am Fensterplatz direkt vor ihr. Nur dieser eine Mann, sonst ist der Zug leer. Gerade sind so viele Menschen eingestiegen. Er hat seinen Kopf an die Scheibe gelehnt. Er liest in einer Zeitung. „Bitte schau mich an“, denkt sie. Er schaut hoch, Licht fällt auf die Scheibe, es spiegelt, sie kann ihn nicht mehr sehen, aber sie spürt seinen Blick in sich. Die Musik des Gitarrenspielers zerplatzt in ihrem Bauch.
In den nächsten Zug steigt sie ein. Ihr Kleid ist grün, ihre Haut. Sie setzt sich nicht. Wenn sie sich setzen wird, wird sie nicht mehr aussteigen. Deshalb bleibt sie stehen. Sie greift sich an die Brust. Ihr Finger krallen sich zusammen. „Ich kenne das“, sagt die Frau hinter ihr. Ihre Stimme klingt, als hätte sie auf alles eine Antwort. Sie spürt den Atem der Frau in ihrem Nacken. Er hinterlässt eine rote Brandspur. An der kommenden Station steigt sie aus.
Ihre Kehle ist trocken, sie beißt sich auf die Lippen. Es wird feucht in ihrem Mund, sie leckt mit ihrer Zunge, es schmeckt süß. Sie geht zum Kiosk, holt Kleingeld aus ihrer Tasche und legt es dem Verkäufer hin. Eine Münze fällt, rollt zwischen den Füßen der Menschen weg. Sie läuft hinterher, bückt sich, kommt zum Kiosk zurück. „Soll ich Sie küssen?“ Sie hat solchen Durst. Der Mann kommt heraus. Er küsst sie. Sie trinkt begierig. „Danke“, sagt sie. Seine Hand streicht über ihre Haare.
Sie nimmt die Rolltreppe nach oben. Die Akkordeonmusik ist mittlerweile hier angekommen. Die Rolltreppe nach oben fährt langsam. Sie rennt links an den Menschen vorbei.
Das gusseiserne Gitter ziert eine Männergestalt. Er klopft ihr auf den Rücken. „Atme“ , sagt er. Sie holt Luft, ihre Lippen sind trocken.
2 Responses to “Zeit-Gesicht”
Traumartige Sequenzen fügen sich beinahe zusammenhanglos zu einem surrealen Patchworkmuster, einzig lose zusammengehalten von Situationen des Transits, von der einen Szene zur anderen, einem bahnhofartigem Ambiente, jede Szene für sich untereinander austauschbar, ohne Bezug zur vorangegangenen… die düstere defätistische Grundstimmung scheint das einzige Band zu sein, das diese Szenen zusammenhält. Anonymität der Gestalten, ein angedeuteter, namenloser Durst nach Zuwendung verstärken den Eindruck der Traumwelt und Traumzeit in der sich die Erzählerin befindet. Es ist eine vage Welt trauernder oder gefährlicher Schatten, vor denen man sich in Acht nehmen muss, unfassbar, unbegreiflich rätselhaft, eine Welt unscharfer, vager Ideen, dennoch eindrucksvoll, den Eigentümlichkeiten des Traums gehorchend geschildert, wie eine Reise Orphées durch die Unterwelt, einer unbestimmten Welt, deren Logik man nicht versteht, weil sie von noch unbekannten, unbewussten, Regeln beherrscht wird.
[…] vor, die Wirklichkeit abzubilden und eine Entsprechung zu ihr – also existent – zu sein. So auch der Begriff „Zeit“. Was aber, wenn die Zeit gar nicht […]