Liebesgeschichten erscheinen mir verlogen, weit hergeholt, auf jeden Fall nicht aus dem Leben gegriffen. Am blödesten sind meist die Liebesgeschichten mit Happy End. Aber so etwas ist sehr beliebt, viele Leute mögen das. Einer der Gründe für meinen Liebesgeschichtenhass ist wahrscheinlich das hiesige Klima. Es ist zu kalt. Ihr werdet schon noch sehen, was 20 Grad unter Null aus der Romantik machen.
Es geschah an einem unserer kältesten Wintertage. Schon seit Wochen war die Sonne nicht mehr aufgegangen. Der Wind blies der jungen Frau die Pelzkappe vom Kopf. Galant hob ein junger Mann die Kopfbedeckung auf und reichte sie der blassen Frau, die die Mütze schnell wieder auf ihre dunklen Locken stülpte. Plötzlich verstummte der Wind und dicke Schneeflocken begannen auf die beiden herunterzurieseln. Ein magischer Moment.
Die Frau dankte dem Mann, der lächelnd seine ebenmäßigen Zähne zur Schau stellte. Kleine Eiszapfen glitzerten in seinem Bart. Dann sahen sich die beiden etwas zu lange in die Augen. Seine Augen waren grün wie das Meer, das man manchmal im Fernsehen oder auf Fotos im Internet sieht. Plötzlich schlugen ihre Herzen einen Hauch schneller, die Pupillen erweiterten sich und die Frau lud den Mann einfach zu sich ein. Sie wunderte sich noch über ihren Mut. Sie war doch sonst nicht so..
Später saßen sie bei der Frau daheim am Kamin. Hielten Grogs in den kribbelnden Fingern und lauschten dem anheimelnden Knacken der Holzscheite. Schließlich fanden ihre Lippen zueinander, das Feuer warf glühende Schatten und schon in ein paar Wochen würde die Sonne wieder aufgehen.
Dann kam der Tag, an dem die Sonne wieder aufging. Sie sahen sich an und im ersten frostigen Licht sah der Mann die körperlichen Nachteile der Frau, Zellulitis, Hängebusen und ihre raue Stimme, die ihm vorher sexy erschienen war, kam ihm nun gebrochen vor. Sie hingegen entdeckte, sein Schielen, das unmännlich gebärfreudige Becken und einige eklige Nasenhaare. Er dachte: „Hm.“ Ist es nicht beeindruckend, wie wortkarg diese Nordleute sogar in ihren Gedanken sind? Die Frau tat ihren rosigen kleinen Mund auf und verkündete: „Ich kann dich nicht mehr sehen!“ Damit meinte sie nicht, dass sie erblindet war. Und der Mann verstand auch, was sie meinte. Er ging.
Der Mann zog einsam davon über das Packeis, nur begleitet von seinem treuen Motorschlitten. Er sang seinen Schmerz aus voller Kehle in die Kälte hinaus: „Ich bin ein armer einsamer Seekuhjunge..“ Das hörte ein ohrenkranker Eskimoschamane. Der Schamane stellte sich dem vorbeifahrenden Mann in den Weg und verlangte ein besonders schmalziges Lied, auf dass die warme ölige Gesangsmasse seine wunden Ohren besänftige. Der Mann tat ihm gern den Gefallen und schmetterte „Kirsh Kirsh Dame“ von der Musikgruppe „Modernes Geschwafel“. Und siehe da, ein Wunder geschah und der Schamane ward geheilt. Zum Dank gab der zauberkräftige Eskimo dem jungen Mann ein Fässchen Liebestrank, mit einer Schnur dran, damit man es sich um den Hals hängen kann. Der Schamane zwinkerte dem Mann verständnisvoll zu und verschwand hinter einer Schneewehe.
Alles strebt dem Happy End zu, so muss es sein.
Rasend vor Glück saust der Mann zurück zur Blockhütte der Frau. Der Motor seines treuen Schlittens gibt das Letzte. Mit elegantem Schwung fährt er auf dem Hof ein. Er hastet zur Tür und klingelt. Es öffnet ein fremder Mann, doch unser junger Mann ist zu schnell und flößt dem Fremden einen guten Schluck aus dem Fässchen ein, bevor er merkt, was er da tut. Macht nichts. Allgemeines Pupillenweiten. Es folgt ein langer Kuss. Aus dem dunklen Korridor tritt die Frau herzu. Sie sieht was passiert ist und reißt das Fässchen an sich. Sie nimmt einen Schluck, um sich Mut anzutrinken, denn sie denkt, es handelt sich um ein Fässchen Rum oder Whisky gegen den Kältetod. Und eine andere Wärme rötet ihre Wange ebenfalls. Sie wird die Dritte im Bunde. Es folgen rührende Szenen zärtlichen Umarmens. Die Kamera schwenkt in den Sonnenuntergang. Es ertönt noch irgendein beliebiges Lied, etwas mit Streichern oder einem Chor..
Ende.
War doch echt Happy.