Ein offenbar vereinsamter Mann saß am Tisch. Vor sich hatte er Figuren aus Ton oder aus bemalter Knetmasse – das konnte man nicht so genau sehen – deren Gesichter aus kleinen Bildschirmen bestanden, die er selbst dort angelötet hatte. Per Sprachsoftware führte der Mann tagelang Gruppengespräche mit seinen Schöpfungen. Er gab ihnen Namen amerikanischer Päsidenten und nannte sich selbst „den großen NSA“. Es kam zu regelrechten Gesprächen auch zwischen den Figuren oder zwischen den Figuren und ihm, die vor Situationskomik nur so strotzten.
Der Mann blieb aber stets ganz ernsthaft und konzentriert. Er hatte mit diesen Figürchen, die in begrenztem Umfang mit begrenztem Vokabular ausgestattet waren, so etwas wie eine bruchstückhaft menschliche Unterhaltung führen können. Unter diesem Gesichtspunkt war es ein technisches Kabinettstückchen, das beim Betrachter immer wieder die gleichen Reaktionen hervorrief: erst Verblüffung, dann schallendes Gelächter. „Freakshow“ nannten es die Betrachter im NSA-Büro. Einer hatte einen Aufsteller gebastelt, auf dem tatsächlich „Freakshow“ stand. Er klemmte ihn oben an seinen Monitor, wenn die Überwachungsbänder liefen und der Chef nicht da war.
Zunächst nur ein Agent hatte diese merkwürdigen Spielereien beobachtet. Man war rein zufällig auf die Wohnung gekommen, weil vor Jahren dort eine Person gewohnt hatte, die kurzzeitig audiovisuell überwacht worden war. Inzwischen war die Wohnung mehrmals neu vermietet worden und auch sonst nicht mehr wiederzuerkennen. Aus dem Drecksloch war eine Wohnung mit ordentlich gestrichene Zimmerwänden geworden und guter Einrichtung geworden. Das konnte man selbst tausende Kilometer entfernt an einem kleinen Bildschirm sehen.
Der Agent, der mit der Überwachung routinemässig begonnen hatte und sie schon schnell wieder sein lassen wollte, musste lachen, als er später sah, was der Bewohner dort tagein tagaus tat: eine Art modern-technikaffines Puppentheater aufzuführen. Wobei der Überwachte kaum richtig sprechen konnte und offenbar geistig zurückgeblieben war. Weitere Kollegen kamen hinzu, die Videos wurden im Büro gestreamt, das Gelächter war groß und immer größer. Man ahmte die Zischlaute des Mann auf dem Bildschirm nach und musste sogar aufpassen, dass die allgemeine Erheiterung nicht zu laut wurde.
An manchen Tagen verbrachten die NSA-Agenten Pizza essend einige Stunden vor den Überwachungsvideos dieses Mannes, sie lachten und scherzten. Die seltsamen kleinen Theaterstücke des Mannes, der nie das Haus verließ und mit Püppchen redete, wurden in der Abteilung der Agency Kult. Sie gaben ihm Namen, es kursierten animierte Bilder, die aus dem Filmmaterial hergestellt worden waren. Einmal wurde eines der Standbilder unkenntlich gemacht und auf einem sozialen Netzwerk gepostet. Die ganze Abteilung fieberte jedem einzelnen Kommentar entgegen. Die Stimmung in der Abteilung war gut wie lange nicht mehr. Zumal der Abteilungsleiter viele außerhäusige Termine hatte und immer nur kurz im Büro war. Das ging so eine ganze Zeit lang.
Der Abteilungsleiter musste in dieser Zeit mit Blick auf die Stundenübersichten und die Präsenzprotokolle allerdings feststellen, dass die Kommunikation innerhalb der Abteilung schlechter geworden war und dass offenbar die Produktivität im Hinblick auf einen konstanten und relevanten Informationsstrom nachgelassen hatte.
Der Abteilungsleiter kritzelte gerade kurz vor einem Briefing mit einen Kugelschreiber auf seine Schreibunterlage „Optimum, Optimum für’s Volk“. Er schrieb es mehrfach untereinander, strich es dann weder durch. Der Kugelschreiber war nagelneu, aus Deutschland. Er probierte ihn aus. Ließ die Mine vor und zurückschnellen, immer wieder. Das Klicken des Kugelschreibers war deutlich zu vernehmen, auch noch lange, nachdem alle für das Briefing Bestellten den Raum schon längst betreten und sich gesetzt hatten. Es herrschte ansonsten Stille, Klickediklack, klickediklack, klickedidack…
Die Anwesenden schauten immer mal wieder den Abteilungsleiter an. Normalerweise trug er ein Jackett mit einer akurat gebundenen Krawatte Klickediklack… Jetzt hing ihm die Krawatte etwas zu lose um den Hemdkragen, die Hemdsärmel waren hochgekrempelt und er trug kein Jackett. Jeder wußte, dass er ihnen damit Respekt verweigerte, weil er unzufrieden mit ihrer Arbeit war. Warum war er unzufrieden mit ihrer Arbeit? Klickediklack…
Die ersten sahen sich mit gerunzelter Stirn untereinander verständnislos an. Leer oder betroffen, ängstlich zum Teil oder mit einem Blick des Selbstvorwurfes in den Augen. Klickediklack, klickediklack, klicke… In das dritte Klacken hinein fragte der Abteilungsleiter in die Runde: „Was ist eigentlich hier los?“ …diklack. Der Mann neben ihm schlug kurz und knapp eine Unterschriftenmappe auf. „Wir sind an einem Fall dran“, sagte er pokernd. „Der kostet etwas Zeit und wir wissen nicht, ob das ergibig sein wird.“ Der Abteilungsleiter schaute nicht hoch, als er nach dem Protokoll zu dem Fall fragte. Der Mann neben ihm legte es bewusst nahe vor ihn hin. Er reichte es ihm nicht an, weil er Angst hatte, dass der Abteilungsleiter es auf eine Konfrontation ankommen lassen und ihm das Blatt einfach nicht aus der Hand nehmen würde.
Der Abteilungsleiter las. Den Kugelschreiber hat er zur Seite gelegt. Man sah ihm seine Konzentration an. Jeder im Raum außer ihm wußte, dass die ganze Abteilung ihre Zeit damit totgeschlagen hatte, irgendjemanden zu beobachten, der eine Schraube locker hatte. Die Arbeit war ja hart, man brauchte auch mal einen Ausgleich, etwas Lockerheit. Der Abteilungsleiter las. Er wendete das Blatt, las alles durch. Jeden Satz offenbar, bis zum letzten Wort, er überflog nicht. Er hatte den Braten gerochen. Der Abteilungsleiter legte seinem Nebenmann das Blatt auf die Unterschriftenmappe zurück und sah ihn an. Der Mann mit der Unterschriftenmappe zögerte etwas und legte dann das Blatt in die Mappe dorthin, von wo es hergekommen war. Seine Finger waren dabei etwas unruhig, hatten im ersten Anlauf die Mappe nicht öffnen konnen. Danach hing eine bleierne Stille über dem großen Tisch als wäre die Zimmerdecke ein flächendeckender Ballon mit einer kochend-brodelnden und schmutzigen Flüssigkeit darin, der jeden Augenblick platzen könnte, indem sie sich über die Versammelten ergießen würde.
„Was genau bringt Sie zu der Annahme, dass die observierte Person etwas tut, was verfolgenswert wäre?“ fragte der Abteilungsleiter mit Blick auf einen jungen Mann links von ihm. „Nun“, sagte der, „er bastelt technisches Gerät und scheint sehr versiert darin zu sein. Figuren mit integrierten Bildschirmen. Das kam uns verdächtig vor.“ – „Und?“ fragte der Abteilungsleiter. Der Mann schien sich nicht beirren zu lassen. „Oft sind Bombenbauer skurile Bastler, die so wie er anfangen“, entgegnete führte er selenruhig mit hochgezogenen Augenbrauen und krauser Stirn weiter aus. Dann wagte er sich noch vor: „Und es wäre fahrlässig, dem nicht nachzugehen.“ – „Bastelt er eine Bombe? Hat er irgendwas dafür eingekauft? Gibt es andere Hinweise?“ repetierte der Abteilungsleiter. Der junge Mann schüttelte sofort den Kopf. Dann ergänzt er: „Real überwacht haben wir ihn ja noch gar nicht. Wir wissen nicht, was er einkauft.“ Der Abteilungsleiter unterbrach ihn: „Weil er nicht verdächtig ist.“ Er ließ den Blick langsam über die Gesichter der versammelten Personen schweifen. „Unterlassen Sie jede weitere Überwachung.“ Niemand verzog eine Miene.
Das Briefing ging normal weiter. Reihum wurden in gespielter Selbstsicherheit die sonstigen Überwachungsfälle erläutert. Nichts Besonderes oder Spektakuläres war dabei. Viele dachten „Was macht der für einen Wind? Ist doch eh nichts los.“ Der Abteilungsleiter dachte: „Faule Hunde, die haben keinen vorzeigbaren Fall, weil sie sich einfach nicht anstrengen. Ich muß hier mal demnächst aufräumen.“
Als der letzte der Anwesenden den Raum verlassen hatte, erhob sich auch der Abteilungsleiter von seinem Freischwinger. Er ging zu seinem Büro. Löschte das Überwachungsvideo vom Großraumbüro, bevor er seinen Computer herunter fuhr. Nahm zwei Akten, die auf seinem Schreibtisch lagen, verstaute sie in seiner Aktentasche, zog den Mantel an und ging zum Fahrstuhl. Er fuhr drekt in die Tiefgarage, stieg in seinen Wagen und fuhr wieder ins Tageslicht hinaus. Die Sonne stand sehr tief und war gleissemd hell. Der Abteilungsleiter musste lange die Augen zusammenkneifen, bis er in die Straße zu seinem Zuhause einbog. Zuhause angekommen fuhr er den Wagen in die Garage. Er ging durch die Verbindungstür ins Haus. Seine Frau kam im Flur auf ihn zu. Sie küssten sich beiläufig. „Essen ist gleich fertig“, sagte sie, während sie mit einem dicken Topfanfasser, den sie von irgendwo her geholt hat, in Richtung Küche lief.
Später saßen sie am Tisch. „Noch ein Glas Wein?“ fragte ihr Mann sie. Sie schüttelte den Kopf, lächelte ihn an. „Sag mal“, fragte er ganz beiläufig. „Was macht eigentlich der Sohn der Hendersons?“ Sie sah ihn an. „Dave? Wie kommst du denn jetzt da drauf? Den hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen.“ Sie dachte nach. Es fiel ihr erst nichts ein. „Ich hab nur so zufällig heute an ihn gedacht. Da wollte ich fragen, bevor ich es wieder vergesse“, sagte ihr Mann. „Nein“, sagte sie, „also, ich habe ihn ewig nicht mehr gesehen. Sie hatten Schwierigkeiten, dass er eine Arbeit kriegt. Er ist ja sehr in sich gekehrt.“ – „Und die Therapie?“ fragte ihr Mann. „Das weiß ich auch nicht. Ich glaube aber, dass das bei ihm zu schlimm ist, das hat ihn damals nicht weitergebracht, und wird es sicher auch heute nicht.“ Sie blickten fast synchron zum Fenster neben dem Klavier, wo ein Bild ihrer beiden Kinder stand. „Man kann froh sein, wenn man gesund ist“, murmelte er. Sie nickte. „Komm, gehen wir rüber.“ Sie räumten den Tisch ab, brachten das schmutzige Geschirr in die Küche, machten das Licht aus und setzen sich dann ins Wohnzimmer.
„Möchtest du Fernseh gucken?“ fragte die Frau des Abteilungsleiters. Sie sah dabei in die Fernsehzeitschrift. Er antwortete nicht. Sie schaute hoch: „Hörst du mich?“ Er antwortete nicht sofort, dann: „Ja, ja, natürlich.“ – „Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“ fragte die Frau. „War was im Büro?“ – „Nein“, sagte er sofort, dann: „Ja, aber egal. Nichts Besonderes, viel ist eh nicht los, vielleicht bin ich einfach unterfordert.“ – „Dir fehlen die Herausforderungen. Reine Verwaltung ist nichts für dich.“ Sie erhob sich aus ihrem Sessel und ging zu ihm hinüber, setzte sich auf die Lehne seines Sessels und lehnte ihren Kopf an seinen. Er legte seinen Arm um ihre Taille. „Ich bin aber froh, dass du nichts wirklich Schlimmes machen musst.“
Der Abteilungsleiter beugte sich nach vorne und entzog sich ihr für einen Augenblick. Er wollte nach der Fernbedienung greifen. Sie fiel zu Boden. Er hob sie auf, drückte einen Knopf und sagte „Lass‘ uns einen Western gucken, da müsste schon einer laufen.“ Er lehnte sich zurück. Sie sah ihn an. Dann ging sie zu ihrem Sessel zurück, und sie schauten beide auf den Bildschirm.
One Response to “Das dissonante KondeNSAtor-Bildschirm-Dummy”
[…] Die NSA und ihr europäischer Kooperationspartner, der britische GCHQ und der deutsche BND, haben den Ehrgeiz entwickelt, die kompletten Onlineaktivitäten der eigenen Bevölkerung und gar der Menschheit abzubilden und zu überwachen. Seit Edward Snowden weiß man konkreter, dass die Geheimdienste auch Mittel der Medienmanipulation anwenden. Das Internet der Zukunft wird kein freier Ort sein, sondern ein Instrument der Überwachung, von Zensur und Informations-Einschränkung. Informationsagenturen werden Profile aller Bundesbürger zur Verfügung haben, was jetzt schon in beängstigem Ausmaß realisiert ist, die zu einer Beurteilungsbürokratie des Menschen führen werden. Information wird zunehmend zum Druckmittel und Freiheiten einschränken. Die Eigenschaften eines jeden Menschen liegen offen, der Mensch der Zukunft ist erpressbarer und unterdrückbarer denn je. […]