Heilige wie Theologievertreter in der Dortmunder U-Bahn. Man sieht es an einem Schildchen am Revers des tadellosen Jacketts. Der Rechte muss wohl Schutzheiliger der Boxer sein. Zu erkennen an der Nase. Lilly schaut trotzig hin, die übrigen Mitreisenden schauen – wie es üblich ist – starr geradeaus, die Blicke angeschirrt. Heute haben sie Exorzismusurlaub. Es erfolgt Himmelfahrt aller Passagiere ins Nieselgrau.
Es geschah in jenem düsteren Sommer 1991. Allen Omas schwollen die Knie. Der Bier- und Pralinenkonsum stieg schier ins Unermessliche.
Alle Ampeln hinaus sind auf Rot geschaltet. Die Autos kreiseln auf dem Wall, bis das Benzin ausgeht. Leeres Blech verstaubt am Straßenrand. Vereinzelt tragen magere Sanitäter dicke Frauen mit schwachen Herzen aus dem Gewühl. Lillys Einkaufsweg führt durch Herden süddeutscher Kirchentagsbesucher. Sie murmeln unverständliche archaische Beschwörungsformeln, unwirksam inmitten des Betons.
Lilly läuft aus dem Supermarkt. Einer der verfolgenden Weißkittel hat sie an ihrem senffarbenen Pullover erwischt. Sie zieht den Pullover über den Kopf, er fällt auf die schmutzigen Fliesen der Passage. Sie läuft weiter und wirft das Erdbeereis des Anstoßes auf das flache Dach des Geschäfts.
Frauen wie Tulpen im Erstsommer
ruhen auf schwarzwarmem Blech.
Männerstimmen hallen elektrisch straßenweit.
Lilly holt Brötchen. In der Telefonzelle gegenüber stehen zwei Männer und erzählen irgendeiner Hausfrau, dass sie sie lieben. Die Brötchen sind für Frau Franke, deren Haarnetz Lilly immer an die Haarnetze ihrer Großmutter erinnert. Wie sie von der niedrigen Kellerdecke hingen, schlafenden Fledermäusen gleich. Nachts erwachten sie und kamen an ihr Fenster, um mit ihr zu spielen.
„Im Schein eines weißen 60er-Jahre-Radios schlief ich ein und stieß mir sinkend den Füller in die Halsvene. So drang Tinte in mein Blut.“
Aber samstags herrscht Amüsierzwang. Lilly sitzt in einer Burg aus Alditüten auf einem Sofa. Menschen springen wie Schachfiguren durch den Raum. Jemand spielt auf einem Bass, hört abrupt auf und reicht Lilly das Instrument wie eine Flasche billigen Rotweins. Sie nimmt einen Schluck.
„Der Stolz würgte mich. Ich schlug auf ein altes Klavier, um mich zu befreien. Entzwei brach der Opferstock. Stille soll herrschen, wenn ich schweigen muss. Niemand soll mir sein ein Gott.“
Es regnet, die Kirchentagspulks hat der Boden wohl eingesaugt. Über den Fenstern am Haus gegenüber zerbröckelt der Putz. Als stieße ihn jemand von innen heraus, wölbt er sich über dem Abgrund. Draußen ist Lilly sofort klatschnass. Grüner erscheinen die Straßen nun und es gibt Luft zum Atmen. Sie geht über den Friedhof und klaut ein paar Stiefmütterchen. Ihre Zeit ist vorbei. Daheim streut sie die Blüten auf den alten Teppich und legt sich hinein, um zu schlafen.
„Eine Woche lang stand dein Fahrrad am Bahnhof und du hast mich nicht angerufen, ich dachte schon, du seist tot.“