Es ist gut, im Leben nicht zu genau hinzugucken – sonst sieht man unter Umständen etwas, mit dem man nicht fertig wird und das einen zu Grunde richtet. Es ist andererseits gut, im Leben ganz genau hinzugucken. Denn unter scheinbar abgeschlossenen Oberflächen verbirgt sich manchmal das Eigentliche.
Prefab Sprout ist eine anspruchsvolle Popband. Sie hat gerade eben, im Oktober, nach langer Wartezeit ein neues Album vorgelegt: „Crimson/Red“ heißt es. Prefab Sprout sind von vielen Kritikern sehr gelobt worden aber der ganz große kommerzielle Erfolg blieb der Band versagt. Viel gelobt wurde sie wegen ihrer zugleich mustergültig eingängigen und ambitionierten Unterhaltungs-Musik, vor allem aber auch für die Texte, die über das übliche Schallala von Unterhaltungsmusik hinaus gehen. Mastermind der Band und inzwischen einziges verbliebenes Mitglied ist Paddy McAloon, dem man Dichter-Qualitäten nachsagt. Jedenfalls: McAloon ist ein Perfektionist, so sehr, dass er vermutlich als Lehrer sogar eine Schule für Perfektionisten aufmachen könnte.
Paddy McAloon, der perfektionistische Brite
In dem Album „Andromeda Heights“ aus dem Jahr 1997 hat McAloon, was das Arrangement seiner Stücke anbelangt, ganze Arbeit geleistet. Hört man sich das Album zum Beispiel als minderbemittelte MP3-Datei, bei der Höhen und Tiefen wegrasiert sind, auf einer normalen Stereoanlage über normale Lautsprecherboxen an, fällt nur auf, wie rund der Sound ist und wie wunderbar ineinander verschränkt die Instrumentierung, Produktion und Songwriting aufeinander abgestimmt sind, wie gut insgesamt die Melodik mit der Instrumentierung harmoniert. Was weiterhin auffällt, sind noch der Einsatz des Halls und die Mehrstimmigkeit des Gesangs. Aber viel mehr als „gekonnt“ wird man nicht dazu sagen.
Klauen will gelernt sein, gerade in der Pop-Musik
Wie schön das klingen kann, hört man hier zum Beispiel, bei einem aktuellen Lied von Prefab Sprout, „The Best Jewel Thief In The World“ – geschrieben von Paddy McAloon, der viele Jahre nur noch für die Schublade produziert und nicht mehr veröffentlicht hat, und dargeboten von Paddy McAloon und Calum Malcolm:
Stereophonie, Quadrophonie und Kunstkopf-Tontechnik
Nun haben viele Musiker die Vorteile der Stereophonie, der Quadrophonie oder der Kunstkopfaufnahmetechnik genutzt, um ihre Klänge auch räumlich zu verorten und dem hörenden Menschen darzustellen. Dies hat sich mit den technischen Möglichkeiten der 1960er-Jahre entwickelt und zu einer Fülle an technisch aufwendigen Gesamtkunstwerken geführt. Lou Reed hat die Kunstkopfaufnahmetechnik für sich genutzt, Pete Townsend von „The Who“ die Quadrophonie und die Beatles haben mit George Martin als Produzenten die anspruchsvolle Studiotechnik mit nur zwei Tonspuren bis an ihre damaligen Grenzen geführt.
Noten machen erfinderisch: Wo ist der Klang im Raum?
Die Kunstkopf-Technik wird mit Kopfhörern angehört, was eine Definition eines räumlich verorteten Klangs für das Ohr vereinfacht. Man kann also mit einer schlechten Anlage selbst einfache Stereoeffekte nicht hören, dass z.B. eine Gitarre links und das Schlagzeug rechts zu hören ist. Was aber, wenn ein Arrangeur noch weiter geht? Wenn er 1.000 Stimmen erklingen läßt, von denen manche mit einer hervorragenden Anlage vorne links oder andere hinten rechts zu hören sind. Oder wenn Klänge sich um einen herum bewegen? All dies hat Paddy McAloon aberwitzig perfekt beispielsweise auf „Andromeda Heights“ genutzt, um nicht einfach nur ein Lied zu spielen, sondern aus jedem seiner Songs eine räumliche audiophile Klangskulptur zu fertigen.
Unsichtbare Musik und Klänge für Experten
Allein: Hören kann die kaum jemand. Welch Arbeit und Perfektion auch rein technisch in diese Produktion hineingegeben wurde, werden nur ein paar Audiophile ermessen können. Wer einen Elektrostaten sein eigen nennen darf, also ein spezielles Flach-Boxensystem, das zwar Schwächen in den Bässen aufweist, dafür aber eine ungeschlagene Räumlichkeit bringt, sollte sich das Album darauf mal anhören – und dabei die Augen schließen. Dann wird man dessen Sweetspot zu würdigen wissen. Paddy McAloon ist zwischenzeitlich taub und blind geworden. Vielleicht hat er den Tiefen der Musik zu feste und zu genau ins Gesicht geblickt. An diesem Beispiel kann man sehen, dass einem manchmal Hören und Sehen vergeht, wenn man zu genau schaut. Neben einem läuft wunderbare Musik und doch ist es nur die klangliche Spitze des sprichwörtlichen (klangskulturalen) Eisberges. So kann man durchs Leben gehen, ohne Wesentliches wahrzunehmen.
Räumlichkeit und Volumen: Klangkunst im Kino
Die Kunst der Räumlichkeit bzw. des räumlichen Hörens hat sich ja eigentlich seit den Zeiten der ersten Star-Wars-Filme im Kino weiter vollzogen. Dort kommt es darauf an, das, was auf der Leinwand zu sehen ist, auch in der Räumlichkeit des Gehörten umzusetzen, um einen möglichst realistischen Eindruck von den Geschehnissen zu vermitteln. Das Kino hat natürlich ein Interesse daran gehabt, dies weiter nach vorne zu bringen, um eine Alleinstellung gegenüber den Möglichkeiten im „Heimkinos“ zuhause zu schaffen. Dies wird mit den Tonsystemen „Dolby SR“, „Dolby Digital“, „DTS“ und „SDDS“ angestrebt. In der Vergangenheit wurden übrigens viele Kinosäle durch das Gütesiegl der Firma THX des Star-Wars-Schöpfers George Lucas zertifiziert, um einen hervorragenden Klang zu gewährleisten. THX ist aber kein eignes Klangsystem, sondern ein Gütesiegel. (Interessant ist in dem Zusammenhang, dass ganz am Anfang, vor Beginn der Tonaufzeichnung und auch heute noch in den Konzertsälen der klassischen Musik, das Livekonzert stand, das der Inbegriff von Räumlichkeit, klanglicher Transparenz und Dynamik war. All die beträchtlichen technischen Bemühungen, heutzutage digital räumlichen Klang zu erzeugen, haben als Vorbild große Konzertsäle mit analogem Musikerlebnis. Wenn man genau hinsieht, ein Witz.)
Mikrotypographie: Die Kunst der ganz kleinen Formensprachen
Ein ganz anderes Beispiel dafür, dass wir von so viel umgeben sind, das wir nicht wirklich sehen können, ist die Schrift. Täglich lesen wir irgendetwas, oft ist die Schrift auf den Bildschirmen von eBook-Readern, Tablets, Smartphones oder alt hergebracht in gedruckten Zeitungen, Zeitschriften und Büchern recht klein. Wir sehen und lesen sie. Und doch nehmen wir den einzelnen Buchstaben gar nicht bewusst wahr. Er ist ein Funktionselement, das uns das Lesen ermöglicht. Tatsächlich sind Schriften oft Jahrhunderte alte Kulturwerke, und Schriftdesigner haben mitunter jahrelang an einem Alphabet gesessen und ihre Lebenszeit investiert. Mitunter haben sie um die richtige Bauchigkeit eines „O“ wochenlang gekämpft, haben am Duktus der Schrift gefeilt und gefeilt – solange und so intensiv, bis es aber dennoch bis auf ein paar Experten kaum einer sehen kann. Verrückte Welt.
Nur Experten sehen in ihrem Fachgebiet das für einen Laien Unsichtbare
An dieser Stelle fällt auf, dass die Welt sich insgesamt in unendlich viele kleine Fachgebiete aufspreizt, innerhalb derer nur die (absoluten) Experten wirklich eine besondere Leistung würdigen können. Ein begnadeter Gitarrist wird erkennen können, wann ein anderer Gitarrist noch begnadeter ist und nur ein Autor, der jahrelang die richtigen zwei Worte gesucht und gefunden hat, wird ihren Wert bei einem anderen Autor ermessen können, der die besseren gefunden hat. [Samuel Beckett hat mal etwas in dieser Art gesagt, dem Sinn nach, dass das Ergebnis eines ganzen Tages manchmal nur ein richtiges Wort sei.]
Typografie als Kunst des kleinen Unterschiedes
Es gibt zehntausende von Schriften auf der Welt, darunter sind sehr viele Schriftfamilien, die einander ähneln. Die Unterschiede sind oft ganz klein und winzig: Geringfügig andere Strichstärken, unterschiedlich ausgeprägte Serifen, der Neigungswinkel der Kursiven, der Schwung der Bögen, die Modulation der Striche vor allem zu ihren Ende hin. All dies ist in kleinen Schriftgößen wie in der Buchtypografie für den Laien kaum zu unterscheiden. Der Experte sieht darüber hinaus wie harmonisch die Buchstaben zueinander stehen, ob die Schrift zu eng oder zu weit „läuft“ – damit ist der harmonische Abstand der Buchstaben zueinenander gemeint.
Schrift-Diäten: Von dicken Buchstaben und engen Abständen
Er kann auch feststellen, ob mal beim Druck eines Buches zu wenig oder zu viel Farbe gegeben wurde, wodurch der Buchstabe unterschiedlich dick/kräftig ausfallen kann. Im vordigitalen Zeitalter konnte durch eine falsche Druckplattenkopie der Buchstabe zu „spitz“ ausfallen, das heißt, er erschien letztendlich im Druck zu dünn, weil das Filmnegativ zu viel Licht bekommen hatte und dadurch „zulief“. Oder die zu reproduzierende Fotosatzfahne wurde nicht richtig entwickelt – mit einem ähnlichen Resultat. Es gibt eine Fülle an unsichtbarem Wissen über die Details der Schriftkunde, die mit Kultur und Ästhetik zu tun haben. Man kann zwei Typografie-Professoren durchaus darüber streiten hören, dass das Design eines Buchstabens verunglückt sei. Und doch bleibt für den Rest der Welt all dies nicht sichtbar. Man braucht Wissen und Erfahrung, vor allem aber ein untrügliches Sensorium. Wer feine Sinne hat, sieht mehr von der Welt als jemand, dem die Feinsinnigkeit nicht gegeben ist. Wer zu feine Sinne hat, kann daran aber auch ersticken, weil die Informationsmenge zu groß wurde. [Der Autor David Foster Wallace, der letztlich Selbstmord begangen hatte, hat dieses Problem gehabt.]
Die Mutter aller Unsichbarkeit: Die Liebe
Und das führt letztlich zum größten Mysterium von allen: der Liebe. Gibt es sie überhaupt? Ist es wie mit der Religion? Muss man entweder an sie glauben oder diskutiert man sie ansonsten nur noch weg? Wer feinnervig-sensibel ist, Augen und Ohren öffnet und all die anderen Sinne nutzt – wie den taktilen Sinn, mit dem man über die Fingerspitzen auch etwas ertasten kann – wird die Liebe vor allem im Kleinen erkennen, wird sie dort sehen, wo alles sonst unsichtbar bleibt: In der Rundung des „Os“ einer neuen Schrifttype, in der Räumlichkeit von Prefab Sprout’s „Andromeda Heights“, auf dem das Lied „The Fifth Horseman“ zu hören ist, bei dem die Liebe als 5. apokalypitischer Reiter ihren Platz bekommt, oder in einem kleinen beiläufigen Lächeln eines Menschen, der einen ansieht. Wie liebevoll das Lächeln, die Musik und die typografische Gestaltung sind – das lässt sich von dem/der einen oder anderen ermessen, wenn das fühlende und wahrnehmende Instrumentarium vorhanden ist.
Doppelt hält besser: Die Hintergründigkeit der Liebe
Dafür sollte man all seine Sinne beieinander haben. Denn echte Liebe ist nie vordergründig, sie ist dual, weil das Wirkliche nicht das ist, was es zu sein scheint, sondern etwas anderes, was sich dahinter verbirgt. Überhaupt sind all die Dimensionen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen, die Interessanten, die Lohnenswerten. Vielleicht sollte man deshalb in der Liebe besser beide Augen zudrücken und fühlen was passiert, wenn man sich nicht mehr auf seine Wahrnehmung verlassen kann. Alte Männer, die sowieso nicht mehr gut sehen können, haben da die besten Möglichkeiten – Paddy McAloon ist in diesem Jahr 2013 sechsundfünfzig Jahre alt geworden. Ob er noch etwas Neues entdecken kann? McAloon hat immer schon davon geschrieben, wie uns die Vergangenheit in unserem Jetzt beeinflusst und welche Rolle die Liebe dabei spielt.
Steve McQueen und die Intensitätsstereofonie
Wenn ein Kritiker über das Prefab Sprout-Album „Steve McQueen“, das 1985 der Nachfolger des Debuts „Swoon“ (1984) gewesen war, geschrieben hat, es sei das „beste Album der Popgeschichte“, dann bleibt jedenfalls die Frage, welche CD er eigentlich gehört hat bzw. mit welcher Anlage – denn es liegen wohl Welten zwischen dem direkt Hörbaren und dem, was man dann auch noch hören kann, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Dann ist die Frage, ob man es mit der Laufzeitstereofonie zu tun hat oder mit der Pegeldifferenzstereofonie bzw. der Intensitätsstereofonie, die garantiert die größte Lokalisationsschärfe erzeugt, um eine wunderbare binaurale Tonaufnahme ohne interaurale Signaldifferenzen hinzukriegen. Was das bedeuten mag? Da blickt man als Laie nicht mehr hinter. ;-)