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Überwachungsstaat: Der schleichende Wandel der parlamentarischen Demokratie in eine Datendiktatur

Was haben George Orwell, Horst Herold, Julian Assange, Bradley Manning, Robert Jungk und Edward Snowdon gemeinsam? Sie haben mit Geheimnissen, Terrorismus, Offenbarungen und dem Ende der demokratischen Kontrolle zu tun.

George Orwell hatte mit „1984“ einen streckenweise fast dokumentarisch anmutenden Roman über einen Überwachungsstaat geschrieben. Tatsächlich ist 1984 zur Metapher für die totale Überwachung geworden. Heute ermöglichen die Digital-Kultur mit den Smartphones im Zentrum der Aktivitäten allerdings eine intimere und umfassendere Überwachung als dies die Bildschirme in den Wohnungen von Orwell’s „1984“ auch nur im Ansatz hätte abbilden können.

Horst Herold: Förderer der prophylaktischen Überwachung

Horst Herold war zwischen 1971 und 1981 Bundeskriminalamts-Präsident, genau in jener Phase der Bundesrepublik Deutschland, in der die terroristische Rote Armee Fraktion (RAF) aktiv war. Herold bleibt im Zusammenhang mit dem Baader-Meinhoff-Terrorismus in Erinnerung. Er hatte im Kopf, Verbrechen vorausschauend zu erkennen. Ihm wurde damals vorgeworfen, im Zuge der Terrorismusbekämpfung jeden Bürger unter Generalverdacht zu stellen. Herold musste damals in einer Auseinandersetzung mit dem Innenministerium seinen Hut nehmen. Was damalig ein die Freiheit bedrohendes Politikum geworden war, ist inzwischen Normalität: Heute steht jeder Bürger unter Generalverdacht und wird ausgespäht.

Julian Assange: Wer die Wahrheit sagt, wird kalt gestellt

Wo Herold sich über neue Technologien einen informationellen Vorsprung sichern und dabei potenziell jeden Bundesbürger ins Visier nehmen wollte und Orwell spürte, wie sehr ein Staat, der die Kontrolle haben will, davon abhängig ist, die Wahrheit zu beugen und seine Bürger zu bespitzeln, so sehr musste Julian Assange am eigenen Leib spüren, was geschieht, wenn man Geheimnisse im großen Stil offenbart. Seine Organisation Wikileaks hat geheime Videos und Papiere der US-Regierung und anderer Organisationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Herbst 2010 wurden Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn erhoben, seitdem ist er auf der Flucht und befindet sich seit Mitte 2012 in der Londoner Botschaft von Ecuador.

Bradley Manning: Von der Pflicht, moralisch zu handeln

Auch Bradley Manning musste erkennen, dass die Wahrheit zu offenbaren, u. U. mit der Todesstrafe belohnt werden kann. Der Soldat Manning soll Wikileaks das Collateral Murder-Hubschrauber-Video zugespielt haben, in dem zu sehen ist, wie amerikanische Soldaten von ihrem Hubschrauber aus unbeteiligte Zivilisten ermorden. Manning flog auf und erwartet seinen Prozess, der ihm lebenslange Haft oder die Todesstrafe bringen kann. Die Hubschrauberpiloten blieben unbehelligt, trotz mindestens 12 Toter, die genaue Zahl bleibt unklar.

Robert Jungk: Warnung vor der demokratieschädlichen Technologie

Robert Jungk wurde Zukunftsforscher genannt. Er war ein kritischer Geist, der in seinen Werken unter anderem die Auswirkungen der Technik auf Demokratie und Gesellschaft thematisierte. In seinem Buch „Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit“ warnte er davor, dass der Staat, um die gefährliche (Atom-)Technologie z.B. vor Terroristen zu schützen, auf die Idee kommen könnte, seine demokratische Grundordnung zu verlassen. Nicht nur die Angst vor dem (Atom-)Terrorismus hat dazu geführt, dass Amerika nach dem 11. September 2001 – mit Guantanamo, geheimen Prozessen und seinem Homeland Security-Ministerium, das mit seinen über 200.000 Mitarbeitern entfernt an das Ministerium für Wahrheit in Orwell’s 1984 erinnern mag und die demokratisch legitimierte Rechtssprechung aushebelt – kein demokratisch agierendes Land nach europäischem Verständnis mehr ist.

Edward Snowden: Vom Überwachungsskandal zum Medienorkan

Mit Edward Snowden schließt sich der Kreis. Der Geheimdienstmitarbeiter des CIA und der NSA hat offengelegt, dass amerikanische und englische Geheimdienste im Prinzip versuchen, die Menschheit zu überwachen. Amerika mit den PRISM- und Boundless Informant-Programmen, England mit Tempora. Jeder Bürger weltweit ein potenzieller Widersacher und Terrorist, Deutschland ein Partner 3. Wahl, sogar laut Snowden für die NSA ein mögliches Angriffsziel. Auch Snowden, wie Julian Assange, sitzt fest, am Flughafen Moskau-Scheremetjewo, von wo aus er Asyl beantragt hat. Er ist der Spionage angeklagt und in der Zwickmühle: Vielleicht könnte er in Venezuela, Bolivien und Nicaragua unterkommen, aber wie soll er dort hinkommen, ohne dass die Amerikaner ihn abfangen oder das Flugzeug zur Landung zwingen?

Auf dem Weg in die Paranoia-Gesellschaft: Staatstragende Überwachung

Endoplast hat über die Überwachung durch Echalon berichtet, über George Orwell, über Julian Assange und Wikileaks, hat das Collateral-Murder-Video gezeigt und schreibt nun über Edward Snowden, der zur Symbolfigur für eine weltweit außer Kontrolle geratene Überwachung geworden ist, für die jeder Mensch ein möglicher Terrorist ist. Und Terrorismus rechtfertigt alles. Die Aktivitäten der Geheimdienste an die Öffentlichkeit zu bringen, ist formal Geheimnisverrat. Manning oder Snowden könnten das mit ihrem Leben bezahlen. Die Datendiktatur bedroht so die demokratische Kultur, weil alles, was sie tut, ein Geheimnis ist und niemand mehr darüber reden darf. Wenn sich Überwachung derart einer demokratischen Kontrolle entzieht, ist sie aber unkontrollierbar geworden. Irgendwann beginnt der Staat, seine Bürger zu terrorisieren. Bradley Manning, Julian Assange und Edward Snowden sind Bürger.

Die Daten-Klaut: Du bist, was deine Daten über dich sagen

Die Voraussetzung für die lückenlose Überwachung ist der digitale Datenbestand außerhalb der eigenen Festplatte, der immer mehr Lebensäußerungen der Bürger abbildet. Die Cloud, in der jeder Bürger seine persönlichsten Daten abspeichert, macht dies noch einfacher. Früher war ein richterlicher Beschluß für eine Überwachung notwendig, heute erfolgt sie lückenlos und flächendeckend, egal, ob sich jemand etwas hat zu Schulden kommen lassen oder nicht. Die Konvertierung des realen Lebens in Digital-Datenbestände macht keinen Unterschied mehr zwischen Opfer und Täter, vor dem Gesetz Schuldigen oder Unschuldigen. Gescannt wird alles. Und ein Ministerium in den USA oder Überwachungsapperate in England und Deutschland müssen sich selbst legitimieren. Vielleicht wird es letztlich erst richtig bedenklich, wenn es eines Tages keine Terroristen mehr geben sollte; denn dann müssten diese Institutionen welche erfinden, sonst wären sie am Ende arbeitslos.

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