Europäer fühlen sich Amerika gegenüber kulturell oft überlegen. Gerade aus dem amerikanischen Mainstream, aus dem kulturellen Massenmarkt, entsprangen und entspringen immer wieder ungewöhnlich kreative Leistungen. Der Comic-Zeichner, Illustrator und Trickfilmpionier Winsor McCay gilt ein Beispiel dafür. Sein Hauptwerk „Little Nemo in Slumberland“ kennt manch einer, der sich für Comics interessiert, vom Hörensagen.
Winsor McCay hat im Fin de Siècle – am Übergang zwischem 19. und 20. Jahrhundert – den Comic-Klassiker „Little Nemo in Slumberland“ geschaffen und sich damit auf eine elegante Gratwanderung zwischen Unterhaltung (U) und ernsthafter Kunst (E), zwischen Jugendstil, Surrealismus und Psychoanalyse begeben, die ihresgleichen sucht. Ein Problem ist, dass die meisten Comicklassiker, die aus den Sunday-Pages der alten Tageszeitungen stammen, nur ganz selten in gut editierten bzw. produzierten großformatigen Editionen vorliegen. „Little Nemo in Slumberland“, McCays Huptwerk müsste in einer entsprechenden Edition vorgelegt werden, die es so noch nicht gibt. Dazu später mehr. Bis dahin kann aber ein Besuch im Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund erhellend wirken.
Zeichenkunst-Ausstellung: Winsor McCay (1869-1934) Comics, Filme, Träume
Im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund hat die Wanderausstellung „Winsor McCay (1869-1934) Comics, Filme, Träume“, die viele farbige gedruckte Zeitungsseiten zeigt aber auch einige Schwarz-Weiß-Originalzeichnungen und drei Trickfilme sowie ein paar Pozellanfiguren nach McCay-Charakteren, nun mit ihrer letzten Station ihren Abschluß gefunden. Außer Zeichnungen sind einige großformatige Fotografien zu sehen, die den Zeitgeist illustrieren sollen, sowie einige Bücher zum Beispiel zur Weltausstellung in Chicago, deren architektonische Leistungen für Erstaunen sorgten. Auch McCay wurde dadurch beeinflußt. Außerdem sind Comicbände aus der Zeit zu sehen aber auch aktuelle, die wiederum von McCay beeinflußt wurden – zum Beispiel die drei „Nick“-Bände von Hermann Huppen aus den Jahren 1981-1983, die als direkte Hommagé an „Little Nemo in Slumberland“ gedacht sind.
Infantil, schillernd, seriell: Der Siegeszug der Comics in Amerika
Amerika hat Europa in Sachen Comics etwas voraus, weil die amerikanischen Archetypen grundsätzlich infantiler und weniger dem Realismus verhaftet sind als die europäischen und deshalb die Comics als infantilisierendes Medium, als schillernd-serieller Bilderreigen dort märchenbuchgleich einen unvergleichlichen Siegeszug antreten konnten. Während Amerika sich in seinen bunten Geschichten eher zeigt, wie es gerne sein würde, suchen europäische Comicschaffende mehr nach dem Realismus, nach dem, wie der Mensch tatsächlich sein könnte. Vergleichbar ist das Phänomen der amerikanischen Massen-Comics und seinen riesigen Auflagen jener Jahre am ehesten noch mit dem japanischen Manga unserer Tage. Beide hatten bzw. haben einen großen kulturellen Einfluß. Wobei in der Prä-Fernsehzeit die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Informations-Medium Tageszeitung lag, in denen die Comics zunächst erschienen waren.
Vom Strip zum Buch: Die bunte Vielfalt der Comics
Dabei sind die Darreichungsformen der Comics in ihrer langen Geschichte sehr vielfältig: Über den schwarzweißen Tageszeitungsstrip á la Charlie Brown, die Hefte bis hin zu Büchern gibt es viele unterschiedliche Formate. Amerikanische Spezialitäten waren beigelegte Supplements, quasi Comichefte als Wochenendebeilage, aber vor allem die vierfarbigen Serien, die sonntags meist ganzseitig zelebriert werden konnten. Aus diesen Sonntagsseiten wurden später und bis heute Alben zusammengefasst und publiziert. In Europa und Deutschland hat es diese Kultur der Sonntagsseiten praktisch nicht gegeben. Selbst die hervorragend gezeichnete britische Serie „Dan Dare, Pilot of the Future“, die wirkt, als hätte sie auf Sonntagsseiten von Tageszeitungen erschienen sein können, ist tatsächlich nicht in Tageszeitungen sondern wöchentlich im Jugendmagazin „Eagele“ erschienen. Ausnahmen bestätigen hier leider eher die Regel. So hat Lorenzo Mattotti in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sein Werk „Der Klang des Rauhreifs“ in Form von ganzseitigen Fortsetzungen publiziert. Dies bildet aber gerade auch für Deutschland die absolute Ausnahme. Ausnahme bleibt es auch, dass das damals extrem hippe englische Magazin „The Face“ in Fortsetzungen 1989 den Comicroman „Signal to Noise“ von Autor Neil Gaiman und Zeichner Dave McKean veröffentlicht hatte, der als einer der grafisch innovativsten Comics aller Zeiten in die Historie der Bildgeschichten eingehen sollte.
Comics zum Sonntag: Die Alleinstellung amerikanischer Sunday-Pages
Was ist nun die Besonderheit der amerikanischen Sonntagsseiten-Comics? Zum einen durften sie epischer und langsamer im Erzählrhythmus sein, weil man sich als Leser am Wochenende zurücklehnte, um etwas eingehender zu lesen. Damit eröffneten sich den Comic-Schaffenden Möglichkeiten und Ambitionen, die aus Hopp-Hopp-Massenzeichenware-Produzenten fast schon Künstler machen konnten. Der wöchentliche Rhythmus, der sich auf eine ganze oder halbe, Zweidrittel- oder eine ganze Seite bezog, ermöglichte mehr erzählerische und vor allem zeichnerische Sorgfalt. So wurden einige wenige Serien zum Teil sehr ambitioniert und etablierten sich im Zeichnerischen als Klassiker für die gesamte Kunstform „Comic“. Denn wer hatte schon sonst eine ganze Woche Zeit, um eine Comicseite zu zeichnen? Eine Besonderheit ist das riesige Format gerade der damaligen Tageszeitungen. Es hatte ungefähr die Dimensionen des heutigen DIN A2-Formats – im Grunde schon ein kleines Posterformat – und bot dem Zeichner den Raum, äußerst detailliert zu arbeiten. Nicht zu vergleichen mit den Comicheften (in der Regel ca. DIN A5; genauer 17 x 26 cm also etwa das deutsche B5-Format = 17,6 x 250cm) oder den Büchern und Alben (ca. DIN A4). Andererseits stellte ein Großformat auch hohe Anforderungen an das Können der Zeichner und entlarvte Schwächen eher, weil die Zeichnungen auch groß abgebildet wurden. Für die Widergabe in Comicheften hingegen werden die Originale teils erheblich verkleinert.
Gestern und auch heute noch: Die Comic-Sonntagsseiten-Klassiker
Zu diesen zeichnerischen Klassikern gehören auch heute noch in der Rückschau Hal Fosters Prinz Eisenherz, der in detaillierten und äußerst sorgfältig ausgearbeiteten Zeichnungen eine fiktive Sagen-Kultur auferstehen ließ. Außerdem die Science-Fiction-Abenteuer um Flash Gordon von Alex Raymond, der in seiner Mittel- bis Spätphase für kurze Zeit den klarsten, schönsten und perfektesten Strich zeichnete. Burne Hogarth schuf vor allem in den Phase zwischen 1942-1950 mit seiner Tarzanversion ein expressives Meisterwerk, in dem er seinen Helden den physischen Idealbildern der Renaissance nachbildete. Weitere Comics, die zu Klasikern wurden, wie „Terry and the Pirates“, fielen diesen Meisterwerken gegenüber zeichnerisch aber schon wieder ab. Neben Foster, Raymond und Hogarth gibt es nur noch einen vierten, nämlich Winsor McCay, der als zeichnerisches Genie gelten kann – und manche meinen, er wäre der beste, sicher aber ist er der kreativste und innovativste unter den Vieren.
Tageszeitungs-Comics: Was ist das Original und ist es wirklich gut?
Was und wer in den Comics ist ein Könner? Wie will man das beurteilen? Beim Tageszeitungsdruck wird die Beurteilung des zeichnerischen Könnens immer ein Problem bleiben. Produktionsbedingt legte der Zeichner die Schwarz-Weiß-Zeichnungen an, die Farbgebung erfolgte danach in der Druckerei. Die fertige colorierten und gedruckten Seiten waren also die eigentlichen „Originale“ – und sie waren oft genug entweder schlecht gedruckt oder schlecht coloriert und waren daher mit der Schwarz-Weiß-Zeichnung als Druckvorlage nicht mehr eindeutig vergleichbar. Denn in früheren Zeiten verdickte das Tageszeitungsdruckverfahren dünne Striche zum Teil extrem – auch im Zusammenhang mit der (Löschpapier-)Saugwirkung des Billigpapieres. Dünne gezeichnete Striche wurden im Druck erheblich dicker wiedergegeben. Ein Zeichner wie McCay, der extrem dünne Striche mit sehr dicken kontrastierte, konnte so vom Medium Zeitungsdruck gar nicht adäquat abgebildet werden. In der Dortmunder Ausstellung kann man das gut sehen, weil dort ein paar seiner Schwarz-Weiß-Tuschezeichnungen neben der gedruckten Tageszeitungsseite hängen.
Comic-Reproduktion: Die Leidensgeschichte von Burne Hogarths Tarzan
Sehr wenig zufriedenstellend ist die Situation im Falle Burne Hogarths. Im Deutschen liegt im Norbert Hethke-Verlag eine reproduktionstechnisch unzureichend umgesetzte Gesamtausgabe in Einzeljahresbänden vor. Zwar hochwertig gedruckt auf Kunstdruckpapier, nur eben reproduktionstechnisch auf einem Niveau, das die dynamische Strichführung Hogarths oft nicht adäquat wiedergibt. Wie gut Hogarth jeden einzelnen Strich gesetzt hat, sieht man zum Beispiel auf einzelnen Seiten im Band von 1950. Doch selbst dort sind auf vielen anderen Seiten die Linien zusammen- und zugelaufen, weil die Druckvorlage vermutlich zu schlecht war. Das heißt: Linien, die klar unterschiedbar voneinander getrennt nebeneinander gezeichnet wurden, sind nun zugelaufen und nicht mehr voneinander differenziert. In einer italienischen Gesamtausgabe, „Gigante Tarzan“ aus den 1970er Jahren, die auf billigem Papier gedruckt worden war, ist die Reproduktion besser, dafür hat man in die im Original sprechblasenlosen Bildgeschichten teils Sprechblasen eingefügt und beeinträchtigt so die Bildwirkung. Auch in der ansonsten gut produzierten Flash-Gordon-Edition bei Carlsen geht der geniale Strich Raymonds oft in der überbetonten Farbgebung und dem zu kleinen Format unter.
Hal Foster’s Glück: Viele gute Reproduktions- und Druckergebnisse
Generell produktionstechnisches Glück hatte Hal Foster mit seinem Prinz Eisenherz: Die meisten Editionen sind zufriedenstellend bis hervorragend widergegeben. Zumal es von Prinz Eisenherz zwei großformatige Reihen gab. Das in seiner Gesamtheit beste Ergebnis ist die Publikation des 18bändigen Gesamtwerkes von Prinz Eisenherz im Bocola Verlag. Dort wurden die Originale digital nachbearbeitet. Generell bleibt das Problem bei stark verkleinerten Albenauswertungen von Tageszeitungs-Sonntags-Strips, dass die schwarzweißen Originalzeichnungen zum Neuscannen oft nicht mehr vorhanden bzw. greifbar sind (unter anderem weil sie in den Schubladen der Sammler der Welt gut versteckt liegen). Der beste Weg wäre es nämlich, diese neu einzuscannen und neu zu colorieren. Angeblich ist der Initiator der McCay-Ausstellung in Verhandlungen mit dem Taschen-Verlag, der für seine großformatigen und gut reproduzierten Kunstbücher bekannt ist. Taschen hatte in einem Tochterverlag bereits die Little-Nemo-Gesamtausgabe im DIN A4-Format verlegt. Gerade Little Nemo in Slumberland würde ein größeres Abbildungsformat gut tun. Denn McCay ist ein Meister im Einsatz unterschiedlicher Strichstärken, auch um Tiefenschärfen- bzw- Unschärfen zu schaffen. Er akzentuiet seine Figuren durch mächtige Außenkonturen und arbeitet sie im Inneren mit sehr feinen Linien aus.
Comic-Illustrationen: Von Schrift-Qutschrändern und Strichverfettungen
Aus der Frage, was bezogen auf einen Sonntagszeitungsstrip denn nun das gültige Original sein soll, ergibt sich andererseits die Berechtigung einer Ausstellung, die den schwarz-weißen Originalen gedruckte, farbige Seiten an die Seite stellt und damit dem Betrachter einen Vergleich erlaubt, der für den Interessierten dringend notwendig ist. Im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund kann man – unter Umständen bei einer Führung mit einer Lupe ausgestattet – gut sehen, dass zwischen der Akuratesse der McCayschen Filigran-Zeichnungen und der demgegenüber plumperen gedruckten Variante Welten liegen können. Das erinnert etwas daran, dass man bei der Schriftentwicklung für den Bleisatz, die Schriftcharaktere dünner entwarf, als sie ansich sein sollten, weil sie durch den Pressdruck des Bleigußverfahrens einen so genannten zusätzlichen „Quetschrand“ bekamen, der sie gedruckt fetter erscheinen ließ. Die Schriften, wie sie für den Leser gut lesbar sein sollten, wurden also so entworfen, dass man die spätere Verfettung durch das Produktionsverfahren schon mit einrechnete. Als das Zeitalter der digitalen Schriften kam und es druckverfahrensmäßig auch keine Quetschränder mehr gab, mussten die Schrifttypen verdickt werden, um den ursprünglichen Charakter zu erhalten. Ob McCay die Veränderung seiner Strichstärken im Druck berücksichtigt hat, ist die Frage. Es darf angenommen werden, dass er seine Federzeichnungen, die partiell vom Pinsel unterstützt wurden, bewußt extrem dünn anlegt hat, damit deren Entstellung durch das Druckverfahren nicht zu sehr ins Gewicht fiel.
McCay’s Farbgebung war so innovativ wie seine Zeichnungen
Selbst zu späteren Zeiten von Hal Foster’s Prinz Eisenherz, Alex Raymond’s Flash Gordon oder Burne Hogarth’s Tarzan schufen die Comic-Zeichner die schwarz-weiße Tusche-Vorlage, die reproduziert und von der Druckerei mit Farben gefüllt wurde. Kontrollfreak McCay scheint aber auch in diesen Prozess eingegriffen zu haben, indem er Farbvorgaben zu den Zeichnungen machte. Er hat, wie man in der Ausstellung sehen kann, mehr als andere Zeichner Farben eingesetzt und z.B. auch mit eindrucksvollen Verläufen experimentiert, die im damaligen Zeitungsdruck schwer herzustellen waren.
Manic Illustration: Winsor McCay, der produktive Schnellzeichner
McCay schien schon ab seinen jungen Jahren ein Bessessener gewesen zu sein, ein manischer Vielzeichner – sein zu früher Tod, eine Hirnblutung, die er 1934 mit 63 Jahren erlitt – mag davon künden. Der Ausstoß all seiner Comic-, Illustrations- und vor allem Trickfilmprojekte ist immens gewesen. So hat er „Gertie, the Dinosaur“ allein mit einem Assistenten realisiert und dabei etwa 10.000 Handzeichnungen angefertigt. Der schraffierte Detailreichtum vor allem seiner Aufmacher-Illustrationen für die Hearst-Tageszeitungen ist kaum vorstellbar, kann man ihn nicht von nahem in so einer Ausstellung sehen. McCay hatte schon von klein auf die besondere Fähigkeit, Dinge oder Menschen, die er gesehen hatte, sehr genau aus der Erinnerung heraus und zudem schnell zu zeichnen. Da er zudem einige Jahre, bevor er Profi-Illustrator bei der Zeitung wurde, damit verbracht hatte, Menschen als Schnellzeichner zu portraitieren, nimmt es nicht Wunder, dass er sich selbst immer mehr die aberwitzigsten illustrativen Aufgaben stellte, und sie bravorös löste. Dabei fiel früh sein dimensionssprengendes Talent auf, Perspektiven einzusetzen, Architekturen detailverliebt aufeinander zu stapeln und feinsten Details mit fein aufgelösten Schrafuren Tiefe zu geben. McCay konnte praktisch alles zeichnen, wobei aber seine Beherrschung der menschlichen Physiognomie, der Körperhaltungen und dynamischen Bewegungen besonders auffiel, was ihm später beim Trickfilm in besonderer Weise zu Gute kommen sollte und umgekehrt auf die Dynamisierung seiner Comicgeschichten einwirkte. Bei dem Detailreichtum und der Genauigkeit des Ausdrucks haftete allem eine spielerische Leichtigkeit an, die ihn dazu führte, das Medium und seine Möglichkeiten immer weiter auszureizen und zu erweitern. Ein Kriterium, das Little Nemo in Slumberland praktisch über jeden anderen Comic-Strip seiner Zeit hinaushob und ihm selbst viele Jahrzehnte nach seinem Tod heute eine Sonderstellung unter den illustrativen, epischen Meisterwerken der Sonntagsseiten-Comics innehaben läßt. Es gab Strips wie „Krazy Kat“, die skuriler und sehr kreativ waren, aber nur McCay verstand es illusatrative Meisterschaft mit Fantasie zu kombinieren.
Winsor McCay’s Weg zum Karikaturisten und Comic-Zeichner
Was hat McCay dazu beeinflußt, das Medium an immer neue Grenzen zu führen? Neben seinem Talent als Illustrator, der praktisch über alle darstellerischen Mittel verfügte (und übrigens seine moderne Entsprechung im Detailreichtum eines Moebius/Jean Giraud findet) und sich dabei eine ökonomische Basis schuf, von der aus er weiteres erreichen konnte, waren das zum einen sein Wirken vor den Zeitungs-Illustrations- und Comic-Arbeiten. McCay arbeitete nämlich fast ein ganzes Jahrzehnt, von 1891-99 im „Kohl & Middleton Dime Museum“ das sich später Namen gab wie „Vine Street Dime Museum“, „Heck and Avery’s Family Theater“, „Avery’s New Dime Museum“ oder „Will S. Heck’s Wonder World and Theater“. Dort portraitierte er in der Öffentlichkeit Menschen, die ihm bei Gefallen ihre gezeichneten Schnell-Portraits abkauften. Im „Vine Street Dime Museum“ wurden wie auf einem Jahrmarkt Kuriositäten ausgestellt, Menschen, die nicht der Norm entsprachen, Menschen, die besonders groß, klein oder deformiert waren oder sonstige Besonderheiten aufwiesen. Auch Sensationen und technische Neuerungen, die McCay mit dem Medium Film bekannt machten, waren dort zu sehen. McCay, der Augenmensch, der wohl alles, was er sah, abspeichern und später in Form einer Zeichnung wieder auf ein Blatt Papier hinauslassen konnte, fand hier sicher viel Anregendes. Andererseits gab es ein Jahrzehnte geheim gehaltenes Familientrauma: Sein Bruder war psychisch krank. Und eigentlich künden alle seine seriellen Comics vom schlechten Träumen, von zwanghaften Niesern oder Essern, von Aus-dem-Bett-Fallern. Alle McCay-Hauptcharaktere haben etwas Morbides, etwas Fatalistisches oder Zwanghaftes. Das äußere Kuriositätenkabinett, dessen er im „Vine Street Dime Museum“ angesichtig wurde, mag also zusätzlich in ihm selbst zeitlebens traumatisch-familiengeschichtlich unterlegt gewesen sein und gab seinen vordergründig witzigen Geschichten ihre Tiefe.
Little Nemo in Slumberland, Sigmund Freud und der Surrealismus
In „Little Nemo in Slumberland“ begegnen uns alle möglichen Deformierten und Umgekrempelten ob Mensch oder Tier – hier sieht man Seiten der Welt, wie sie nur im Traum vorkamen oder im Surrealismus, der freilich als Kunstform erst nach McCays Comic-Hochphase um 1920 in Frankreich entstand. McCays Geschichten jedenfalls könnten irrwitziger nicht sein. Little Nemo in Slumberland ist eine Aneinanderreihung von Traumerfahrungen. Wer nun die zeitliche Verortung zu Freud und seiner Psychoanalyse sieht, die 1899 in Form des Buches „Die Traumdeutung“ für einen kleinen Kreis publiziert wurde, liegt bezogen auf den Zeitgeist ganz sicher richtig. Ob aber McCay Freud zur Zeit um die Jahrhundertwende gekannt hat oder umgekehrt Freud McCay, darüber weiß man nichts. Einen breiten Publikum wurden die Ideen Freuds erst bekannt, nachdem „Little Nemo in Slumberland“ bereits erschienen war. Die Idee freilich lag in der Luft.
Schrecken und Wohlgefallen: Das Menschenbild der neuen Individualität
McCay passt mit seinem gefälligen, vom Jugendstil geprägten, Zeichenstrich, der in all seiner Schönheit den Schrecken oder die Abgründe des menschlichen Seins etwas erträglicher erscheinen läßt, genau in die Zeit, die in der Tradition der Aufklärung stand. Es war jene Zeit der jahrhundertelang sich sich Stück für Stück heranwälzenden neue Freiheit des sich ändernden Menschen-Selbstbildes, in dem der Mensch sich immer mehr als Individuum wahrnahm und nicht mehr als Teil einer politisch oder religiös fremdbestimmten grauen Masse. Eine Zeit, in der der Mensch erkannte, dass es etwas in ihm gab, was ihn beeinflußen und ihm Angst machen konnte. Ein Ich, das auf der Suche nach sich selbst war und sein Inneres erkunden wollte. McCay machte mit „Little Nemo in Slumberland“ den Traum zur spiegelglatten Realität und lud den Leser und Betrachter dazu ein, sich gut gewachste Schlittschuhe umzuschnallen. McCay schuf wie nebenbei damit viele visuelle Attraktionen, die sowohl Spannung und Schrecken boten als auch Kurzweil und Kontemplation. Und für den, der mochte, viel Nachdenklichkeit. Denn jede Art von Katastrophe konnte nur jenen kleinen Atemzug zwischen Wirklichkeit und Traumland entfernt liegen.
Die Ausstellung im Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund
Die gedruckten Comicseiten aus der Sammlung von Kurator Dr. Alexander Braun, die die Grundlage der Ausstellung bilden, sind wegen ihrer geringen Größe eine schwierige Ausstellungsmaterie, weil die Einzelbilder und all ihre Details sich erst einmal beim näheren Betrachten erschließen müssen. Ein recht spröde Materie also, bei der man ganz nahe an die Exponate herangehen muss, um etwas zu entdecken. Großformatige Abbildungen in der Dortmunder Ausstellung sind ein paar historische Fotografien, eine Installation, die die Figur Little Nemo im Eingangsbereich (siehe Foto ganz oben) zeigt und die Filmprojektionen. Unverzichtbar wäre es eigentlich gewesen, ein paar der McCay-Zeichnungen (anstatt der Groß-Fotografien) vergrößert zu reproduzieren, damit sich ihr Detailreichtum besser erschließen kann. Sicher eine Kostenfrage, die die Ausstellung aber zugänglicher gemacht hätte, und die hätte helfen können, das Illustrationsgenie besser zu begreifen. McCay hätte es sicher gefallen, aus so einer Ausstellung einen schillernden Jahrmakt der visuellen Attraktionen zu machen. Den Zeichner und Trickfilmer Winsor McCay jedoch – in welcher Form auch immer – dem deutschen Publikum nahe zu bringen, ist ein verdienstvolles und überfälliges Unterfangen. So wie 2010 Superhelden-Comic-Heft-Zeichner Jack Kirby in einer aufwendigen Ausstellung die Ehre erwiesen wurde, hätten dies McCay und seine Nachfolger Hogarth, Foster und Raymond verdient, in Ausstellungen und fachgerechten gedruckten, großformatigen Editionen gewürdigt zu werden. Die Ausstellung in Dortmund startete am 23.02.2013 und ist noch bis zum 09.06.2013 zu besichtigen.